Читать книгу Spines - Hermann Scherm - Страница 9

7

Оглавление

Sie hatte Übung im Auslösen des Reflexes. Schon der erste Vorstoß mit dem Finger war ein voller Erfolg. Sie würgte alles ins Klo. 1000 Gramm Putenwiener mit extra scharfem Senf, zwei Tafeln Schokolade, vier Laugenbrötchen, drei Croissants, zwei Packungen Sesamkekse. Sie hatte gleich nach dem Abendessen angefangen zu fressen. Jetzt fühlte sie sich wieder erleichtert. Sie spülte den Mund aus und gurgelte bis tief in den Rachen, um den ekligen Geschmack der Magensäure los zu werden. Dann putzte sie hektisch die Zähne, eilte ins Zimmer zurück und schaffte die Spuren ihres Essanfalls beiseite. Sie wischte auch den letzten Krümel wie besessen vom Tisch, um ja alles zu beseitigen. Dann saß sie erschöpft da und fühlte sich schuldig und elend.

Es war der erste Anfall seit Wochen. Fast hatte sie das Gefühl gehabt, gewonnen zu haben – und dann das. Sie konnte unmöglich aus dem Haus gehen. Vielleicht doch? Sie ging ins Bad zurück und versuchte, sich zu schminken, konnte sich aber nicht konzentrieren und verschmierte den Lippenstift und die Wimperntusche. Entnervt gab sie auf und legte sich ins Bett. Sie hätte niemals ja sagen dürfen zu dieser Verabredung, NEVER, das wusste sie jetzt, dem war sie nicht gewachsen, noch nicht, vielleicht nie.

Damit war die ganze Therapie umsonst, sie hatte es wieder mal ordentlich verkorkst. All die Wochen hier mit gemeinsamem Essen, die Gruppensitzungen, die Therapiegespräche, alles vergeblich. Ob es den anderen Magersüchtigen, Tittenoperierten um sie herum auch so ging, waren sie alle für den Rest ihres Lebens zu dieser Scheiße verdammt? Sie zog sich die Decke über den Kopf und ließ ihre Gedanken laufen.

Das war ihr Scheiß-Leben. Sie trieb einfach dahin, versickerte. Ihre Moleküle lösten sich auf. Sand, ein Hauch von Grün in einer zerklüfteten Steinwüste, in einer Steppe. Ihr Leben lief einfach dahin, versickerte. Seit Monaten war sie in dieser Klinik, ohne weiterzukommen, ohne Veränderung. Sie platzte vor innerer Energie, sie spürte das Brennen in ihrem Körper, ein schmerzhaftes Feuer, aber konnte nichts tun, war unfähig zu handeln, drehte sich im Kreis, nichts drang nach Außen. Die Zeit verging und sie wurde nur älter und fetter.

Klar, da waren die helleren Zeiten, in denen sie durch die naheliegende Stadt zog, durch die Bars, Malatesta und Bodega und Kikki Bar, und nach den Jungs schaute, gern mal auch was älteres drunter, da war sie im gewissen Sinn Sammlerin.

Irgendwie hatte sie da einen Hau weg. Sie sah ab und an gern in die verfallenen Gesichter ihrer älteren Liebhaber, das hatte was, sie liebte es, das zu studieren. Und klar, das waren immer Bewunderer, auch das hatte sie gern. Dieses alte Fleisch rieb sich gern an jungem und war dankbar, wusste es zu schätzen. Aber auch das junge Gemüse war okay, sie war nicht immer wählerisch.

Manchmal hing sie auch etwas länger fest. Da war Simon, zum Beispiel, ein netter Typ eigentlich. Klar, schon im Methusalemalter mit seinen fünfundvierzig, aber dafür hatte er Flair. Nicht zu letzt wegen seiner 200 Quadratmeter Altbauwohnung am Limatufer, die fast leer war, bis auf ein paar handverlesene Bilder.

Vor dem Immendorf stand sie gern mit einem Glas Champagner und erzählte Simon von ihrer rasierten Möse und dass sie nichts drunter hätte. Das Spielchen liebte sie und Simon schätzte es auch.

Simon hatte auch noch andere Werte. Sie hatte nie Langeweile mit ihm. Und wenn, konnte sie sie sofort totschlagen, mit Ausgehen oder Verreisen oder einfach mit massivem Geldeinsatz.

Simon hatte auch Kultur. Sie hatte ihn kennengelernt, weil sie zufällig neben ihm saß, bei einer Othello Inszenierung. Nach dem Theater waren sie durch den vom Regen duftenden Park an der Limat spaziert. Auf der verlassenen Terrasse eines schon geschlossenen Uferrestaurants hatte sie ihn dann gevögelt. Es war einfach zu süß von ihm, dass er eine Flasche Wodka aus einer Kneipe organisiert hatte, um sie in Stimmung zu bringen, das musste belohnt werden. Dass sie einen Gummi dabei hatte und unheimlich geschickt damit umgehen konnte, verwirrte ihn kurz, ein Moment, in dem er sich nicht mehr so sicher war, ob sie wirklich das kleine unschuldige Mädchen war, für das er sie gehalten hatte. Einen Augenblick lang hatte er sogar gedacht, dass sie eine Professionelle sein könnte, wie er ihr später gestanden hatte, der Süße.

Simon brachte sie auch in Kreise, in die sie ohne ihn nie gekommen wäre. Kunstliebhaber und Kunsthändler mit Kohle ohne Ende. Anwesen über der Stadt, in denen man sich ergehen konnte. Dienstpersonal und Flügel und Areale, die unter Mottos eingerichtet waren. »Darf ich sie jetzt zum Espresso in den Surrealisten Flügel bitten? – Aber gern doch.« Sie genoss das, besonders, wenn sie sich von Simon heimlich befingern ließ zwischen all dem Edelgetue und sich dann auf dem Flügel im Musikzimmer ficken ließ. Und nebenbei lernte sie noch mit Messer und Gabel essen, in der richtigen Einsatzreihenfolge sogar. Das hatte was.

Simon verdiente sein Geld mit Kunst, sagte er jedenfalls. Er verschwand manchmal für eine Woche zu irgendwelchen Kunstmessen. Basel war eine wichtige davon. Und dann kam er immer mit etwas Ausgefallenem zurück, das verdammt teuer gewesen war. Meist brachte er ihr dann auch ein Geschenk mit, das auch nicht billig war. Dabei zeigte er Geschmack. Nur einmal überraschte er sie mit einer alten russischen Ikone, die er ihr schenken wollte. Sie lehnte ab, wohin sollte sie das Ding auch hängen. Es war besser in Simons Küche aufgehoben. Sie platzierte es dort persönlich, direkt über der Spülmaschine.

Aber irgendwie musste Simon nicht wirklich arbeiten, er hatte geerbt und würde noch mehr erben, das war klar, eine Impressionisten-Sammlung zum Beispiel, denn seine Eltern hatten eine.

Wenn Simon unterwegs war, war sie manchmal ein kleines bisschen traurig, weil sie an ihn gewöhnt war. Zum Glück hatte er einen Sohn, der eines Abends einfach plötzlich da war, als sie Simon besuchte, und auf einer Matratze in einem der leeren Zimmer übernachtete. Sie hielt sich nicht zurück, als sie mit Simon vögelte, und stellte sich vor, wie der junge Mann nebenan im Dunkeln lag und sie stöhnen und schreien hörte, das gab ihr einen guten Kick.

Mathieu war neunzehn. Wenn er sie ansah, waren ihr zwei Dinge sofort klar: Erstens, er war extrem verwirrt darüber, dass sein Vater mit einer Frau vögelte, die kaum älter war als er. Zweitens, er fand sie attraktiv und hätte sie am liebsten auch sofort gevögelt. Gegen »Erstens« konnte sie nichts tun. Aber bei »Zweitens« konnte sie Abhilfe schaffen, spätestens, wenn Simon wieder auf Geschäftsreise war. Sie freute sich schon darauf, auf diese interessante Konstellation. Manchmal stellte sie sich vor, dass sie Simon heiraten würde und dann Mathieus Mutter wäre, grotesk, aber auch spaßig.

Sie wusste nicht viel von Simon, mehr als von ihren anderen Liebhabern, aber eigentlich auch nichts. Aber noch weniger wusste er von ihr. Sie gab ihre Spuren nicht preis und verwischte sie sorgfältig. Sie tauchte auf aus dem Nichts und verschwand wieder im Nichts, das war die Regel. Simon wusste nicht, wo sie lebte, kannte ihre Telefonnummer nicht und wusste nichts von ihrer Krankheit. Er ahnte, dass es da ein Geheimnis gab, aber er fragte nur einmal danach und dann nie wieder, als sie ihm die Regel unmissverständlich erklärte. Sie verschwand für Tage, manchmal auch Wochen, wenn sie es einfach nicht schaffte, aus dem Haus zu gehen, und tauchte irgendwann wieder auf und knüpfte an wie selbstverständlich.

Was sie ihm erzählte, war gelogen. Sie erfand ein ganzes Leben für Simon. Sie hatte Spaß daran, diesen Faden zu spinnen, ihr Geheimnis. Dass es sie schmerzte, merkte sie im Normalfall nicht, nur in den dunklen Stunden war sie verzweifelt und wusste, dass es wohl keinen Ausweg geben würde. Wenn sie sich ganz schwach fühlte unter dieser dunklen Wolke, stellte sie sich manchmal vor, dass die Lava der Sonne in ihr Gehirn fließen würde und alles darin löschen würde und dass sie dann ihre Geschichte ganz neu schreiben könnte, neu und leicht, wie der Tau auf den Blättern vor ihrem Fenster, ein leichter reiner schwebender Schimmer – pures Glück.

NEVER! Sie hätte nie zusagen dürfen. Sie starrte an die Decke und versuchte in Gedanken, Zentimeter für Zentimeter, auszumessen wie lang und breit diese trübe, weiße Fläche war, bis sie in eine Art bewegungslose Trance fiel.

Spines

Подняться наверх