Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 5
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ОглавлениеPaul Mrozek zögerte einen Augenblick. Die Felsleiste kam ihm jetzt doch verdammt klein vor. Würde er sich daran festhalten können? Und würde sie halten? Der Fels im Elbsandsteingebirge war weich, man musste immer damit rechnen, dass ein Stück ausbrach. Er begann zu zweifeln. Die nächsten sechs Meter musste er nonstop durchsteigen, in dieser Passage gab es keine Stelle, wo er sich ausruhen konnte. Er musste in einem Zug durch. Er hatte es zigmal geschafft. Top rope hatte er die Route bestimmt zwanzigmal in einem Zug durchstiegen, ohne Probleme. Jetzt, ohne Seil bekam er plötzlich die Krise. Er spürte, wie seine Hände leicht feucht wurden und tastete nach dem Beutel mit dem Magnesia. Das half nicht nur gegen die feuchten Hände, das Ritual half ihm auch, seine Nerven wieder in den Griff zu kriegen. »Du hast es zwanzigmal geschafft, du schaffst es auch jetzt!« wiederholte er innerlich immer wieder. Dann wischte er sich die langen blonden Haare aus der Stirn und kletterte weiter. Mit einem ,Dynamo’, einem dynamischen Vorwärtsschnellen, kriegte er die Leiste mit der Linken zu fassen, zog die Rechte nach und hakte die linke Ferse in einem kleinen Vorsprung ein und zog sich mit zwei schnellen Griffen über den Überhang hinauf in das rund fünf Meter lange Steilstück, das er entschlossen hinter sich brachte. Die restlichen zwanzig Meter bis zum Ausstieg waren easy. Als er oben stand und einen Blick in die Wand zurückwarf, spürte er diese wunderbare Euphorie, die ihn immer durchströmte, wenn er sich überwunden hatte, eine Route allein und ohne Seil zu machen, voll auf Risiko. Klar, kalkulierbares Risiko, aber immer auch ein Spiel mit dem Unwägbaren. Dann fühlte er das Leben wie sonst nie, stark und voll unendlicher Kraft.
Er zog das Seil durch den Haken am Ausstieg, klinkte den Achter ein und seilte sich zum Einstieg zurück, wo er seinen Rucksack mit dem Handy deponiert hatte. Er ließ das Telefon immer am Wandfuß zurück. Wenn er abstürzte, war es sowieso unwahrscheinlich, dass er danach noch in der Lage sein würde zu telefonieren.
Die wenigen Kollegen am Institut für Neurobiologie, die wussten, was er in seiner Freizeit machte, schüttelten den Kopf darüber, dass er ohne Seil an teils überhängenden Felswänden kletterte. Aber er fühlte sich gut dabei. Wann immer es möglich war, fuhr er in den Süden, in die Berge. Er liebte die Einsamkeit dort, die nur noch am Limit zu haben war. Auf den einfachen Wegen, in den einfachen Routen war Betrieb ohne Ende. Nur in den Extrembereichen gab es meist noch die Freiheit der Einsamkeit. Er fühlte sich nie wirklich einsam, wenn er allein war. Im Gegenteil, das waren die Stunden, in denen er eine große Geborgenheit fühlte. Wenn er einen Seilpartner hatte, fühlte er sich immer unsicher. Er musste sich darauf verlassen, dass der keinen Fehler machte, musste ihm vertrauen und das fiel ihm schwer, war letztlich unmöglich.
Er schaltete sein Telefon ein. Es war 16:30 Uhr, Zeit nach Berlin zurückzufahren. Gern hätte er noch eine Route geklettert, aber er hatte seinem Vater versprochen, spätestens um 20 Uhr zurück zu sein, und er wollte dieses Versprechen halten.
Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen. In den letzten Jahren hatte er jeden Besuch zu Hause vermieden. Vor allem Familienfeste hasste er, an erster Stelle das Weihnachtsfest. Weihnachtsfeste zu Hause waren immer die Hölle gewesen. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er sich in der Familie einsam gefühlt. Mit seinen Eltern zu sprechen war ihm schwerer gefallen als mit Fremden. Und jetzt war es zu spät, jetzt war es nicht mehr möglich, ein Familiengefühl aufzubauen, zuviel Geröll lag da im Weg.
Während des Studiums vermied er es strikt, über seine Herkunft zu sprechen. Wenn es sich nicht umgehen ließ, erzählte er einfach irgendwelche erfundenen Stories über seine Geburt, seine Eltern, sein Zuhause – alles Lügen.
Den Tod der Mutter vor einem Jahr hatte er aus ungeheuerer innerlicher Distanz erlebt. Am liebsten wäre er nicht zum Begräbnis gefahren, aber die Tränen seines Vaters am Telefon hatten ihn berührt. Als er zu Hause eintraf, saß sein Vater völlig verzweifelt und stumm in der Küche und weinte immer wieder leise vor sich hin. Dass sein Vater so weinen konnte, hatte er sich nie vorstellen können.
In den Tagen rund um das Begräbnis wurde ihm klar, dass sein Vater sich verändert hatte. Dass irgendetwas mit ihm nicht mehr stimmte, fiel ihm das erste Mal vor dem Leichenschmaus auf. Sie hatten zusammen noch einen kleinen Spaziergang in der Umgebung des Lokals unternommen und sich dann getrennt, weil Paul noch etwas besorgen wollte. Sein Vater hatte es danach nicht geschafft, allein den Weg zum Lokal zurückzufinden. Er hatte auch niemanden nach dem Weg fragen können, weil er den Namen des Lokals vergessen hatte.
Als Paul sich wegen diesem Vorfall besorgt zeigte, regte sich sein Vater auf und wehrte sich gegen eine derartige »Unterstellung«, wie er meinte. In seiner Situation, sei es ganz normal, etwas zu vergessen.
Paul konnte er dadurch nicht beruhigen. Und in den folgenden Tagen verstärkte sich Pauls Besorgnis noch. Im fiel auf, dass sein Vater ängstlicher war als früher, fast wirkte er ein bisschen hilflos. Er hatte manchmal Mühe sich an kurzzeitig zurückliegende Ereignisse zu erinnern und hatte anscheinend einige Geschehnisse in seiner Vergangenheit einfach vergessen.
Paul wusste, was diese Symptome unter Umständen zu bedeuten hatten, es konnte sich um den Beginn einer Alzheimer Demenz handeln. Aber vielleicht waren diese Fehlleistungen seines Vaters ja wirklich nur eine Folge des Schocks, den der Tod seiner Frau ausgelöst hatte. Eines war für Paul jedoch klar, er konnte seinen Vater jetzt unmöglich alleine in dieser Wohnung zurücklassen. Und es gab niemanden außer ihm, der sich um ihn kümmern konnte. Also gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder konnte er seinen Vater ins Pflegeheim bringen, oder er musste sich um ihn kümmern, falls seine Arbeit das überhaupt zulassen würde.
Er konnte diese Entscheidung nicht so einfach aus dem Bauch heraus treffen. Also rief er im Institut an und ließ sich für eine Woche beurlauben. Er wollte die freien Tage mit seinem Vater verbringen und hoffte, in dieser Zeit Klarheit darüber zu gewinnen, wie es weitergehen sollte.
Als er am Abend schweigend neben seinem Vater vor dem Fernseher saß, fühlte er sich vollkommen hilflos. Der Wetterbericht wurde von einem jungen Mann vorgetragen, der vor einer beeindruckenden Dünenkulisse an der Ostsee stand. Paul nahm keine Notiz von den Wetterdaten, die der Moderator verkündete, aber am Ende des Wetterberichts hatte er einen Entschluss gefasst. Er stand auf und packte ein Paar Sachen für sich und seinen Vater ein.
»Morgen früh fahren wir an die Ostsee. Ich glaube, uns beiden tut ein bisschen frische Meerluft gut. Ich weck dich um sieben.« Damit sagte er seinem Vater gute Nacht und ging schlafen.
Die Meerluft wirkte befreiend. Paul fühlte sich wieder besser. Aber der Zustand seines Vaters blieb gleich. Im Gegenteil, Paul bemerkte immer mehr Symptome für eine beginnende Demenz. Sie unternahmen gemeinsam lange Spaziergänge am Meer. Sie sprachen kaum, gingen schweigsam nebeneinander her, und oft ließ Paul seinen Vater auch hunderte von Metern vorausgehen. Und obwohl sie kaum zehn Sätze miteinander sprachen, hatte Paul das Gefühl, dass sie sich immer näher kamen, dass sie sich immer besser verstanden.
Er betrachtete seinen alten Vater wie er vor ihm herging und erinnerte sich an eine kurze Geschichte von Beckett, in der der Sohn mit dem Mantel des Vaters auf einem langen Spaziergang unterwegs ist. Dabei traf er seine Entscheidung, den Mantel des Vaters anzunehmen.