Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 14
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ОглавлениеMark fuhr die breite Rolltreppe hinunter, die vom ersten Stock ins Entree von Gene Design Technologies führte, und ging mit schnellen Schritten auf die beiden großen Drehtüren zu, die ins Freie führten. Zwischen den beiden Türen stand bewegungslos ein Wachmann. In seiner frisch geplätteten Uniform wirkte er so leblos und zugleich lebensecht wie eine Wachsfigur. Als Mark an ihm vorbeihuschte, bewegte er keine Miene. Zeichen dafür, dass er ihn kannte und als völlig gefahrlos einstufte.
Ungeduldig tänzelnd wartete Mark, bis die gigantische Drehtür in wieder frei gab. Sobald der Spalt nach draußen breit genug war, schlüpfte er hinaus in die anbrechende Dämmerung.
Die plötzliche Hitze des Sommerabends ließ den Schweiß aus seinen Poren quellen, als er hastig die Straße überquerte und mit schnellen Schritten zur Straßenbahnhaltestelle eilte. Erst jetzt warf er einen Blick zurück auf das riesige gläserne Gebäude, in dem GDT residierte, und spürte einen Hauch von Erleichterung.
Er war verunsichert. Vor ein paar Tagen hatte man ihm einfach einen neuen Interview-Partner zugewiesen, ohne jede Vorankündigung und ohne Erklärung. »Felix Halsch, ich bin ab heute Ihr Gesprächspartner. Dr. Langer hat uns leider verlassen«, hatte sich der neue lakonisch vorgestellt und sich in den Drehsessel gesetzt, den bis dahin immer Dr. Langer benutzt hatte. Mark hatte völlig perplex reagiert und sich sofort innerlich zurückgezogen. Der Neue hatte bei den letzten Terminen alles getan, um die Situation zu entspannen, aber vergeblich. Mark reagierte nicht darauf, auch nicht, als Halsch es mit immer provokanteren Fragen versuchte. Halsch war einfach nicht sein Typ, er konnte nichts mit ihm anfangen, fand ihn unnahbar und irgendwie glatt.
Dr. Langer hatte er gemocht. Bei ihm hatte er sich während der Interviews oft sogar wohlgefühlt, auch wenn die Konfrontation mit seiner Vergangenheit nicht einfach für ihn war und ihn oft stark aufwühlte. Noch Tage nachdem er mit Dr. Langer gesprochen hatte, träumte er von lange zurückliegenden Zeiten. Er sah jetzt seine Vergangenheit in einem ganz neuen Licht. Vieles war ihm klar geworden. Er war einfach immer zu weich gewesen, hatte sich alles bieten lassen. Schon in der Schule hatte man ihn deshalb als Fußabtreter benutzt. Er hatte sich nie gewehrt.
Er erinnerte sich mit Grauen an das erste Skilager. Damals war er elf oder zwölf gewesen, am Beginn der Pubertät. In der ersten Nacht hatten sich ein paar seiner Klassenkameraden ins Dorf geschlichen und hatten sich Bier besorgt. Als sie zurückkamen, hatte er bereits in seinem Etagenbett gelegen und versucht, einzuschlafen, ein willkommenes Opfer in der Langeweile des Lagers. Sie hatten angefangen, ihn zu hänseln, hatten ihn gefragt, ob er denn schon einen Steifen kriegen könnte. Er hatte geschwiegen und gedacht, so könnte er am besten davonkommen. Ruhig sein und den Kopf einziehen, das hatte er zu Hause gelernt. Aber die Jungs hatten nicht locker gelassen, entschlossen, sich einen Spaß zu machen.
»Der hat bestimmt einen ganz winzigen krummen«, hatte Florian gelacht und versucht, ihm die Decke wegzuziehen, die er krampfhaft festhielt. Florian war der Sohn eines reichen Bauunternehmers und glaubte sich deshalb berechtigt, immer die erste Geige zu spielen.
»Na, zeig ihn uns doch!«, hatte Walter sich sofort drangehängt. Er machte immer alles mit, was Florian anfing.
Er hatte Angst bekommen und versucht, seine Kameraden zu beschwichtigen: »Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, schrei ich!«
Darauf hatten die anderen nur gewartet. »Was willst du, schreien willst du? Nach Papi und Mammi rufen?«, hatte Florian herausfordernd gemeint und sich neben ihn auf den Bettrand gesetzt.
»Glaubst du, dass das so einfach geht?« Damit war Walter näher gekommen und hatte sich auf die andere Seite des Betts gesetzt.
»Du willst uns also verpetzen?«, hatte Florian ihn weiter unter Druck gesetzt. »Ich zeig Dir gleich, wer hier wen verpetzt!« Damit hatte er Mark an der Brust gepackt, aus dem Bett gezerrt und gegen den Bettpfosten gedrückt. »Walter! Bind ihm die Arme fest!«
Walter hatte einen Augenblick gezögert. Das ging ihm irgendwie doch zu weit. Dann aber hatte er seine Bedenken verworfen, sich ein paar der Lederriemen geschnappt, mit denen normalerweise die Skier zusammengebunden wurden, und ihm die Arme nach hinten gebogen, um ihn an den Bettpfosten zu fesseln.
Er hatte einen Schrei ausgestoßen, aber Florian hatte ihm sofort die Hand auf den Mund gepresst und gedroht: »Das würde ich mir an deiner Stelle überlegen, sonst schneid ich Dir deine Eier ab!«
»Spinnt ihr jetzt, hört sofort mit dem Quatsch auf!«, hatte sich Helmut eingemischt, der ebenfalls schon in seinem Bett gelegen und gelesen hatte.
»Du hältst dich da raus!«, hatte ihn Walter angeschnauzt. »Oder du kannst ihm gleich Gesellschaft leisten!« Dann hatte er ein Handtuch genommen und ihm damit den Mund zugebunden.
»Jetzt wollen wir doch mal schauen, was der Kleine für ein schrumpeliges Ding in der Hose hat!« Florian hatte ihm langsam die Unterhose herunter gezogen. »Ei, ei, ei, ich kann ihn kaum sehen, so ein hässliches kleines Ding!«
Er hatte sich unendlich geschämt und schließlich angefangen zu weinen.
»Lügner seid ihr, verdammte Lügner, das interessiert euch doch einen Dreck, solange ihr eure Kohle einschieben könnt!«, schrie Mark laut und wachte aus seinen Gedanken auf. Er stand vor dem Schaufenster eines Kaufhauses und starrte auf einen Fernsehmonitor in den Auslagen. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war, so versunken war er in seine Erinnerungen.
Der riesige Flachbildschirm im Schaufenster zeigte in extremer Nahaufnahme das Gesicht des SPD-Vorsitzenden. Es wirkte wie eine abstoßende Fratze. Warum nur merkte niemand, wie korrupt dieser verdammte Ex-Lehrer und Möchtegernpolitiker war? Mark spürte Hass und unendliche Hilflosigkeit. Er wusste nicht, wie er die Kohle für die nächste Woche auftreiben sollte, und diese Politikerfratze versuchte, ihm zu erklären, dass alles nur ein Problem der Stimmung sei. »Die Lage ist besser als die Stimmung!« Scheiße!
Er drehte sich um und sah direkt in den gleißenden Halogenstrahler eines Baukrans. Geblendet drehte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass er auf dem Alexanderplatz gelandet war. Komisch, das war nicht sein Weg, der Alex lag nicht auf seinem üblichen Nachhauseweg, nicht im Geringsten. Wie immer lungerten allerlei Verlierer der Gesellschaft herum, Außenseiter, Harz IV Junkies, Sozialhilfeempfänger, Verwirrte und Möchtegernpropheten, die nach ein paar Dosen Becks die Scheiße aus ihrem Hirn quetschten und sie zur Offenbarung erklärten. Der Papierkorb neben ihnen quoll über vor Dosen.
Mark schlich sich seitlich an der Gruppe vorbei und überquerte den Platz. Eine einsame Gestalt am Rand des Platzes zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um einen elegant gekleideten, hochgewachsenen Mann von Anfang Fünfzig, der eine schwere Aktentasche über der linken Schulter trug, die in ihrer Unförmigkeit so gar nicht zu seiner sonstigen Erscheinung passte. In der rechten Hand schwenkte er wie ein Prediger ein Buch, energisch gegen den Himmel gereckt, obwohl weit und breit niemand war, der diese dramatische Geste hätte registrieren können.
Mark wurde neugierig und ging langsam auf den Mann zu. Wenige Schritte vor ihm blieb er stehen und wartete. Aber zu seinem Erstaunen reagierte die Gestalt nicht auf seine Anwesenheit. Minutenlang stand Mark da und starrte den seltsamen Prediger an.
»Wir alle wollen leben mit ungeheurer Gier, aber wir alle sind verdammt zu sterben. Und je größer unsere Gier, desto unwiderruflicher unsere Verdammnis. Die ganze Menschheit wird vom Erdboden verschwinden bis die Weissagung der großen Schwester erfüllt ist.« Der Prediger hob das Buch in seiner Rechten zum Nachthimmel. Und Mark fühlte, dass seine Worte nur für ihn bestimmt waren. Er konnte sie ganz tief in seinem Inneren spüren.
»Dann wird Gerechtigkeit sein und sie wird herrschen. Es werden wenige Auserwählte sein, die bestimmt sind, ihren Weg zu bereiten. Meine Augen sehen sie bereits, denn sie sind unter uns und ihre Tage werden kommen.« Der Prediger ließ die Worte verklingen. Dann kam er mit fast tänzerischen Schritten auf Mark zu, öffnete seine Aktentasche und gab Mark eine Visitenkarte in die Hand. »Ich hab dich gehört, vorhin. Ich verstehe deine Wut. Aber bald wirst du begreifen, dass diese Wut deine Kraft ist. Wenn du mal mit jemandem reden willst, der so denkt wie du, dann schau vorbei!«
Mark blickte voller Erstaunen auf die Visitenkarte. In diesem Augenblick wandte sich der Prediger von ihm ab und verschwand mit eiligen Schritten in der Dunkelheit. Mark drehte das Kärtchen ins Licht. »Dr. Peter Nueger« stand in der Mitte der Karte und darunter klein gedruckt: »If they’re running and they don’t look where they’re going I have to come out from somewhere and catch them. That’s all I’d do all day. I’d just be the catcher in the rye.« Links darunter eine Adresse in Berlin Mitte und eine Internet-Adresse: »www.otherworld.com«. »If they’re running and they don’t look…«, Mark las die Zeilen wieder und wieder. Er kannte diese Sätze. Sie stammten aus seinem Lieblingsbuch »Der Fänger im Roggen«. Wie konnte dieser Fremde wissen, wie sehr er dieses Buch liebte, wie sehr er diese Zeilen liebte. Er fröstelte und spürte eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Irgendetwas ging mit ihm vor, etwas, das er nicht verstand und das ihm Angst machte. Er musste unbedingt mit Dr. Langer sprechen, sofort, vielleicht konnte Dr. Langer ihm helfen.
Ohne links oder rechts zu sehen, lief er über den Alex und drängte sich an den Menschen vorbei in den S-Bahnhof. Nach ein paar Minuten hatte er endlich ein freies Telefon gefunden und tippte die Nummer von Dr. Langer in den Buchstabenblock. Nach fünf Ruftönen hörte er das ihm mittlerweile vertraute Knacken in der Leitung, es war wieder nur der Anrufbeantworter. Seit Tagen versuchte er, Dr. Langer zu erreichen, aber es war ihm nie gelungen. Dr. Langer war nicht zu Hause und reagierte auch nicht auf seine Bitten um Rückruf. In seiner Verzweiflung versuchte Mark es trotzdem noch einmal: »Doktor Langer, hier ist Mark. Ich muss Sie unbedingt sprechen, Doktor, bitte! Ich versuche seit Tagen, Sie zu erreichen. Bitte melden Sie sich!« Er legte auf und verharrte einen Augenblick ratlos an der Telefonsäule. Dann verließ er den Bahnhof und setzte langsam seinen Weg durch die Straßen Berlins fort, wie in Trance versunken, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen.