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1. Kapitel

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Der Anfang vom Ende

Cesare Monti ist durch und durch Italiener. Mit seinen zweiundsechzig Lebensjahren verkörpert der kleine, etwas zur Dickleibigkeit neigende Signore den Typ des gepflegten biederen Geschäftsmannes, so wie er vielfach in den Metropolen Norditaliens anzutreffen ist. Das vom Vater aufgebaute Modegeschäft mit der Spezialisierung auf maßgeschneiderte Herrenanzüge besteht bereits seit 1919 und wird von Monti mit Stolz und Sachverstand in zweiter Generation geführt.

Hier im Laden ist er stets der korrekte und auf Grund seiner Ausbildung und langjährigen Berufserfahrung geschätzte Modeschneider, der sein Handwerk zunächst beim Vater und später in der Werkstatt des damaligen Familienpatriarchen Luigi Calveranto, einem Onkel mütterlicherseits, von der Pike auf gelernt hat. Es ist für ihn rückblickend betrachtet nicht immer leicht gewesen, den hohen handwerklichen Ansprüchen der Kundschaft gerecht zu werden. Er selbst neigt zur Perfektion und ist gewillt, stets eine ordentliche und makellose Arbeit abzuliefern. Doch dies genügte nicht immer. Da er nicht das einzige Modeatelier in Mailand ist, muss er um seine Kunden so, wie jeder andere seiner Konkurrenten, kämpfen und durch Leistung und Zuverlässigkeit überzeugen.

Schon sein Vater pflegte immer den Spruch, wonach Lehrjahre beileibe keine Herrenjahre seien, bei jeder passenden Gelegenheit von sich zu geben. Diskussionen über die Ausführung von Aufträgen und seien es noch so kleine Änderungen oder Ausbesserungen an getragenen Kleidungsstücken gab es in der kleinen Schneiderei seiner Jugendjahre niemals. Es herrschte ein streng hierarchisch gegliedertes Regiment des Patrons vom Altgesellen bis runter zum kleinsten Lehrjungen. Da gab es keine Ausnahmen, für ihn als Mitglied der Familie schon gar nicht. Der Kunde bestellt, hat Recht und bezahlt, so einfach war das System. Dies hatte Bestand und damit basta - Ende der Debatte. Die markanten väterlichen Aussprüche, hatten sich durch immerwährende Wiederholungen in das Gehirn von Cesare eingebrannt. Wenn auch nicht ständig auf seinen Lippen, waren sie doch zumindest auch in seinem Geiste.

Seit seiner Ausbildung im elterlichen Betrieb hat sich viel verändert. Damals war es für ihn als Sohn des Ladenbesitzers in der Anfangszeit nicht einfach, sich gegen die alten Schneidergesellen und deren Vorurteilen gegen das Jüngelchen vom Chef durchzusetzen. Da genügte es nicht, sich mit Pfiffigkeit und einem schnellen Mundwerk zu behaupten. Nur das Handwerk und dessen tadellose meisterliche Ausführung gaben am Ende den Ausschlag über Erfolg und Anerkennung im Leben, davon ist Cesare Monti immer überzeugt gewesen und nach dieser Maxime hat er sein ganzes Handeln und Streben bis heute ausgerichtet. Er ist erfolgreich und bei seinen Konkurrenten, die größtenteils auch gute Bekannte, wenn nicht gar Freunde sind, im Laufe der vielen Jahre seiner Berufstätigkeit inzwischen anerkannt und geachtet.

Im Grunde hat Cesare zwei Handwerke erlernt. Neben seinem Geschäft im Zentrum von Mailand ist er in Fachkreisen ein gesuchter Ansprechpartner für spezielle Aufträge, deren Ausführung er in ebensolcher Perfektion wie seine Hauptbeschäftigung erledigte. Gewiss, es hat einfach seinen Preis, bei ihm einen Anzug ebenso wie seine besondere Dienstleistung zu bestellen.

Das Ladenlokal in einer der kleinen Nebenstraßen nahe dem Hauptplatz und dem imposanten Mailänder Dom zeigte gediegene aus dem vergangenen Jahrhundert gerettete Einrichtungsgegenstände, die dem flüchtigen Blick eines vorüber hastenden Passanten eher unscheinbar vorkamen. Ein Kenner jedoch sieht sofort, um welche qualitätsvollen Waren es sich in der Auslage der beiden Schaufenster handelte. Nicht erst der Blick auf die kleinen Preisauszeichnungen, die sofern sie überhaupt zu sehen waren, macht deutlich, dass hier Männer von Welt ihre Anzüge anfertigen lassen. Oft diente der hohe Preis der Waren aber auch allein dem Zweck, die Laufkundschaft aus dem Laden fern zu halten.

Das Modeatelier Monti & Monti bediente eine über Jahrzehnte gewachsene Stammkundschaft, die sowohl die Qualität als auch das Ambiente des Geschäftes zu schätzen weiß. Gut betuchte Kunden werden aber nicht davon abgehalten, sich hier neu einzukleiden, - natürlich sofern sie über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Für Cesare Monti ist es kein Bruch mit der Tradition und seiner Geschäftsauffassung, wenn ein Kunde von außerhalb in seinen Laden kommt und mit dem Kauf eines teuren Anzuges für Umsatz sorgte. Das Geschäft hat immer Vorrang, das war ein Prinzip seines Handelns.

Sofern es sich um besagte Stammkunden handelte, ist Cesare Monti, persönlich bei den Verkaufsgesprächen anwesend. In seinem Laden ist es nicht üblich, schnell einen Anzug oder ein schickes Jackett sozusagen direkt von der Stange anzuprobieren und am besten das neuerworbene Kleidungsstück gleich anzubehalten. Nein, hier ist das Gespräch über Wunsch und Anlass hinsichtlich des zu erteilenden Auftrages ein wichtiger Bestandteil des Geschäftsbesuches. Als besondere Ehre gilt es hingegen, in den Genuss einer durchgängigen Beratung durch den Firmenpatron Cesare Monti zu gelangen. Dieses Privileg ist nur besonderen Stammkunden vorbehalten.

Ausnahmen von dieser Regel macht er bei Freunden aus der näheren Umgebung des Wohnviertels, die Cesare schon seit Übernahme des Geschäftes kennt und die ihm von Anfang an die Treue gehalten haben. Denn seine Wurzeln und seine Herkunft hat Cesare in all den Jahren niemals verleugnet. In der schweren Zeit nach dem Krieg ist er um jeden Kunden froh gewesen. Damals war sein Geschäft noch nicht so bekannt und er hielt sich oft mit kleinen Aufträgen über Wasser. Nur so konnte er seine Familie damals ernähren. Cesare war sich für keine Arbeit zu schade, wenn sie nur ein paar Lire einbrachte.

Bei einer dieser Gelegenheiten hat er auch andere Geschäftspartner kennengelernt, die ihm eine zweite im Verborgenen ausgeübte Tätigkeit anboten. Aber auch hier hat er sich zunächst bescheiden müssen und klein angefangen, um das Vertrauen seiner Auftraggeber zu gewinnen, bevor er zu dem aufgestiegen ist, was er heute in diesem Metier darstellt.

Für die Betreuung der Kundschaft sind die angestellten Mitarbeiter des Hauses verantwortlich. Und das Herzstück des Unternehmens ist seit je her der Bereich der Fabrikation. Der Anspruch des Hauses ist eben sehr hoch und alle Mitglieder der Firma sehen es als besondere Ehre an, hier arbeiten zu dürfen. Stolz, nicht Überheblichkeit, drückte sich im Zusammenwirken aller Mitarbeiter zu einem Ganzen aus, wobei die strenge Aufteilung der Machtbefugnisse mit einer klaren Aufgabenzuordnung einhergeht. Jeder Mitarbeiter kennt seine Aufgabe und ist sich seiner Grenzen jederzeit bewusst. Infrage gestellt wurde dieses Prinzip der Herrenausstatter Monti & Monti, gegründet im Jahre 1919 mit Firmensitz in Mailand, niemals. Über allem steht das Wort des Patrons Cesare Monti. Dieser erwartete vollen Einsatz seiner Arbeiter und sieht sich im Gegenzug für deren Wohlergehen in besonderem Maße verantwortlich.

Nach einer arbeitsreichen Woche ist für Cesare der Sonntag ein ganz besonderer Tag. In der gepflegten und großzügig möblierten Etagenwohnung, direkt über seinem Ladenlokal, scheint sich trotz der weit geöffneten Fenster kein Luftzug zu bewegen. Es gibt nicht die erhoffte Abkühlung in den frühen Morgenstunden. Schon beim Kirchgang, der unbedingt zu einem Sonntag gehörte, machte ihm die warme, ja schon fast heiße Temperatur zu schaffen. Dabei ist es erst 10 Uhr und noch einiges an diesem Tag zu erwarten.

Nach dem Ende des Gottesdienstes halten sich die Freunde und Bekannte nicht so wie sonst üblich nach der Messe auf dem großen Vorplatz ein wenig zum Plaudern und Schwadronieren auf. Schnell suchen alle das Weite und der Kirchplatz ist im Nu verwaist und leer. Cesare suchte mit seiner Frau die noch im Schatten liegende Straßenseite auf und machte sich auf den Heimweg, um zu seinem vermeintlich kühlen Haus zu gelangen. Wohl dem, der eine Wohnung sein Eigen nennen kann, bei der die dicken Wände für Kühlung sorgten. Doch nun Mitte August ist auch dieser Schutz schon längst aufgebraucht.

Genau so ist es an diesem heutigen Sonntag. Als das Ehepaar, Serafina und Cesare Monti, die Wohnungstür öffnet, strömte ihnen nach ihrem kurzen Fußweg ein Schwall warmer Luft entgegen. Cesare ist die körperliche Anstrengung nicht gewohnt, normalerweise pflegte er im dunklen Zweireiher mit Weste in die Kirche Santa Maddalena mit seiner Frau zur Messe zu gehen. Doch heute ist der helle leichte Sommeranzug schon fast zu viel. Zu seinem Standesbewusstsein gehörte es freilich, ordentlich gekleidet in die Kirche zu gehen. Von diesem Prinzip weicht er niemals ab. Hitze hin, Hitze her, da gibt es keine Ausnahme.

Als sie nach dem anstrengenden Hochamt aus der Kirche Santa Maddalena zurück in ihre Wohnung kommen und sich Cesare durch die Lockerung seiner Krawatte Luft verschaffte, hörte er auf dem Flur schon die Streitereien seiner beiden Kinder. Gerade dafür hat er heute keinen Nerv und als dann Serafina die Tochter auch noch zur Mithilfe in der Küche verdonnerte, da hängt der Haussegen schon bedenklich schief. Die aus der Küche bruchstückhaft zu hörenden Halbsätze beziehen sich, wie kann es denn auch anders sein, auf das bevorstehende Mittagessen.

Cesare will es sich gerade in seinem angestammten Lieblingssessel gemütlich machen, als die Tür zu seinem kleinen Herrensalon mit einem energischen Herunterdrücken der Türklinke geöffnet wird. "Cesare, ich werde in diesem Haushalt noch verrückt", eröffnete seine Frau das einseitige Gespräch. "Unsere Köchin ist nun wirklich zu alt und hört nicht auf das, was ich ihr auftrage. Du musst ihr unbedingt ins Gewissen reden." Cesare versteht die ganze Aufregung nicht und ist sich nicht einmal sicher, um was es sich bei dem ganzen Gezerre eigentlich handelte. In Gedanken ist er mit anderen Dingen beschäftigt. Abwesend gibt er seiner Frau Recht.

Nachdem er wieder allein in seinem Zimmer ist, grübelte er weiter. Als Herr des Hauses, auch wenn ihn seine Kinder sicher nicht als unumstößliche Autorität ansehen, machte er sich ernsthafte Gedanken über die Zukunft im Allgemeinen und auch im Besonderen. Gesundheitlich ist er nicht ganz auf der Höhe. Viel lieber, als einen Arzt aufzusuchen, horcht er in sich hinein und stellte wenig plausible Diagnosen für sich selbst. Sicher ist sein Unwohlsein nur vorübergehend und vor allem auf die Wetterkapriolen zurückzuführen. Wenn die Hitzewelle in ein paar Tagen vorbei ist, ginge es ihm ja wieder besser. Also kein Grund zur Besorgnis.

Cesares Gedanken kreisen immer wieder um ein Kernthema. Sicher wirtschaftlich geht es ihnen allen gut; finanzielle Sorgen haben sie nicht. Und die allgemeine politische Lage, die Staatsmisere ist bedrückend, aber das ist ja nichts Neues. Cesare gefiel sich, wenn er so vor sich hin politischen Unsinn verzapfte. Echte Sorgen machte er sich aber doch um die Firma. Hier treibt ihn die Frage der Nachfolgeregelung um. Aus seinen beiden Kindern ist er noch nicht so recht schlau geworden. Sein Sohn Alessandro studierte seit Jahren und ist doch von einem Abschluss in Betriebswirtschaft weiter entfernt denn je. Carmen hingegen, seine Tochter, ist da schon aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie steht kurz vor ihrem Examen auf der Dolmetscherschule und spricht heute vier Sprachen fließend. Sie weiß, vorauf es im Leben ankommt. Aber seine Tochter als mögliche Nachfolgerin findet Cesare dann doch etwas zu gewagt. Er schmunzelte verschmitzt, als er sich vorstellte, dass einer seiner Stammkunden in Unterhosen auf spindeldürren Beinen beim Anmessen eines neuen Anzuges vor seiner Tochter steht. Bei seinen beiden Kindern hatte er diese heikle Frage noch nicht zur Sprache gebracht. Im Grunde hat er auch noch etwas Zeit. Abtreten will er ja noch lange nicht.

So ist Cesare intensiv mit sich selbst beschäftigt, als sich leise nach einem kaum hörbaren Anklopfen die Tür einen Spalt öffnete und Carmen Einlass begehrte. „Papa, in fünf Minuten gibt es Mittagessen.“ "Entschuldige Carmen, ich bin total in Gedanken vertieft, was hast du gesagt?“ Carmen nutzte die Gelegenheit, um den Vater auf ein für sie wichtiges Thema anzusprechen. „Papa, du weißt doch in der nächsten Woche steht die letzte mündliche Prüfung bei mir an. Das Examen habe ich schon so gut wie sicher in der Tasche. Aber zur Diplomfeier habe ich nichts Hübsches anzuziehen. Nichts passt mir mehr, aus allem bin ich herausgewachsen, ich sehe so schrecklich aus! Am besten gehe ich gar nicht zur Abschlussfeier, da blamiere ich mich nur. Ich bleibe einfach daheim.“ Das dabei zur Schau getragene kindliche Schmollgesicht verfehlte keineswegs seine Wirkung beim Herrn Papa.

Als Cesare sie nun ansieht, wird Carmen rot im Gesicht. Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie gerade einen taktischen Fehler begangen hatte. Einem Schneidermeister mit dem Argument zu kommen, kein Kleid passe mehr, das war wirklich unklug. Cesare ist zwar Herrenausstatter, aber den Blick auf weibliche Formen hat er nicht verlernt. Vater und Tochter sehen sich in die Augen und müssen, ob der komischen Situation, lachen.

"Carmen, du weißt ich bin stolz auf dich und freue mich für dich, dass du den Studienabschluss in Kürze hast. Eine Belohnung steht da natürlich für mich außer Frage. Gleich morgen telefoniere ich mit Bertone, du weißt schon, der vom großen Kaufhaus an der Plazza de Medici, bei dem habe ich noch etwas gut."

Dies ist nicht unbedingt im Sinne von Carmen, aber da sie nicht auf den Mund gefallen ist, sagte sie forsch zu ihrem Vater: "Ich habe schon etwas Passendes in einer kleinen Boutique ganz in der Nähe gefunden. Ich lass dir einfach die Rechnung zuschicken. Das wäre doch am einfachsten.“ Schnell ist Carmen an der Tür und im Hinausgehen erinnert sie sich noch an den eigentlichen Grund ihres Kurzbesuches. "Papa, das Mittagessen steht auf dem Tisch, kommst du?"

Die beiden Termine am nächsten Tag machen ihm keine großen Sorgen, doch gehen sie ihm auch nicht aus dem Kopf. Das Mittagessen mit seinem Bruder ist sicherlich wieder so langweilig wie immer. Der zweite Termin ist telefonisch vom Privatsekretär seines alten Freundes und Geschäftspartners Emilio Sargese avisiert worden. Hier ist Cesare über den möglichen Grund des Treffens irritiert und verunsichert. Bisher war er immer zu Emilio in dessen Kanzlei gebeten worden. Warum es dieses Mal anders sein sollte, kann sich Cesare zunächst nicht erklären. Er ist beunruhigt und versuchte sich, einen Reim darauf zu machen.


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