Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 4
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ОглавлениеJochen war wie gerädert. Es war erst 19 Uhr, aber er fühlte sich unheimlich müde und erschöpft. Er konnte sich nicht erinnern, dass er schon jemals in seinem Leben so müde gewesen war. Was war bloß los mit ihm? Er hatte doch den ganzen Tag über nichts Besonderes gemacht, jedenfalls nichts, an das er sich erinnern konnte. Es gab absolut keinen Grund für diese Müdigkeit. Er musste sich auf die Couch legen, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und schlief sofort ein.
Als er wieder aufwachte, war er schweißgebadet. Sein T-Shirt klebte nass auf seinem Rücken. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor 23 Uhr. Er hatte geschlafen wie ein Stein, und es fiel ihm schwer, sich zu orientieren. Nur mit seiner ganzen Kraft schaffte er es, sich aufzurichten und ins Bad zu gehen.
Fast vier Stunden, er musste verdammt tief geschlafen haben. Durch sein Gesicht zogen sich rote Striemen, die das harte Sofakissen dort hinterlassen hatte. Nach ein paar Händen voll kaltem Wasser kam langsam die Orientierung zurück. Stück für Stück erinnerte er sich wieder. Er war seit dem Morgengrauen den ganzen Tag über wie ein Irrer durch die Stadt gerannt und hatte versucht, sich zu beruhigen. Aber auch jetzt fühlte er sich noch immer gedemütigt und verletzt.
Sie hatten sich geschworen, immer ehrlich zueinander zu sein und alles offen auszusprechen. Ihnen war beiden klar, dass eine Liebe zu Ende gehen konnte, aber sie hatten sich versprochen, dann die Wahrheit zu sagen und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Und nun war genau das Gegenteil geschehen. Laura hatte ihn auf widerliche Art und Weise betrogen und gedemütigt, auf für ihn geradezu unfassbare Weise. Auch jetzt konnte er es noch nicht fassen und fühlte einen ungeheueren Schmerz. Warum hatte sie das getan, warum nur?
Er hatte sich so darauf gefreut, sie nach ihrer dreiwöchigen Nordamerikareise wieder zu sehen. Deshalb war er am Abend vor ihrer Rückkehr in ihre Wohnung gefahren, um alles für ein kleines Willkommensfrühstück vorzubereiten, mit dem er sie überraschen wollte. Unterwegs hatte er einen Teller italienische Vorspeisen, eine Flasche Champagner und einen Strauß Blumen besorgt. Voller Vorfreude war er damit die fünf Treppen zu Lauras Wohnung in der Danziger Straße hinaufgelaufen, um die Einkäufe im Kühlschrank zu deponieren und den Tisch zu decken, damit alles für ihre Rückkehr bereit war.
Als er die Tür aufschloss, hatte er einen Anflug von schlechtem Gewissen. Laura war sehr heikel, wenn es um ihre Wohnung und um ihre Privatsphäre ging und hatte ihn ausdrücklich gebeten, die Wohnung nur zum Blumengießen zu betreten, als sie ihm vor ihrer Abreise den Schlüssel übergeben hatte. Aber er sagte sich, dass sie ihm sicher verzeihen würde, wenn sie die Blumen und das leckere Frühstück sehen würde und trat in den Flur.
Er brauchte keine fünf Sekunden, um zu spüren, dass in der Wohnung etwas nicht stimmte. Langsam ließ er den Beutel mit den Einkäufen auf den Boden sinken. Dann blieb er bewegungslos stehen und lauschte. Eindeutig, es war jemand in der Wohnung. Er hörte Geräusche hinter der Schlafzimmertür. Laura konnte es nicht sein, das war unmöglich, sie hatte ihm gestern erst gemailt, dass ihr Flieger morgen früh um 8:25 Uhr landen würde. Vorsichtig und aufs höchste angespannt drückte er die Klinke der Schlafzimmertür nach unten und öffnete die Tür. Was er sah, ließ ihn erstarren. Laura lag splitternackt und lustvoll stöhnend unter einem muskulösen, gebräunten Männerkörper vom Typ erfolgreicher, bodygebuildeter Geschäftsmann. Und es machte ihr Spaß, daran bestand nicht der geringste Zweifel.
Als sie Jochen bemerkte, richtete sie sich ruckartig auf, starrte ihn aus ihrem erregten Körper entgeistert an und schrie: »Was zum Teufel machst Du hier!?«
»Ich wollte Dich überraschen, ich dachte ...!« Jochen sah sie vollkommen perplex an und spürte Schmerz und Verzweiflung.
»Schau nicht so blöd! Was ist denn dabei, wenn ich ein bisschen Spaß hab! Du bist selber schuld, wenn du mir nachschnüffelst. Warum rufst du nicht an, bevor du hier auftauchst? Ich bin eine Frau und ich brauch es eben auch manchmal! Und ich seh verdammt noch mal nicht ein, warum ich es mir nicht woanders nehmen soll, wenn ich es von dir nicht kriegen kann. Was wir sexuell zusammen machen, reicht mir nicht! Aber das ist kein Grund zur Panik! Und jetzt mach, dass du raus kommst. Ich ruf dich morgen an.«
Jochen konnte kein Wort entgegnen. Er stand einfach nur da und rührte sich nicht von der Stelle. Bewegungsunfähig sah er, wie das Muskelpaket sich ein paar Dolce & Gabana Unterhosen anzog und langsam mit seinen breiten Schultern auf ihn zukam. »Worauf wartest Du noch, hast Du nicht gehört, du sollst verschwinden!«
Jochen rührte sich immer noch nicht. Er spürte mit einem Mal eine seltsame Ruhe. Erstaunlich, diese Ruhe, dachte er, wie im Auge des Hurrikans. Als blickte er durch röhrenartige Öffnungen in seinem Schädel nach draußen, sah er diesen Halbnackten in seinen bunten Unterhosen auf sich zukommen, sah, wie sich die Muskeln in diesem wütenden Gesicht vor Aggressivität immer mehr anspannten … und blieb vollkommen ruhig, fühlte nur ein großes, sprachloses Erstaunen, das aus einer schier unendlichen Ruhe in ihm aufstieg. Er stand nur da und wich keinen Millimeter zurück, bewegte sich nicht. Ein kurzes Aufflackern von Irritation huschte über die Iris des Mannes. Dann wurde er vom Zorn über Jochens unverschämte Gelassenheit überwältigt.
Er schaltete mit einem heftigen Ruck in einen hektischen Bewegungsablauf, packte Jochen an den Schultern und drückte ihn in den Flur. »Raus hier, du Arsch, aber dalli!« Er rammte Jochen mit aller Kraft gegen die Wand neben der Eingangstür, riss die Tür auf und stieß ihn ins Treppenhaus hinaus. Dann knallte er die Tür zu.
Jetzt in der Erinnerung war es Jochen unbegreiflich, warum er sich nicht gewehrt hatte. Warum zum Teufel hatte er Laura nicht zur Rechenschaft gezogen, warum nur hatte er sich diese ungeheuere Demütigung einfach gefallen lassen? Er konnte es nicht fassen. Noch Minuten lang hatte er wie betäubt im Treppenhaus gestanden und auf die Geräusche hinter Lauras Tür gelauscht. Dann hatte er das Haus verlassen und war endlose Stunden ziellos durch die Stadt gerannt.
Es war unfassbar, wie Laura ihn behandelte, wie sie ihn einfach abhakte, nach all den Jahren. Er hatte die letzten Stunden verzweifelt auf einen Anruf von ihr gewartet, auf eine Entschuldigung, aber das Telefon war stumm geblieben. Sie hatte ihn einfach aus ihrem Leben gestrichen. Wahrscheinlich hatte sie ihn bereits seit Monaten belogen und betrogen. Und er hatte nichts davon gemerkt, nichts, hatte geglaubt, dass sie ihn liebe und dass sie füreinander bestimmt wären und dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre bis zu ihrer Heirat. Und jetzt hatte sie alles zerstört, hatte ihn so unfassbar erniedrigt. Das Bild ihres lustvoll stöhnenden Körpers unter diesem fremden Mann brannte in seinem Hirn. Und plötzlich spürte einen tiefen Hass, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Das Gefühl war so stark, dass seine Hände anfingen zu zittern. Er musste sich zwingen, sie ruhig zu halten, als er nach dem Autoschlüssel suchte.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 0:10 Uhr als er den Zündschlüssel umdrehte und den Wagen startete. In der Hoffnung, sich zu beruhigen, fuhr er ziellos durch die Stadt. Eine Stunde später fühlte er sich immer noch wie im freien Fall. Das Fundament, auf dem er die ganzen letzten Jahre gestanden hatte, war zerbrochen. Nur einmal in seinem Leben hatte er etwas ähnlich Schmerzhaftes erlebt. Als er sieben Jahre alt war, hatten sich seine Eltern scheiden lassen. Er war bei seiner Mutter geblieben und hatte miterlebt, wie sie in der Folge angefangen hatte, zu trinken. Als sie ihren Job verlor, steigerte sie ihren Alkoholkonsum weiter und ließ sich immer öfter von fremden Männern aushalten, um das Geld für den Lebensunterhalt zu beschaffen.
Wenn sie zu Hause Männerbesuch empfing, schickte sie Jochen immer zu einer Bekannten, die in einem Pizzaservice um die Ecke arbeitete. Dort half er dann ein bisschen mit oder saß einfach nur da und trank eine Apfelschorle, während die Bestellungen eingingen oder Nachtschwärmer vorbeikamen, um sich noch eine Pizza reinzuziehen. Eines Abends kam er zu früh nach Hause zurück. Als er die Wohnungstür öffnete, lag seine Mutter nackt auf den Dielenbrettern im Flur. Zwischen ihren Beinen wälzte sich stöhnend ein nach Schweiß stinkender Mann. Als seine Mutter Jochen in der offenen Tür bemerkte, sprang sie schreiend auf, gab ihm ein paar Ohrfeigen und warf ihn aus der Wohnung. Im dunklen Treppenhaus hatte er damals vollkommen verstört gewartet, bis der Freier endlich gegangen war.
Er hielt an einer Tankstelle und kaufte sich drei Flaschen Becks, in der Hoffnung, dass das Bier ihn müde machen würde. Als er versuchte, eine der Flaschen mit einem Feuerzeug zu öffnen, begannen seine Hände wieder zu zittern. Er legte die Flasche beiseite und versuchte, das Zittern in den Griff zu bekommen, indem er seine Fingerspitzen mit aller Gewalt ins Lenkrad grub. Es half nichts, er konnte sich nicht beherrschen. Der Hass auf Laura ließ ihn nicht mehr los und wurde immer stärker. In einem plötzlichen Entschluss startete er den Motor und fuhr zu Lauras Wohnung.
Er parkte den Wagen neben ein paar Mülltonnen, die gegenüber von Lauras Haus am Straßenrand für die Abfuhr bereit standen und sah zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf. Nichts deutete darauf hin, dass Laura noch wach war. Wahrscheinlich lag sie neben ihrem Liebhaber im Bett, glücklich und besudelt von seinem Sperma. Sie lag ruhig in ihrem Bett, unfassbar! Dabei hätte sie es verdient, in einer dieser Mülltonnen zu liegen. In einem Anfall von Hass fing er an, wütend um sich zu schlagen. Wie von Sinnen hämmerte er auf das Armaturenbrett und gegen die Türverkleidung.
Er hielt erst inne, als sein Blick auf einen in eine Decke gewickelten Gegenstand auf dem Rücksitz fiel. Als er begriff, um was es sich handelte, fühlte er eine Art Ehrfurcht in sich aufsteigen. Langsam hob er den Gegenstand nach vorne und schlug die Decke zurück. Im Licht der Straßenlaterne blitzte die Klinge eines Samuraischwerts auf. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das Schwert, das seit Jahren über seinem Schreibtisch hing, von der Wand genommen und ins Auto gebracht hatte. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Die Reflektion der Klinge im Licht weckte eine unendlich leichte Freude in ihm, die mit jeder Sekunde stärker Besitz von ihm ergriff. Andächtig ließ er seine Finger über den kühlen Stahl des Schwerts streichen und empfand nach Stunden der tiefen Verzweiflung endlich eine beginnende Erleichterung. Er stieg aus, schlug das Schwert in seine Jacke und überquerte mit leichten Schritten die Straße. Noch hatte er den Schlüssel zu Lauras Wohnung. Der Gedanke daran brachte ein triumphierendes Lächeln auf seine Lippen. Als er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, verharrte er ein paar Augenblicke und lauschte ins Treppenhaus. Dann hob er das Schwert mit beiden Händen und begann, im Dunkeln zu tanzen.