Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 13
11
ОглавлениеSie würde viel zu spät kommen. Vielleicht würde er gar nicht mehr da sein? Er würde sicher keine volle Stunde auf sie warten, garantiert nicht länger als eine Stunde, das war sie ihm sicher nicht wert.
Sie hatte sich von Antje am Café Select absetzen lassen, weil sie Angst hatte, dass Antje ihr hinterher schnüffeln könnte. Jetzt hastete sie den Limat Quai entlang Richtung Hotel. Am Café Odeon machte sie kurz Halt, um auf die Toilette zu gehen. Jetzt war eh schon alles egal. Sie war zu spät dran und konnte nichts mehr ändern. Auf ein paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.
Sie warf einen Blick in den Spiegel und kramte hektisch in ihrer Handtasche nach den Schminksachen. Mit eckigen Bewegungen frischte sie ihr Makeup auf. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie es kaum schaffte, den Lippenstift aufzutragen. Schnell überdeckte sie den verschmierten Rand mit Puder. Sie spürte wie die Anspannung in ihrem Inneren unerträglich wurde. Ihr wurde immer heißer. Sie hatte das Gefühl, dass sie wegrennen musste, und es kostete sie Kraft, dem Impuls zu widerstehen. Fast in Panik stopfte sie die Schminksachen in die Tasche zurück und rannte auf die Straße. Erst als sie den Rhythmus ihrer Schritte wieder aufgenommen hatte, wurde sie wieder ruhiger.
Als sie das Hotel vor sich auftauchen sah, spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Vor dem Eingang stand ein Krankenwagen mit Blaulicht, davor ein Streifenwagen und mehrere Limousinen in dezentem Grau. Sie verlangsamte ihren Schritt. Instinktiv wusste sie, dass keine Eile mehr geboten war. Sie konnte es körperlich spüren, dass diese Fahrzeuge zu ihrem Leben gehörten. Und je näher sie kamen, desto stärker wurde dieses Gefühl.
Langsam, wie in Trance betrat sie die Lobby. Die unterdrückte Hektik der Hotelangestellten, die versuchten, das Aufsehen so gering wie möglich zu halten, berührte sie nicht. Plötzlich fühlte sie sich ruhig und entspannt. Als sie die Empfangstheke erreicht hatte, hatte sie keine Angst mehr, null.
»Ich habe eine Verabredung mit Herrn Dr. Langer von Zimmer 302.« Der Mann am Empfang sah sie erstaunt an. Sie konnte das leichte Erschrecken in seinen Augen erkennen, bevor er sich wieder professionell im Griff hatte und mit den Worten »Einen Moment bitte« im Backoffice verschwand. Als er nach ungefähr zwei Minuten wiederkam, hatte er einen untersetzten, etwa 45-jährigen Mann mit schütteren, blonden Haaren im Schlepptau, der sie aus freundlichen blauen Augen anblickte. »Ich bin Kommissar Revelli vom Zürcher Kommissariat«, stellte er sich vor. Er sprach langsam und entspannt, was unwillkürlich dazu führte, dass alle um ihn herum in der angespannten Atmosphäre noch einen Tick zulegten. So wie ein langsamer Autofahrer die anderen motorisierten Verkehrsteilnehmer durch sein langsames Fahren nicht etwa beruhigt, sondern zu zusätzlicher Hektik veranlasst.
»Kommen Sie!« Revelli machte eine weit ausholende Geste mit seinem rechten Arm und führte sie gemächlich zu einer Ledersitzgruppe inmitten der Lobby, wo er sie bat, Platz zu nehmen. »Es gab einen kleinen Unglücksfall im Hotel«, sagte er nach einer lässigen Pause mit geradezu sanfter Stimme. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Klar«, nickte sie und fühlte sich wie im Film. »Fragen Sie.«
»Sie haben eine Verabredung mit Herrn Dr. Langer? Kennen Sie den Herrn?«
»Nein«, antwortete Sie wahrheitsgemäß.
»Darf ich fragen, warum sie mit ihm verabredet sind?«
»Er ist mein Vater.« Sie zögerte einen Moment und setzte dann hinzu: »Zumindest hat man mir das gesagt...«
Kommissar Revelli sah sie an. Es war nichts in seinem Blick, kein Erstaunen, kein Interesse, er sah sie nur einfach etwas länger an, ausdruckslos. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ich hab ihn noch nie in meinem Leben gesehen, jedenfalls nicht bewusst. Er hat meine Mutter verlassen, bevor ich geboren wurde, oder kurz danach.« Sie bemühte sich, diesen Satz vollkommen emotionslos zu sagen. Es gelang ihr nicht ganz. Sie fing an, an ihrer Lippe zu zupfen, zwang sich aber sofort, wieder damit aufzuhören, als sie es bemerkte.
Kommissar Revelli sah sie weiter an. Jetzt glaubte sie, eine minimale Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Er fühlte sich unwohl und konnte es nicht ganz verbergen. Gleich würde er ihr etwas Schreckliches offenbaren, dessen war sie sich mit einem Mal sicher. Und sie konnte spüren, was es war. Sie würde keine Gelegenheit mehr haben, mit ihrem Vater zu sprechen. Diese plötzliche Gewissheit schnürte ihr den Hals zu. Sie schluckte. Vergeblich, sie fühlte sich weiter so, als hätte ihr jemand die Hände um den Hals gelegt, um sie langsam zu ersticken.
»Ich muss Ihnen leider etwas Unangenehmes sagen«, meinte Revelli zögernd. »Es könnte sein, dass Ihrem Vater etwas zugestoßen ist. Der Herr von Zimmer 302 ist vor zwei Stunden tot aufgefunden worden, vom Zimmerservice.«
Sie schwieg, versuchte an nichts zu denken. Vergeblich. Keine Chance mehr, über das Vergangene zu reden, wurde ihr mit einem Schlag bewusst. Sie hatte sich davor gefürchtet, aber sie hatte auch darauf gehofft. Jetzt war es vorbei. Diesmal schaffte sie es, völlig regungslos zu bleiben. Revelli merkte sicher nicht, wie schwer sie die Nachricht getroffen hatte.
»Schade, wenn sie ihn noch nie gesehen haben, können sie ihn natürlich auch nicht identifizieren, nehme ich an«, fuhr Revelli fort. »Das hätte uns natürlich sehr geholfen. Wir haben einen Passport gefunden, aber es wäre natürlich hilfreich gewesen, eine weitere Identifikation zu haben.«
Ihr fiel auf, dass Revelli dreimal hintereinander »natürlich« gesagt hatte, und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War er plötzlich nervös?
»Kann ich ihn trotzdem sehen?«, fragte sie.
Kommissar Revelli richtete wieder seine ausdruckslosen Augen auf sie und lies einige Sekunden verstreichen. Wenn er in dieser Zeit nachdachte oder versuchte, sie einzuschätzen, und überlegte, welche Wirkung der Anblick des Toten wohl auf sie haben würde und ob er es riskieren sollte oder nicht, so konnte man ihm dies jedenfalls nicht ansehen. Es wirkte eher, als hätte er einfach in eine Art unerklärlichen Standby-Modus geschaltet.
»Kommen Sie«, sagte er nach einer Weile trocken und ansatzlos, stand auf und ging durch die Lobby voran Richtung Lift.
Als sie in dem engen Aufzug nebeneinander standen, fiel Sarah auf, wie klein er war. Sie spürte nicht den Hauch einer sexuellen Erregung. Und das war selten bei ihr, denn sie war es gewohnt, jeden Mann sofort auf seine Eignung als Sexualpartner zu scannen. Aber Revelli war einfach zu klein und nicht ihr Typ. Sie versuchte, sich auf seinen Körpergeruch zu konzentrieren. Als es ihr gelang, die leicht säuerliche Note seines Schweißes von den restlichen Gerüchen im Fahrstuhl zu separieren, war ihr klar, warum sie keine sexuelle Antenne für Revelli hatte – sie konnte ihn einfach nicht riechen. Besonders eklig fand sie, dass er anscheinend versuchte, seinen Achselgeruch durch ein billiges, seifiges Deo zu überdecken. Ein vergeblicher Versuch.
Je näher sie der 302 kamen, desto betriebsamer wurde es in dem kühlen, schier endlosen Hotelflur. Beamte der Spurensicherung kreuzten ihren Weg. Vor dem Eingang zum Zimmer stand eine Reihe von Pappbechern mit Kaffeeresten und Zigarettenkippen. Dem Inhalt nach zu schließen, war das Team schon seit einiger Zeit vor Ort.
Revelli blieb im Türrahmen stehen und sah zwei Leuten der Spurensicherung zu, die sich gerade den Teppichbodenabschnitt zwischen Zimmertür und Eingang zum Bad vorgenommen hatten. Als die Männer Revelli bemerkten, machten sie eine Gasse für ihn frei und bedeuteten ihm, dass er durchgehen könne. Revelli berührte Sarah ganz leicht am Arm und führte sie in den Schlafbereich des Zimmers. Vor dem Bett auf dem Boden stand ein dunkler Leichenbehälter mit Tragegriffen. Der Deckel des Behälters war geschlossen.
»Sind Sie sich immer noch sicher, dass Sie ihn sehen wollen?«, fragte Revelli. Sarah nickte und bejahte mit ruhiger, leiser Stimme. Revelli sprach ein paar Worte mit zwei Leuten von der Spurensicherung. Die Männer hoben daraufhin den Deckel vom Sarg, legten ihn daneben ab und machten sich wieder an ihre Arbeit.
Sarah war erstaunt, wie wenig sie der Tote erschreckte. Sie spürte nur einen leichten Hauch von Unbehagen, ihn so nah vor sich zu sehen, sonst nichts. Sie versuchte zu erahnen, was für ein Mensch er gewesen sein mochte, aber vor ihr lag nur noch eine leere Hülle, mit der sie nichts verbinden konnte, weil sie ihn nie gekannt hatte. Und die Person oder das, was sie einmal ausgemacht haben mochte, war nicht mehr vorhanden, jedenfalls nicht mehr in diesem Raum. Sein Gesicht wirkte ruhig und gelöst. Sie konnte keine Spur eines Todeskampfs darin erkennen. Je länger sie ihn ansah, desto klarer wurde ihr die große Ähnlichkeit zwischen ihnen. Ohne jeden Zweifel, dieser Fremde war ihr Vater.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie einen jungen Typen von der Spurensicherung, der in ihrer Nähe arbeitete.
Überrascht, dass ihn eine fremde Person so etwas fragte, noch dazu in Gegenwart des Kommissars, sah er sie an. Dann warf er einen Blick auf Revelli, der mit dem Rücken zu ihnen am Fenster stand, und meinte leise: »Das können wir noch nicht sagen, wir haben noch kein genaues Bild. Tut mir leid.«
Sie ging zu Revelli ans Fenster, um sich zu verabschieden. Er stand in Gedanken versunken da und schaute auf den dunklen Balkon hinaus. »Ich möchte mich verabschieden, ich gehe jetzt«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Und weil ihr der Satz im Moment, in dem sie ihn aussprach, blöd vorkam, setzte sie hinzu: »Ich glaube, es ist wirklich mein Vater, zu 99 Prozent, falls Ihnen das weiterhilft.«
Revelli ging nicht auf sie ein. »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen habe?«, sagte er mit einem vollkommen ausdruckslosen Blick.
Sarah schrieb ihm ihre Funknummer auf eine alte Kinokarte, die sie in ihrem Adressbuch fand. Revelli warf einen Blick auf die Nummer. Dann sah er sie an und fragte fast ein bisschen verlegen: »Können Sie sich ausweisen?«
Sie gab ihm ihren Personalausweis. Er streifte den Ausweis mit einem routinierten Blick und gab ihn ihr zurück. »Römer, ist das der Name ihrer Mutter?«
»Ja.«
»Wie lange bleiben Sie in Zürich?«
»Ich fahre heute noch zurück, nach Eriz. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Interlaken. Ich mache dort ein paar Wochen Ferien.«
»Richten Sie sich darauf ein, dass Sie noch einmal zu mir ins Kommissariat kommen müssen. Es kann sehr leicht sein, dass wir noch ein paar Fragen haben.«
»Kein Problem, rufen Sie mich einfach an.«
»Danke, das werde ich tun, aber ich hoffe es ist nicht nötig.«
Sarah verließ das Hotel und ging ein paar Schritte am See entlang. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schaute auf die Uhr. Ihr blieben noch zwei Stunden Zeit, bis Antje sie wieder beim Café Select aufsammeln wollte. Einen Moment dachte sie daran, sie anzurufen und ihr zu erzählen, was geschehen war, aber sie hatte irgendwie keine Lust, jetzt mit Antje zu reden, und beschloss, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, um wieder zu sich zu finden.