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Die kleine Fokker 100 war bis auf den letzten Platz ausgebucht. Kaum hatte sie die Kabine betreten, nahm sie einen penetranten Geruch von abgestandenem Schweiß wahr. Sie hätte am liebsten sofort alle Fenster aufgerissen und ein paar Stunden durchgelüftet. Als ihr klar wurde, dass das in einem Flugzeug unmöglich war, dachte sie einen Augenblick daran, wieder auszusteigen und die 77 Euro für das Ticket in die Tonne zu kicken. Aber sie hatte um 11 Uhr einen Termin beim Nachlassgericht in Berlin und sie hatte keine Lust, sich den Heckmeck, den es gekostet hatte, diese »Audienz« zu bekommen, noch mal anzutun. Also schob sie sich das Headset ihres MP3-Players in die Gehörgänge, warf den Sound an und sagte sich: Eine Stunde wirst du schon in diesem Gestank überleben, Millionen andere haben es vor dir auch geschafft.

Als sie sich in ihrem abgeschabten Sitz angeschnallt hatte, ließ der Brechreiz langsam nach, sie hatte sich an den Geruch gewöhnt, obwohl sie ihn immer noch wahrnahm. Vielleicht auch nur noch infolge eines kinesiologischen Effekts, denn der schäbige Eindruck, den die Maschine machte, weckte immer wieder die Assoziation an diesen Ekelgeruch.

Klar, 77 Euro pro Flug, da mussten die Maschinen immer in der Luft sein – immer in der Luft und vollgestopft mit Menschen, da blieb einfach keine Zeit zum Lüften, keine Zeit für das Material, sich zu erholen. Sie stellte sich den unglaublichen Modder vor, der sich in den Filtern der Klimaanlage festgefressen haben musste.

Ob es in der Wohnung ihres Vaters auch so riechen würde? Schließlich stand die Wohnung schon seit Wochen leer. Bald würde sie es wissen, denn der Nachlasspfleger hatte ihr versichert, dass sie den Wohnungsschlüssel gleich mitnehmen könne. Sie fand es extrem interessant, was sie in Berlin erwartetem, und spürte eine angenehme Spannung.

Als der Pilot die Triebwerke startete und die Maschine sich mit einem lauten, metallischen Knacken in Bewegung setzte, das sie trotz ihres Headsets mitkriegte, bekam sie Angst. Würde diese geschundene, stinkende technische Kreatur es überhaupt schaffen, sie heil nach Berlin zu bringen? Zum Aussteigen war es zu spät, sie rollten bereits Richtung Startbahn.

Sie sah sich ihre Mitpassagiere an und versuchte, an deren Gesichtern das Schicksal der nächsten Stunden abzulesen. Waren diese Gesichter die Gesichter von Menschen, die in einer Stunde und fünfzehn Minuten tot sein würden, denn das war die prognostizierte Flugdauer? Sie begann zu zweifeln, denn in den meisten dieser Gesichter lag eine tiefe Trauer.

Nicht auf allen Billigflügen war es so, aber dieser Billigflug hatte zum größten Teil die Verlierer der Gesellschaft angelockt. Vielleicht lag das aber auch am Zielflughafen, den die Maschine ansteuerte. Tempelhof lag in direkter Nachbarschaft von Neukölln, das den Ruf einer asozialen Vorhölle von Berlin hatte. Und die Leute im Flugzeug passten perfekt in ein heruntergekommenes Stadtviertel.

Die Frau neben ihr war dürr ohne Ende und trug einen blassgrauen Business Anzug der billigsten Sorte. Einer, der sogar bei C&A bis zum letzten Schlussverkaufstag auf der Ramschstange hängt. Wahrscheinlich wäre dieser Anzug sogar bei der Altkleidersammlung aussortiert worden.

Die Hautpartien, die der Anzug nicht bedeckte, waren völlig schmucklos und hatten eine ungesunde, rotfleckige Farbe. Wahrscheinlich extremer Vitamin- und Bewegungsmangel oder eine tückische Hautkrankheit. Auch im Gesicht trug die junge Frau keine Spur von Make-up. Die Fingernägel waren auf Länge Null gebracht und wirkten schmuddelig. Sarah überlegte, ob das wohl eine Leidensgenossin an der Bulimiefront sein könnte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dazu war ihre Nebensitzerin einfach zu ungepflegt, das passte nicht.

Die Triebwerke der gequälten Maschine bemühten sich, auf Touren zu kommen und den schrägen Vogel auf Startgeschwindigkeit zu bringen. Erstaunlicherweise schafften sie es. Sarah kriegte die Anstrengungen deutlich mit, denn sie saß voll auf der Tragfläche. In ihrer wachsenden Angst steigerte sie das Tempo ihres Gesichter-Scans. Endlich, da, schräg vor ihr, war ein Gesicht, das den Tod nicht verdient haben konnte. Der junge Mann bemerkte ihre Anspannung und lächelte ihr zu. Sarah atmete durch und lächelte zurück. Gott würde diesen sympathischen jungen Mann nicht bei einem Flugzeugabsturz über den Dächern von Neukölln oder über Ex-Ossi-Land umkommen lassen. Sie lehnte sich einigermaßen beruhigt zurück und schloss die Augen.

Ein paar Kilometer vor Tempelhof packte die kleine Fokker der Landestress. Die Triebwerke rüttelten an den Tragflächen und die Kabine vibrierte. Sarah öffnete die Augen. Ihr Körper wurde zur Rennstrecke für eine Lawine von Stresshormonen. Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, bekam der blassgraue Business Anzug neben ihr plötzlich einen Anfall und biss mit wilder Energie ein Stück von seinem rechten Daumennagel ab. Damit war der Damm gebrochen. Ohne sich um die Passagiere um sich herum zu kümmern, schob die junge Frau sich zwei weitere Finger in den Mund und begann, sich in den Nägeln zu verbeißen. Am liebsten hätte Sarah sich in den Zwischengang gebeugt und gekotzt. An diesen Nägeln gab es doch nun wirklich nichts mehr zum kauen, rein gar nichts mehr. Schon beim Start hatten sie wie vor Wochen abgenagte Knochen gewirkt.

Sarah war erleichtert, als die Fokker gelandet war und sie endlich die etwas frischere Luft der Ankunftshalle des Flughafens atmen konnte. Tempelhof war lange Zeit das größte Gebäude der Welt gewesen, was den insgesamt umbauten Raum anbelangt. Vielleicht stimmte das auch heute noch, trotz der Twin- und Was-weiß-ich-Towers weltweit. Eine mächtige, schwere Architektur ohne richtige Atmosphäre, bedrückend, fand Sarah. Die kleine Fokker passte sehr gut zu dieser Atmo. Das Café am Ende der Rolltreppe wirkte in dem Bau wie ein Fremdkörper, wie Leben, das da nicht hingehört. Das kleine Reisebüro gegenüber war verwaist, die Regale und Vitrinen leergeräumt. Sarah drückte die Nase an die Scheibe, um besser sehen zu können. Da gab es keine Spur von Geschäft mehr, absolut keinen Hauch von verlockender Fremde. »Adio direkt«, stand in gelber Schrift auf grünem Grund über der Eingangstür. Und darunter: »last minute direkt«. Was für ein Name, der würde auch für eine Partnervermittlung oder eine Trennungsagentur passen, dachte Sarah und machte mit ihrem Handy ein Foto von dem Laden.

Draußen regnete es. Sie hatte keine Lust auf öffentlichen Nahverkehr und nahm das erstbeste Taxi. Ein alter Mercedes mit abgewetztem schwarzen Leder und einem Himmel, der von Zigarettenrauch gegerbt war. Der Fahrer war mürrisch. Das Sprechen fiel ihm schwer und jede Bewegung schien ihn eine ungeheuere Kraft zu kosten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihn zu stören, beschloss aber, das einfach zu ignorieren. Alles besser als Little-Fokker-Schweiß, dachte sie und ließ sich in die Polster sinken. Während das regengraue Berlin an ihr vorbeizog, sinnierte sie weiter ziellos vor sich hin: Mit Zigarettenrauch lässt sich viel ekelhafter Geruch zudecken. Leider ist der Einsatz dieser Waffe mehr und mehr verboten.

Nach ein paar Minuten hatte ihr Gehirn das zielgerichtete Denken vollkommen eingestellt. Sie ließ die nassen Fassaden kommentarlos in sich einsickern und fühlte sich zunehmend allein und deprimiert. Als das Taxi vor dem Nachlassgericht stoppte, konnte sie sich nur mit Mühe aus dem Sitz beamen und die paar Meter zum Eingang zurücklegen.

An der Eingangstür zum Büro des Nachlasspflegers klebte ein großes gelbes Smiley. Sarah hasste den Aufkleber auf den ersten Blick und war ganz froh, dass der Nachlasspfleger mindestens genauso schlecht gelaunt war wie sie selbst. Das fand sie irgendwie sympathisch. Sie hätte jetzt keinen gutgelaunten, freundlichen Beamten ertragen können.

Trotz seiner schlechten Laune hatte der Nachlasspfleger aber gute Arbeit geleistet. Ohne jedes persönliche Engagement, aber perfekt. Alles war minutiös aufgelistet. Da sie die einzige lebende Verwandte war, stand ihr das gesamte Erbe zu, auch wenn bis jetzt kein Testament aufgetaucht war.

Sie musste ein paar Formulare unterschreiben – was sie tat, ohne sie richtig zu lesen. Dann bekam sie die Reisetasche mit den wenigen Habseligkeiten ausgehändigt, die ihr Vater bei seinem Tod bei sich getragen hatte, und einen durchsichtigen Plastikbeutel mit einigen Ausweispapieren und Kreditkarten sowie dem Schlüssel zu seiner Wohnung.

»Wenn Sie noch Fragen zur weiteren Abwicklung haben, können Sie mich jederzeit anrufen.« Der Beamte gab ihr seine Visitenkarte. »Ansonsten melde ich mich noch mal bei Ihnen, wenn es Neues gibt.«

Damit war alles gesagt, der Fall erledigt.

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