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ОглавлениеDr. Jens Langer nahm gerne den Zug. Ob ICE, IC oder Regionalexpress war ihm egal. Es machte ihm nichts aus, eine halbe Stunde länger unterwegs zu sein. Im Zug konnte er wunderbar nachdenken. Solange er unterwegs war, waren seine Gedanken frei.
Als Kind war er auch gerne mit dem Triebwagen in die Kreisstadt zur Oberschule gefahren. Er mochte das. Der rote Zug brachte ihn für den Vormittag aus der Enge der kleinen Stadt hinaus in die Welt. Es machte ihm Spaß, auf die Gleise zu sehen und unterwegs zu sein.
Schienen waren ihm vertraut. Er hatte unter Eisenbahnbrücken gespielt, war auf den Schienen, die in den nahegelegenen Steinbruch führten, entlang spaziert, verbotener Weise. Aber der Geruch der alten Gleise hatte ihn fasziniert, nach Rost, Schmiere und Teer. Irgendwo gab es das vielleicht noch, an stillgelegten Strecken. Die Schienen, auf denen noch Züge rollten, hatten jedoch keine Romantik mehr, nicht einen Hauch. Auch der Beruf des Eisenbahners hatte viel verloren vom Mythos vergangener Tage, als Schienen verlegen noch eine Pioniertat wahr. Aber noch konnte man träumen im Zug, konnte die Freiheit der Gedanken genießen. Ja, Züge sind Traummaschinen, dachte er kurz und lächelte, weil diese Formulierung ein Klischee war, ein unerträgliches, wie alles, was man schreiben konnte, heutzutage.
Das war ein Klischee, natürlich, ein unerträgliches. Früher wollte er mal Schriftsteller werden. Möglichst ein bekannter Autor, ein Genie. Jetzt war er so weit davon entfernt, wie die moderne Eisenbahn von dem roten Triebwagen mit dem er als 10-Jähriger in die Schule gefahren war.
Ganz entfernt hatte er noch mit dem Schreiben zu tun. Als seine Stelle am psychologischen Institut der Universität gestrichen wurde und er beim besten Willen keine Anstellung in seinem Job mehr fand, hatte er angefangen, Biografien zu schreiben. Keine Biografien von Berühmtheiten sondern Biografien im Auftrag, für einfache Leute. Am Anfang war es mühsam, Kunden zu finden, und er brauchte endlos Zeit für die 150 bis 200 Seiten, die eine solche Biografie in der Regel umfasste, zu lange, um profitabel zu arbeiten.
Das änderte sich mit den Jahren. Er ging jetzt systematischer vor und steigerte dadurch sein Tempo enorm. Wenn er sich reinhing, schaffte er eine Biografie in drei Wochen. Zwei Tage Interview und Recherche beim Auftraggeber und rund zwanzig Tage schreiben. Und das Beste, der Job machte ihm Spaß. Es war interessant, so nah am Leben anderer Menschen teilzuhaben. Er wusste nach der Fertigstellung der Biografie mehr über diesen Menschen als dessen eigene Kinder, wesentlich mehr. Es erstaunte ihn immer wieder, wie weit seine Auftraggeber bereit waren, sich ihm zu öffnen, einem wildfremden Menschen. Und mittlerweile fand er, dass nichts spannender war als das wirkliche Leben, keine Fiktion konnte da mithalten.
Er war schon gespannt auf den neuen Kunden, mit dem er morgen in Zürich zum ersten Interview verabredet war. Es handelte sich um den ehemaligen Leiter der Dermatologischen Klinik, der, zeitlebens von der bildenden Kunst fasziniert, im Alter noch eine Galerie in Zürich eröffnet hatte und auf eine reichhaltige Lebensgeschichte zurückblicken konnte, die er jetzt für die Nachwelt aufzeichnen lassen wollte.
Mit noch größerer Spannung sah er einer Verabredung entgegen, die er für den heutigen Abend getroffen hatte. Seine Tochter Sarah, die er vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, hatte sich telefonisch bei ihm gemeldet und ein Treffen vorgeschlagen. Er hatte Angst vor dieser Begegnung, weil er wusste, dass eine Lawine von Gefühlen nur darauf wartete, in unkontrollierte Bewegung versetzt zu werden. Seine Hände wurden nass vor Angst, wenn er daran dachte. Trotzdem freute er sich, dass dieser Knoten in seinem Leben sich damit vielleicht endlich auflösen würde.
Der Zug erreichte Mannheim. Hier musste er umsteigen und hatte zwanzig Minuten Aufenthalt. Er nutzte die Gelegenheit, um eine Zeitung in der Bahnhofshalle zu kaufen. Als sein Blick auf die Schlagzeile fiel, stockte ihm der Atem. »Kill Bill in Berlin!«, stand da. »Junger Amokläufer tötet seine Freundin mit einem Samuraischwert«. Ohne den Artikel gelesen zu haben, hatte er schlagartig das Gefühl, dass er den Täter kannte. Mit jeder Zeile, die er las, wurde sein Gefühl mehr und mehr zur Gewissheit. Der Täter, der in dem Artikel als Jochen J. bezeichnet wurde, war mit Sicherheit Jochen Jakowski, ein junger Mann, den er gerade als Interviewer in einer Versuchsreihe bei Gene Design Technologies betreute. Die Ähnlichkeiten waren jedenfalls frappierend.
Der Job bei Gene Design Technologies sorgte für die Miete, die er mit seinen Biografien noch nicht erwirtschaften konnte. Seit zwei Jahren arbeitete er dort zwei- bis dreimal die Woche als Interviewer. Ein einfacher Job. Er hörte Versuchspersonen zu, die ihm detailliert aus ihrem Leben und von ihren Erinnerungen erzählten und machte sich parallel dazu Notizen in einem Datenbankraster. Nach dem Interview bearbeitete er die mitgeschnittenen Audiofiles, setzte bei bestimmten Begriffen Marker und stellte sie nach einem exakt vorgegebenen Schema in die Datenbank ein. Während des gesamten Interviews wurden die Hirnaktivitäten und Hirnströme der Probanden mit einem neu entwickelten Scanner aufgezeichnet und über einen Timecode mit den Eintragungen in der Datenbank verlinkt. Zugleich war eine timecode-verkoppelte Kamera auf das Gesicht des Probanden gerichtet und registrierte dessen Mimik. Das Erfassen des Timecodes gehörte mit zu seinen wichtigsten Aufgaben.
Mit Hilfe dieser Langzeitinterviews mit Versuchspersonen unterschiedlichen Alters wollte Gene Design Technologies das Rätsel der Alzheimer-Krankheit lösen und ein Medikament oder eine wirksame Therapie gegen diese grausame Krankheit entwickeln. Ein Milliardenmarkt in einer Situation, in der die Bevölkerung fast aller entwickelten Industrienationen unaufhaltsam vergreiste und die Methusalem-Gesellschaft als gigantische Bedrohung von Wohlstand und sozialer Sicherheit am Horizont stand.
Bis vor ein paar Monaten hatte er einfach seinen Job bei GDT gemacht, ohne viel darüber nachzudenken. In der letzten Zeit waren ihm jedoch mehr und mehr Zweifel gekommen, ohne dass er genau benennen konnte, was ihn beunruhigte. Es war einfach die Atmosphäre bei Gene Design Technologies. Wenn er diesen Glaspalast betrat, der die Form eines großen Tortenstücks hatte, fühlte er eine undefinierbare Bedrohung. Das ist das große Stück vom Kuchen, von dem alle hier was abhaben wollen und wofür sie alle bereit sind, über Leichen zu gehen, dachte er oft, während er durch die automatische Drehtür ins Gebäude geschleust wurde. Der Pförtner im Entree folgte ihm mit einem misstrauischen Blick auf seinem Weg durch die Eingangshalle. Eigentlich war es kein Pförtner, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt. Es war ein Schrank von einem Mann, ein durchtrainierter Bodyguard, der eine Waffe unter seinem Boss Jackett trug, wie es Dr. Langer schien.
Die ganze Firma war ein einziger Hochsicherheitsbereich, überall Zugangskontrollen, Patentschutzabteilungen, geheime Entwicklungsabteilungen und Labortrakte. Hier herrschte der gnadenlose internationale Wettbewerb. Patentierte Gene, Viren, manipulierte Zellen. Irgendwie kam ihm das immer komischer vor. Er fühlte sich immer mehr wie in einem modernen KZ der Biotechnologie und konnte sich nicht mehr vorstellen, dass der Output der Firma irgendwann der Menschheit dienen würde.
Er fing an, sich für die Vorgänge bei GDT zu interessieren und machte Kopien von allen Daten, auf die er Zugriff hatte. Es gelang ihm auch, einige Unterlagen aus anderen Abteilungen zu fotokopieren und außer Haus zu schmuggeln. Aber das meiste sagte ihm nichts. Er konnte keine Schlüsse daraus ziehen, bis jetzt jedenfalls noch nicht.
Als er den Artikel über den Schwertmord fertig gelesen hatte, lehnte er sich zurück, schloss die Augen und dachte nach. Jochen war am Nachmittag vor dem Mord bei GDT bei ihm zum Interview gewesen. Dabei hatte ihm Jochen eingehend von Lauras Rückkehr erzählt. Er konnte sich noch genau erinnern, dass Jochen von einem gemeinsamen Frühstück in Lauras Wohnung erzählt hatte, nachdem er sie vom Flughafen abgeholt hatte. Kein Wort davon, dass er Laura am Abend davor mit einem fremden Mann im Bett erwischt hatte. War es möglich, dass Jochen ihn so angelogen hatte?
Jochen war mit Anfang dreißig einer seiner jüngeren Interviewpartner. Er hatte sich zuerst gefragt, warum so junge Leute in ein Alzheimer Forschungsprogramm integriert waren. Aber der Projektleiter hatte ihm gesagt, dass junge Probanden als Vergleichspersonen benötigt würden. Das hatte ihm eingeleuchtet.
Beim besten Willen konnte er sich Jochen nicht als Mörder vorstellen. Jochen war die Sanftmut in Person, er konnte gar nicht aggressiv werden. Vielleicht war es doch nicht Jochen Jakowski, vielleicht handelte es sich doch nur um zufällige Ähnlichkeiten? Andererseits hatte ihm Jochen von dem Samuraischwert erzählt und wie er es erworben hatte, das stimmte alles haargenau.
Er schaltete sein Handy ein, navigierte zu Jochens Nummer, die er im Organizer hinterlegt hatte, und tippte auf den kleinen, grünen Hörer. »Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar«, informierte ihn eine Voice-Einspielung. Klar, wenn Jochen in Polizeigewahrsam war, hatte man ihm das Handy abgenommen. Er nahm sich vor, sich bei seiner Rückkehr um die Angelegenheit zu kümmern. Vielleicht konnte er ja helfen.
Komisch auch, dass Gene Design Technologies mit keinem Wort in dem Artikel erwähnt wurde, dachte er noch, bevor seine Gedanken sich wieder auf das konzentrierten, was vor ihm lag.