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Im Dezember 1888 begann Alois Alzheimer als Assistenzarzt an der »Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt am Main zu arbeiten. Im November 1901 nahm die Klinik eine 51-jährige Patientin, Frau Auguste D., mit den Zeichen einer Demenz auf. 1906 berichtete Alois Alzheimer auf einer Tagung der Südwestdeutschen Irrenärzte in Tübingen über die Patientin. Sein Vortrag hatte den Titel »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«. Die in diesem Artikel beschriebene präsenile Demenz wurde später auf Vorschlag des Direktors der Königlichen Psychiatrischen Klinik München, Emil Kraepelin, als »Morbus Alzheimer« bezeichnet.

Die Krankheit war somit seit über 100 Jahren bekannt, aber noch immer waren ihre Ursachen nicht vollständig erforscht, und noch immer gab es keine Möglichkeit, sie zu heilen. Ein Beispiel für das Schneckentempo, mit dem sich Forschung und Wissenschaft nach wie vor bewegten. Für Paul in seiner Ungeduld war es immer wieder deprimierend, wenn er sich bewusst wurde, wie unendlich langsam sie sich durch das gigantische Gebiet des Unerforschten vorwärts tasteten.

Seit er wusste, dass sein Vater an Alzheimer erkrankt war, nutzte er jede Gelegenheit, um sich über den aktuellen Forschungsstand zu informieren. Dabei kam ihm entgegen, dass sein Assistent Torsten an einer Doktorarbeit zum Thema Alzheimer arbeitete und ihm wertvolle Hilfe geben konnte.

Ursache der Krankheit ist das Absterben von Gehirnzellen. Im Computertomogramm ist dieses Absterben deutlich als Schrumpfung des Gehirns zu erkennen. Aber warum es zu diesem Sterben der Gehirnzellen kommt, ist noch immer nicht vollkommen geklärt. Bereits Alois Alzheimer hatte die Vermutung, dass Eiweiß-Spaltprodukte, so genannte Amyloide, die sich im Laufe der Krankheit vermehrt im Gehirn ablagern, für das Fortschreiten der Krankheit verantwortlich sein könnten. Heute weiß man, dass diese Eiweißablagerungen die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen behindern. Und diese Reizweiterleitung ist die Grundlage für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen und damit für die Funktion des Gehirns unerlässlich. Ohne Reizübertragung gibt es keine Gedächtnisleistung mehr, keine Lernprozesse, keine Orientierung.

Die Nervenzellen des Gehirns kommunizieren mit Hilfe von Botenstoffen, den sogenannten Neurotransmittern. Bei der Alzheimer-Demenz spielen vor allem die Botenstoffe Azetylcholin und Glutamat eine Rolle. Im Laufe der Erkrankung wird immer weniger Azetylcholin produziert. Dieser zunehmende Azetylcholinmangel führt zu immer stärkeren Lern- und Erinnerungsstörungen.

Beim Botenstoff Glutamat ist das Entgegengesetzte der Fall. Zwischen den Nervenzellen von Alzheimer-Kranken findet sich ständig eine deutlich erhöhte Konzentration dieses Neurotransmitters. Dies führt dazu, dass die Nervenzellen sich in einem Zustand der Dauererregung befinden. Signale können dadurch nicht mehr richtig erkannt und weitergeleitet werden. Irgendwann kann die Nervenzelle der ständigen Überreizung nicht mehr standhalten. Sie verliert ihre Funktionsfähigkeit und stirbt schließlich ab. Je mehr Nervenzellen durch Überreizung zugrunde gehen, desto ausgeprägter sind die wahrnehmbaren geistigen Defizite.

Diese Annahmen über die Ursachen der Krankheit sind noch mehr oder weniger Vermutungen. Die genauen Mechanismen, die für den Untergang der Nervenzellen verantwortlich sind, liegen noch im Dunkeln. Auch die Frage nach einer erblichen Bedingtheit der Krankheit ist noch nicht mit Sicherheit beantwortet. Neuere Studien legen jedoch nahe, dass die Krankheit zu zirka 80 Prozent erblich bedingt ist.

Je mehr Paul sich mit der Alzheimer-Krankheit beschäftigte, desto mehr erschreckte ihn, welche Perspektive sie für seinen Vater und ihn bedeutete. Es gab keine Heilung. Bestenfalls konnte man den Verlauf der Krankheit hinauszögern, das Siechtum verlängern. Nur eine winzige Hoffnung hatte Paul, vielleicht konnte er im Rahmen seiner Grundlagenforschung zur Funktion des Gehirns auch einen Schlüssel zum weiteren Verständnis der Mechanismen der Krankheit liefern, wenn er sich nur intensiv genug mit der Thematik vertraut machte.

Wie so oft in den letzten Wochen war er eine Stunde vor Arbeitsbeginn ins Büro gefahren und klickte sich durch aktuelle Veröffentlichungen der Alzheimer-Forschung auf der Suche nach einer detaillierten Beschreibung und Einordnung der Symptome. Seit er seinen Vater völlig orientierungslos im Parkhaus eingesammelt hatte, machte er sich große Sorgen. Er wollte unbedingt wissen, was die Änderungen im Verhalten seines Vaters, die er in den letzten Wochen beobachtet hatte, für den Krankheitsverlauf bedeuteten.

Er hatte gerade einen interessanten Link gefunden, als Torsten ins Zimmer kam und ihm zur Begrüßung die Hand auf die Schulter legte. »Und, war alles in Ordnung zu Hause?«, spielte er darauf an, dass Paul von seinem Vater aus dem Experiment herausgeholt worden war.

»Super. Es war einfach schrecklich. Ich bin ewig herumgeirrt und schließlich hab ich den Alten tanzend in einer Tiefgarage aufgesammelt!« Torsten lachte über die skurrile Vorstellung.

»Es wird immer schlimmer. Ich mach mir echt Sorgen«, wechselte Paul die Tonlage.

»Er kann sich dann gar nicht mehr zurechtfinden, ohne Hilfe?«

»Wenn ich ihn nicht gefunden hätte, hätte ihn wahrscheinlich irgendwann mal die Polizei aufgegriffen, ausgehungert und verwahrlost.«

»Hast Du auch das Gefühl, dass sich seine Persönlichkeit verändert? Oder gibt es extreme emotionale Schwankungen?«

»Ja, er beschimpft mich manchmal, vollkommen grundlos und sehr verbittert.«

»Und… kann er seine Ausscheidungen noch kontrollieren? Ich meine, ist er inkontinent?« Torsten war es unangenehm, Paul diese intime Frage zu stellen.

»Nein, nicht das ich wüsste…«

»Es könnte sein, dass dein Vater sich grade am Übergang von Stadium 5 zu Stadium 6 befindet. Es gibt da einen guten Überblick über die verschiedenen Stadien der Krankheit von Reisberg, Ferris, Leon, & Crook, im American Journal of Psychiatry. Ich such dir das mal raus, wenn ich darf.« Torsten beugte sich zum Schreibtisch und griff nach der Maus. Dann überflog er die Seite mit den Links, die Paul gerade auf dem Bildschirm hatte, und klickte einen der Links an. »Hier, du hast ihn ja selber schon gefunden. American Journal of Psychiatry von 1982, B. Reisberg, S.H. Ferris, J.J. Leon, & T. Crook. Da findest du alles, was du suchst.« Er legte Paul nochmal die Hand auf die Schulter und drückte sie, um ihm seine Verbundenheit auszudrücken. Dann ging er an seinen Schreibtisch und nahm seine Arbeit auf.

Paul las den Artikel, in dem der allgemeine Krankheitsverlauf bei primären degenerativen Demenzerkrankungen wie Alzheimer in sieben Stadien eingeteilt wurde, mit zunehmendem Interesse. Dieser Artikel machte ihm durch seine nüchterne Aufstellung unmissverständlich klar, was ihn in der Zukunft erwartete.

Im ersten Stadium der Alzheimer-Krankheit gibt es noch keine erkennbaren Verluste von kognitiven Fähigkeiten. Das heißt, logisches Denken, das Denken in Alternativen, Lernfähigkeit sowie Urteils- und Entscheidungsfähigkeit sind noch intakt. Auch bei klinischen Interviews sind noch keine Defizite in der Gedächtnisleistung erkennbar. Trotzdem läuft bereits der tödliche Prozess im Gehirn des Erkrankten, das Sterben der Nervenzellen hat unaufhaltsam begonnen.

Das zweite Stadium ist erreicht, wenn der Betroffene selbst die ersten Gedächtnisstörungen wahrnimmt. Er vergisst die Namen ehemals gut bekannter Personen und hat Schwierigkeiten beim Wiederfinden häuslicher Gegenstände. Ein Umstand, der ihm zunehmend Sorgen macht. Bei klinischen Untersuchungen sind in diesem Anfangsstadium der Krankheit noch keine Veränderungen der Gedächtnisleistung erkennbar.

Mit dem dritten Stadium treten erstmals klar erkennbare Fehlleistungen wie Schwierigkeiten bei der Wort- und Namensfindung sowie beim Erinnern von Gelesenem auf. Der Erkrankte hat außerdem erste Orientierungsschwierigkeiten an unbekannten Orten. Er spürt, dass etwas Bedrohliches mit ihm geschieht, und versucht in seiner Angst, die Defizite zu leugnen.

Im darauf folgenden Stadium kommt es zu weiteren kognitiven Einbußen. Das Wissen über gegenwärtige und kurzzeitig zurückliegende Ereignisse nimmt ab, es treten Gedächtnislücken in der personenbezogenen Vergangenheitsgeschichte auf. Die Fähigkeit, sich alleine örtlich zu orientieren, nimmt ab, komplexe Aufgaben können nicht mehr ausgeführt werden. Oft ist es den Betroffenen aber noch möglich, bekannte Orte aufzusuchen. Auch jetzt verneinen die Kranken ihre Defizite und ziehen sich bei Anforderungen zurück.

Mit dem fünften Stadium beginnt die eigentliche Demenz. Die Betroffenen können nicht länger ohne Hilfe im Alltag zurechtkommen und sind nicht mehr in der Lage Auskunft über aktuelle, wichtige Aspekte ihres Alltagslebens zu geben. Lang bekannte Adressen, Telefonnummern und Namen können nicht mehr genannt werden. Die Erkrankten verlieren den Bezug zur Zeit, wissen oft nicht mehr, welcher Tag ist und um welche Jahreszeit es sich handelt. Der eigene Name und die Namen von Lebenspartner und Kindern werden noch erinnert. Essen und Toilettengänge sind noch ohne Unterstützung möglich.

In Stadium 6 treten schwere kognitive Verluste auf. Gelegentlich wird sogar der Name des Lebenspartners vergessen, von dem das Überleben des Kranken abhängt. Aktuelle Ereignisse und Erfahrungen sind nicht mehr bewusst. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist nur mehr bruchstückhaft. Die Erkrankten sind sich ihrem Umfeld nicht mehr bewusst und brauchen Unterstützung in Dingen des täglichen Lebens. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist häufig gestört und erste Fälle von Inkontinenz sind möglich. Der eigene Name wird ständig wiederholt. Die Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Personen im persönlichen Umfeld ist gelegentlich nicht mehr möglich. Die Persönlichkeit des Betroffenen ändert sich und emotionale Schwankungen treten auf.

Im siebten und letzten Stadium sind die kognitiven Verluste extrem schwer. Alle verbalen Fähigkeiten sind verloren. Mitunter kommt es zum völligen Verlust der Sprache. Die Erkrankten grunzen nur noch. Hilfe beim Essen und bei Toilettengängen ist unerlässlich, Inkontinenz ist an der Tagesordnung. Es kommt zu einem Verlust der psychomotorischen Funktionen, die Kranken können nicht mehr gehen, nicht mehr sitzen und sind nicht in der Lage, ihren Kopf zu halten. Der Geist ist nicht länger in der Lage, dem Körper zu sagen, was er tun soll.

Paul hatte bereits einen Teil dieser Stadien mit seinem Vater zusammen durchlebt. Jetzt hatte er das Gefühl, dass die Krankheit auf eine neue Stufe zusteuerte. Torsten hatte Recht, sein Vater stand am Übergang vom fünften zum sechsten Stadium. Ein Zeichen dafür waren die emotionalen Schwankungen, die er seit kurzem an seinem Vater beobachtete. Vor einer Woche, als er ihm beim Wieder finden seiner elektrischen Zahnbürste geholfen hatte, hatte sein Vater ihn unvermittelt als Betrüger beschimpft und ihm vorgeworfen, dass er ihn ausrauben wolle.

Paul war bestürzt, so beschimpft zu werden, und reagierte im ersten Moment verärgert. Aber nach einigen Stunden war ihm klar, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, und er fing an, sich daran zu gewöhnen, so wie er sich in den zurückliegenden Monaten an vieles gewöhnt hatte.

Er sah seinem Vater zu, wie er hunderte von Malen in sich versunken den tragbaren CD-Player putzte, mit dem er jeden Tag Musik hörte, und versuchte, keinen Schmerz und keinen Groll mehr über dieses Schicksal zu empfinden. Das gelang ihm manchmal für einige Stunden, auch für den einen oder anderen Tag, aber er hatte auch immer wieder Tage, an denen er alles düster sah. Das ging manchmal so weit, dass er Menschen hasste, denen es besser ging oder von denen er zumindest glaubte, dass sie ein einfacheres Schicksal hatten.

Nur wenn er konzentriert arbeitete, konnte er für eine Zeit vergessen. Aber so sehr ihn seine Arbeit auch faszinierte, er merkte, wie auch er sich veränderte, wie er mit der Zeit verbitterte und nicht mehr an das glaubte, was er tat. Dann erschien ihm die Wissenschaft nur als unfähig und voll von persönlichen Eitelkeiten. Diese verdammte Wissenschaft war so eingebildet und hatte es dabei in mehr als 100 Jahren nicht geschafft, diese Krankheit zu heilen.

Es gab nur noch wenige Stunden, in denen er sich frei fühlte. Wenn er im Fels hing, die Sonne auf seinem Rücken spürte und gegen Schwerkraft und Angst kämpfte, war alles vergessen, aufgelöst. Deshalb liebte er das Klettern so stark wie niemals zuvor. Es gab ihm die Energie weiterzumachen und für einige Stunden hatte er das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Für Stunden hatte er wieder Zuversicht.

Spines

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