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10. Kapitel

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Sein Job. Paul sitzt in seiner kleinen Werkstatt im Keller. Seine Frau kümmert sich um die Zwillinge und hat ihm für den Abend frei gegeben, nachdem er von einer wichtigen Arbeit erzählt hat, die am Montag anstehe. Er wolle sich darauf vorbereiten. Für Sansei sind die Belange von Pauls Arbeit immer vorrangig. Wusste sie doch, dass dies ihre Existenz betraf. Finanziell waren ihre Spielräume eng, auch wenn Paul als Staatsbediensteter mehr Geld durch die Erhöhung der Zulage für Kinder ausbezahlt erhielt. Die Steuerklasse ist auch günstiger, leider stiegen aber auch die notwendigen Ausgaben überproportional an. Sie kämen schon zurecht. Später wäre es dann wieder besser. Paul war daher immer auf der Suche nach kleinen Nebenjobs um die Haushaltskasse aufzubessern.

Paul ließ sich bei ihrem Treffen letzte Woche im Gartenlokal von Roger ausführlich erklären, wie er in seiner Firma an eine neue Aufgabe herangehe. Voller Stolz erzählte da Roger vom neuen Superauto, obwohl dies doch top secret sein sollte. Seinem Partner konnte er es ruhig erklären, der verstand meistens eh nur Bahnhof. In diesem Falle irrte sich Roger gewaltig. Die einzelnen Schritte in der Projektarbeit bei einem großen Automobilkonzern unterschieden sich nicht grundsätzlich von dem, was die Grundlage der Arbeit des Unternehmens „The painting men“ sein sollte. Da ist sich Paul vollkommen sicher.

Zu Beginn der Arbeit stand die Erstellung einer Arbeitsskizze im Vordergrund, diese sollte dann auch für Roger Schneider die Grundlage für die weiteren Aktivitäten sein. Pauls Gedanken schossen leicht ins Kraut, doch in diesem Stadium seiner Überlegungen ist eher ein kühler Kopf als ein träumendes Gehirn gefragt. Nun stand seinem Vorhaben nichts mehr im Wege, er hat in Gedanken die einzelnen Schritte schon mehrfach durchgeackert. Bisher fehlte es am richtigen Partner. Aber jetzt. Roger und er, das könnte die ganz große Aktion werden. Das war sein großer Traum, die sogenannte Fachwelt durcheinanderwirbeln das es nur so krachte. Je dreister, desto besser funktionierte sein Plan. Mit Bescheidenheit war nichts zu gewinnen, da brauchte er nicht anzufangen. Wäre schade um die Leinwand, wenn nur ein paar tausend Euro hängen blieben. Nee, nee, nicht mit ihm. Entweder oder, da gab es nun nicht mehr viel zu überlegen. Also ran an den Speck.

In seinem kleinen Atelier im Keller herrscht penible Ordnung. Die große Arbeitsplatte in der Mitte des Raumes wird von Regalen und Schubfächern flankiert. Alles liegt griffbereit an seinen Platz. Der Arbeitstisch ist leergeräumt. Paul lässt sich Zeit, sitzt minutenlang vor der leeren Arbeitsfläche.

Es kribbelt in seinen Händen, eine gewisse Vorstellung hat sich im Kopf bereits herauskristallisiert. Nur nichts übereilen, zuerst ist eine systematischen Eingrenzung des Objektes geboten. Hierfür nutzt er seinen Computer. Mittels einer speziellen Software für Kunsthändler, sichtet Paul die die Auktionskataloge der letzten fünf Jahre. Ihn interessiert vor allem, welche Kunstwerke auf dem Markt gehandelt worden sind. Die Anzahl der in Frage kommenden Auktionshäuser ist begrenzt. Für diese spezielle Kunstrichtung, die er mit einem neuen Werk zu bereichern gedenkt, gibt es wenige aber dafür hochprofessionell arbeitende Anbieter. Zu Beginn seiner Recherche grenzt er das Suchfeld durch entsprechende Filter ein. Auf dem Bildschirm werden nur Positionen ab einem vorgegebenen Schätzpreis oder darüber angezeigt. Dies erleichtert die Arbeit enorm. Minderwertige Massenware wäre reine Zeitverschwendung. Damit hält sich Paul nicht auf.

Mit zwei Fingern haut Paul auf die Tastatur seines Computers. Den Suchbegriff Alte Meister verfeinert er in die Kategorien Altarbilder, Mariendarstellungen und den auch als Vesperbilder bezeichneten Schmerzensdarstellungen, die er unter dem Begriff Pieta zusätzlich eingrenzt. Die Abfrage hat den erwarteten Erfolg. Zahlreiche Ergebnisse spukt das Suchprogramm aus. Er setzt einen neuen Filter. Der Computer liefert umgehend die gewünschten Angaben.

Mit der Software kennt er sich aus. Geeignete Objekte kopiert Paul in eigene Dateien um später genauere Überlegungen anstellen zu können. Aus seiner eigenen kleinen Bibliothek sucht er zur Ergänzung nach geeigneten Fachliteratur. Auch hier hält sich Paul an die ihm eigene Systematik. Er weiß genau, wo er hin greifen muss, um in den Regalen die gewünschten Bilddarstellungen zu finden. Die aufgeschlagenen Kunstdrucke drapiert er nach Themen geordnet in eigens dafür vorgesehene Bereiche des Tisches. Eine besondere Spezies stellen die Altarbilder des Mittelalters dar, die als Triptychon von der Fachwelt bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um ein großes Hauptgemälde sowie auf Seitenflügeln angebrachte weitere Darstellungen. Die Konstruktion ist so gewählt, dass die Flügel zusammengeklappt werden konnten, um bei besonderen Anlässen das Hauptgemälde zu verhüllen. Dies wurde früher in der Karwoche vor Ostern bei Altarbildern, die das Thema der Kreuzigung Jesu darstellten, vollzogen. Durch die Verhüllung des Kreuzes auf den sollten die Gläubigen auf den Leidensweg Christi eingestimmt werden.

Bekannt sind groß dimensionierte Altarbilder, auf deren Flügeln die Leidensgeschichte abgebildet ist. Ein vollständig erhaltenes Flügelbild kam nur selten bei Auktionen zum Aufruf. Meist werden solche Objekte quasi unter der Hand von Verkäufern Museen offeriert, die sich auf christliche Kunst spezialisiert haben. Leider forderten die Wirren der Jahrhunderte hier ihren Tribut, da oft nur Fragmente der Nachwelt erhalten blieben.

Aber gerade dieser Umstand ist es, der die Sache besonders interessant für Paul macht. Das ist die Schwachstelle und die Seltenheit eines solchen Angebotes verspricht das große Geld. Insofern stellte ein Triptychon eine echte Herausforderung dar. Paul spielt mit dem Gedanken, gerade hier anzusetzen. Schnell ist er sicher, gerade das muss es sein. Es reizt ihn etwas schier Unmögliches zu versuchen.

Aus künstlerischer Sicht bedeutet die Umsetzung seiner Idee keine größere Anforderung als ein übliches Altarbild. Vielleicht für sein Vorhaben sogar vorteilhafter. Die Größe des Bildes und die dargestellte Szenerie sollten, für den heutigen Betrachter, alle Attribute eines privaten Auftraggebers aus der Entstehungszeit des Werkes aufweisen. Genau das war sein Ansatz, es durfte nicht zu protzig wirken, sondern eher im schlichten, intimen Raum seinen besonderen Reiz entfalten. Wenn es ihm gelang die verschlossene, hintergründige Botschaft des Bildes dem Betrachter vor Augen zu führen, dann wäre das gewählte kleinere Bildmaß überzeugend, ja folgerichtig. Die Proportionen müssen stimmen, keine Frage. Der goldene Schnitt dem Auge des Betrachters Ruhe geben.

Im Mittelalter waren Kirchen und Adelshäuser die Auftraggeber solcher Kunstwerke, doch reiche Kaufleute und Handelsherren, die etwas Besonderes ihr eigen nennen wollten, verfügten durchaus über die finanziellen Mittel, um anerkannte Künstler zu beauftragen. Das ist einer der Ansatzpunkte auf der sich langsam mit Stichworten füllenden Projektliste. Paul vergisst die Zeit, schon über zwei Stunden sitzt er am Computer und trägt Stichpunkte zusammen. Er ist elektrisiert von seiner Aufgabe.

Das Triptychon ist schon mehr als nur eine fixe Idee. Immer wenn Paul intensiv nachdenkt begibt er sich auf eine gedankliche Wanderschaft. Auch deshalb ist sein Werkstatttisch von allen Seiten zugänglich. Die entscheidende Frage nach dem eigentlichen Inhalt der Darstellung seines Bildes würde noch Stunden intensiven Nachdenkens beanspruchen.

Im zentralen Mittelpunkt des Altarbildes positioniert er die Kreuzabnahme Christi. Die dargestellten Personen wird Paul leicht abgewandt im Profil zeigen, so als seien sie auf dem Rückweg von der Stätte Golgatha. Neben der Gottesmutter Maria könnten zwei höchstens drei Männer, Jünger oder vielleicht auch nur Helfer, das wusste er noch nicht, ausharren. Als weitere Hinzufügung wäre eine verhüllte Frau, in Trauer gefangen, in Tränen aufgelöst, denkbar. Diese unbekannte Person umgab ein dunkles Geheimnis. Um wen handelte es sich hierbei? Ein sich nicht selbsterklärendes Rätsel. Der Betrachter wird zum Nachdenken animiert. Das Bild erhielte durch diesen Kunstgriff eine ungeheure Spannung und Dynamik.

Für die Konzeption der Seitentafeln brauchte Paul weniger Gedanken, da würde er die Stifter vor dem Hintergrund von fantasievollen Landschaften verewigen. Das war einfach, nichts besonderes, da hier auf eine historisch korrekte Darstellung oder Benennung der Personen verzichtet werden konnte. Die beiden Rückseiten der Flügel des Altarbildes wollte Paul bewusst nicht bemalen. Hier blieb die Leinwand ohne Farbe. Damit wollte er unterstreichen, dass sein Triptychon ursprünglich nicht als solches konzipiert gewesen sei, sondern lediglich, im Falle das Kunstwerk auf Reisen mitgeführt wurde, zugeklappt und vor möglichen Beschädigungen geschützt sein sollte.

Nachdem er sich in Grundzügen festgelegt hatte, beschäftigte sich Paul damit, welches Material er für die Umsetzung benötigen würde. Ein Weiterverkauf wäre überhaupt nur dann erfolgversprechend, wenn er es schaffen könnte, einen Fachmann von der Echtheit des vorgelegten Werkes zu überzeugen. Einfacher gesagt als getan. Nicht mehr und nicht weniger, das war sein Job.

Neben dem eigentlichen Kunstwerk ist aber eine weitere Fragestellung von entscheidender Bedeutung um den Wert eines Werkes zu beeinflussen. Die Provenienz, also die Herkunft und die Geschichte eines Bildes. Der Fantasie sind hier enge Grenzen gesetzt. Alles muss im geschichtlichen Kontext stimmig sein. Die entscheidende Frage, wer das Gemälde, wann und wo gemalt hat, musste im Dunkel der Vergangenheit bleiben. Keine nachprüfbare Fakten dürften zu Diskussionen in der Fachwelt Anlass geben, denn sonst wäre der Erfolg des gesamten Unternehmens gefährdet. Glücklicherweise sind die historischen Überlieferungen hier recht spärlich, was ihrem Tun nutzte, da kannte sich Paul aus.

Sein Kompagnon Roger Schneider würde später mit der Ausarbeitung einer Strategie zur Vermarktung beginnen. Grundlage wird hierbei die von Paul ausgearbeitete Liste mit den Hintergrundinformationen sein. So wurde die Sache rund. Das ist aber noch Zukunftsmusik, erst die Pflicht und dann die Kür. Da muss er sich in den nächsten Wochen richtig reinhängen, sonst wird das nichts. Paul ist nach diesem Abend in seinem Keller guter Dinge.

In der Stille des Hauses ist das Plopp als Paul den Korken aus der Rotweinflasche hebelt, deutlich hörbar. Er ist allein, alle anderen Familienmitglieder schlafen schon. Jetzt ein Gläschen zum Abschluss der Arbeit wird ihm guttun. Er liebt es, spätabends allein in der Wohnung herumzugeistern, den Tag zu überdenken. Das gefüllte Glas hält er in der Hand. Die Rotweinflasche stellt er vorsichtig auf den Glastisch, darauf achtend keine Spuren zu hinterlassen. Das kann seine Frau Sansei nicht leiden, da ist ein Donnerwetter fällig und der Haussegen hängt schief. Also achtet er schon im eigenen Interesse darauf keine verräterischen Spuren seines nächtlichen Rotweingenusses zu hinterlassen.

Mit leicht kreisenden Bewegungen schwenkt er den Rotwein genießerisch in seinem Glas. Paul zieht den Duft des Spätburgunders in die Nase, schließt die Augen und spürt in seiner Vorfreude den Nuancen des zu erwartenden Geschmackserlebnisses nach. Den ersten Schluck Wein, behält er andächtig im Mund, um den Geschmack in seiner ganzen Fülle auszukosten. Das hat er sich heute verdient. Nach diesem Ritual der Sinnlichkeit lümmelt er sich auf das Ledersofa. Die Verspannung im Nacken löst sich wieder nachdem er seinen Kopf kreisen lässt. Der Gedanke an ein halb gefülltes Weinglas schleicht sich in seinen Sinn.

Als Restaurator ist ihm erlaubt und diese Möglichkeit hat er sich nicht entgehen lassen, nicht mehr zu verwendende alte Leinwände mit nach Hause zu nehmen. Was an seinem Arbeitsplatz bei der Staatlichen Gemäldesammlung nicht mehr benötigt wird landet ansonsten im Müllcontainer. Beim Restaurieren griff er oft auf alte Originalfarben zurück. Es war mühsam, eher eine Marotte von ihm, solche Farbpigmente von den wertlos gewordenen Beständen aus dem Fundus im Kellergeschoss zu extrahieren. Zwar gab es unzählige Fachaufsätze über die Zusammensetzung der im Mittelalter benutzten Farben und deren Herstellung. Doch Paul hatte den Tick bei seiner Arbeit der ursprünglichen Bildvorlage möglichst nahezukommen. Um einen gewünschten Farbton exakt bestimmen zu können, suchte er in den Lagerbeständen nach geeignetem Anschauungsmaterial.

Es war üblich auf den überreichen Bestand im Fundus der Staatlichen Sammlung, bei Bedarf auf kunsthistorisch unbedeutende Werke zurück zu greifen. Es gab jede Menge Objekte, bei denen sich eine Restaurierung nicht lohnte, die aber aus alter Zeit stammten. Diese Bilder dienten ihm als Ersatzteillager. In mühevoller Kleinarbeit mussten die verschiedenen Farbschichten von der Leinwand abgekratzt und konserviert werden. Paul konnte stundenlang dieser trübsinnigen Beschäftigung nachgehen. Die Anerkennung seiner Leistung blieb Paul von seinen Vorgesetzten hierfür aber versagt. Das ärgerte ihn gewaltig, da fühlte er sich missverstanden in seinem Bemühen der detailgetreuen Restaurierung von alten Kunstwerken. Auch bei seinen Kollegen galt er in dieser Beziehung als Spinner. Allzu oft hatte er schon zu hören bekommen, merkt doch eh keiner, ob die letzte Farbschicht auf einem Marienbild alt oder nicht ganz so alt ist, es muss nur schön aussehen und basta! Sollten sie ihm doch den Buckel runterrutschen und denken was sie wollten, für ihn war dies eine Frage der Berufsehre.

Im Keller seines Hauses trug Paul, wie ein Hamster, zielstrebig sein ansehnliches Materiallager zusammen. Neben Farben, die das ganze Spektrum der historisch verwendeten Nuancen abdeckten, hat er auch eine Menge historischer Leinwände nach Hause geschleppt. Er würde als Hobbymaler zur Entspannung gerne sein Talent ausprobieren, so hat er die Fragen seiner Kollegen beantwortet. Diese hatten meist den Kopf geschüttelt und ihn, wenn auch schmunzelnd, auf den Arm genommen, und wenn er eine nackte von Farbresten verunstaltete Leinwand zum Transport verpackte, foppten sie ihn:“reicht dir unser viel gerühmtes Kunstangebot hier nicht? Musst du zu all dem Sch… noch eigene Werke zur Erbauung der Menschheit hinzufügen? Da wüsste ich aber was Besseres um meinen Feierabend zu genießen.“

Daraus machte er sich nichts, sollten sie ruhig glauben er sei ein Eigenbrötler, eine Macke haben sie doch alle, würden sie sonst die Werke längst vergessener Künstler aufpolieren und der Nachwelt erhalten?

Es ist an diesem Samstagabend spät geworden. Eigentlich schon Sonntag. Paul legt seine Aufzeichnungen beiseite. Reibt sich die müde gewordenen Augen. Morgen, äh heute, will er noch einmal kritisch die einzelnen Punkte auf der Agenda durchsehen. Diese marschiert dann als Email mit Anhang, so wie besprochen, an Roger nach Ingolstadt. Paul sichert das Ergebnis seiner Überlegungen des ganzen Abends auf der Festplatte und zusätzlich auf einem externen Datenspeicher. Erst dann ist er beruhigt, das nichts verlorengeht. Dann schaltet er den Computer aus, klappt den Laptop zu. Ein letzter Schluck Rotwein und ab in die Heia. Die Falsche ist leer, in seinen Gedanken hat er nicht mitbekommen, dass er den Spätburgunder in sich rein gekippt hat. An den den Geschmack des Weines kann er sich schon nicht mehr erinnern. Gefangen ist er in seinen Gedanken hat er an diesem Abend für nichts anderes mehr einen Blick.


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