Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 15
13
ОглавлениеDer Platz war leer bis auf ein paar eilige Passanten, die aus dem neuen Mitnahme-Möbelmarkt strömten. Von seinem Vater keine Spur. Er parkte das Auto und zog einen Parkschein. Vielleicht wartete sein Vater ja im Eingangsbereich des Elektronikmarkts auf ihn. Dort konnte man sich in der Ecke mit den Schließfächern aufhalten ohne Ärger mit dem Verkaufspersonal zu bekommen. Vor drei Wochen hatte er seinen alten Herrn schon einmal dort eingesammelt, aber davon wusste sein Vater sicher nichts mehr, also warum sollte er dort warten. Wahrscheinlich hatte er schon längst wieder vergessen, was sie vor drei Stunden am Telefon ausgemacht hatten. Trotzdem überquerte er den Vorplatz und warf einen Blick in die gläserne Eingangshalle des Markts. Sie war leer, bis auf wenige späte Kunden. Er ging unter dem Protest der Kassiererin in den Markt und marschierte im Eiltempo durch die Gänge. Nichts, bis auf ein paar vereinzelte, aufgescheuchte Kunden und zwei, drei Verkäufer, die sich über sein spätes Eindringen entrüsteten. Er machte kehrt und verließ den Markt unter anhaltenden Schmährufen des Verkaufspersonals.
Wo zum Teufel sollte er noch suchen. Er spürte, wie er langsam anfing, sich zu ärgern.
Frustriert ging er zum Möbelmarkt und warf einen Blick in den Kassenbereich. Erstaunt registrierte er, dass hier noch ungebremstes Einkaufstreiben herrschte. Eine junge Frau an der Kasse lächelte ihn sogar an, als er sich einen Weg in den Verkaufsbereich bahnte. Verwirrt warf er einen Blick auf seine Uhr. Es war fünf vor acht, also fünf Minuten vor Geschäftsschluss. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Situation klärte sich auf, als er das riesige Transparent an der Stirnwand der Halle sah: »Neueröffnung, 14. März, 9:00 bis 20:30«. Er hatte also noch eine halbe Stunde.
Das Angebot im Markt war das gängige. Der Mix aus billigen Möbeln und völlig sinnlosem Kleinzeug war langweilig, wie in all diesen Läden. Trotzdem kauften die Leute mit Hingabe die hässlichsten Dinge: Zierlampen in Tiergestalt, zum Beispiel Nilpferde, die über einen kleinen Aschenbecher im Rücken verfügten.
Nach einem oberflächlichen Blick hatte er genug und strebte, der Menge folgend, zum Ausgang. Als er an einem gläsernen Lift vorbeikam, der in die Tiefgarage fuhr, reihte er sich unter die Wartenden ein. Vielleicht war sein Vater ja in seinem ziellosen Umherstreifen in die Tiefgarage geraten. Letztlich war alles möglich, letztlich konnte er überall nach ihm suchen, er hatte überall die gleiche Chance.
Die Garage war hell erleuchtet und wirkte dadurch wie ein belebter Boulevard in einer unterirdischen Stadt. Zahllose Gruppen von Menschen mit Einkaufswägen und -taschen waren zu ihren Fahrzeugen unterwegs. Die Garage war riesig und das Farbleitsystem für die einzelnen Ebenen und Bereiche kam ihm vollkommen undurchsichtig vor. Er verstand den Code nicht und hatte bald die Orientierung verloren. Entnervt entschloss er sich, einfach den Schildern »Ausfahrt« zu folgen und suchte seinen Weg zwischen den Autos nach draußen.
Plötzlich stockte die Autoschlange auf ihrem Weg an die Oberfläche und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert setzte ein. Er drückte sich an den Fahrzeugen mit ihren wütenden Fahrern vorbei und eilte nach oben. Als er um eine Kurve bog, sah er die Ursache für den Stau: ein Mann in einem eleganten, blauen Mantel beugte sich ins Seitenfenster eines Geländewagens und wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer. Der schien nicht besonders angetan von der Unterhaltung und fuhr einfach weiter. Mit einem Schwung zog der Mann seinen Oberkörper aus dem Autofenster und stellte sich mit einem großen Schritt und weit ausgebreiteten Armen dem nachfolgenden Fahrzeug entgegen. Der Fahrer reagierte empört, hupte, streckte den Kopf aus dem Seitenfenster, schrie etwas Unverständliches und blendete wütend die Scheinwerfer auf. Die Gestalt in der Auffahrt wurde in grelles Licht getaucht. Der weiße Schal, den der Mann lässig über dem offenen Mantel trug, strahlte im Scheinwerferlicht, sein wirres Haar mit weißen und grauen Strähnen bauschte sich über dem Hemdkragen. Paul hatte seinen Vater gefunden.
Der unerwartete Auftritt ließ Paul in seiner Bewegung innehalten. Er stand wie erstarrt da und beobachtete, wie sein Vater das Spiel wiederholte. Ehe der Fahrer Gas geben konnte, lehnte er sich ins Seitenfenster und begann mit dem Fahrer zu reden. Der betätigte den elektrischen Fensterheber und gab Gas. Sein Vater stoppte den nächsten Wagen, als wäre das ganze ein Videospiel, das angefangen hatte, ihm Spaß zu machen.
Paul erwachte aus seiner Erstarrung, rannte die paar Meter zu seinem Vater hoch, legte die Arme um ihn und zog ihn aus der Schusslinie. Die Motoren heulten auf, und die Fahrzeugschlange setzte sich wieder in Bewegung. Hunderte neugierige Blicke starrten durch die spiegelnden Seitenscheiben der vorbeifahrenden Autos auf Paul, der am Rand der Auffahrt auf seinen Vater einredete.
Es dauerte ein paar quälende Minuten, bis sein Vater ihn erkannte und wieder wusste, wer er war. Wie er in das Parkhaus geraten war, konnte er ihm nicht erklären. Er hatte gesucht, den Ausgang gesucht. Und er fantasierte von einem Auto, das er nicht mehr finden konnte. Wahrscheinlich vermengte sein Gehirn ohne jede Abgrenzung die Erinnerungen an frühere Aufenthalte in Parkhäusern mit dem aktuellen Geschehen.
Paul fragte, was mit dem Handy los sei, warum er es ausgeschaltet habe. Aber sein Vater konnte ihm keine Antwort geben. Er begann nur hilflos und immer fahriger, in seinen Taschen zu suchen, aber das Mobiltelefon war verschwunden, wie schon einige vor ihm. Paul hatte in den letzten Monaten mindestens sieben neue Handys besorgt. Mobiltelefone vergessen war eines der größten Talente seines Vaters.
Inzwischen hatte sich die Fahrzeugschlange aufgelöst. Nur noch vereinzelt fuhren Fahrzeuge an ihnen vorbei, als sie langsam zum Ausgang gingen. Paul fühlte, wie sich allmählich eine angenehme Ruhe in ihm einstellte, die sich auf der Fahrt nach Hause immer weiter ausbreitete. Komisch, immer wenn er mit seinem hilflosen Vater zusammen war, fühlte er sich von Stunde zu Stunde mehr geborgen. Ein solches Gefühl der Verbundenheit ihm gegenüber hatte er noch nie zuvor in seinem Leben verspürt. Vielleicht war es gerade die Unmöglichkeit einer komplexen verbalen Kommunikation, die eine solche Nähe möglich machte.
Er schaltete den CD-Player ein und entschied sich für Carmen, eine Oper, von der er wusste, dass sein Vater sie früher sehr geliebt hatte.