Читать книгу Teures Lehrgeld - Hermann Schunder - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеLange betrachtet er den Briefumschlag. Unschlüssig hält er ihn in der Hand. Warum hat er ihn eigentlich nicht gleich weggeworfen? Auf den ersten Blick sieht das beige Kuvert aus, als sei es ein Liebesbrief. Als Absender steht da lediglich der Name: „Gabi“ und sonst nichts. Jan-Gustav drehte die Briefhülle wieder um und starrte auf das Schriftbild der Adresse. Langsam wird ihm bewusst, was ihm an diesem Brief gefällt. Es ist das Gesamtbild. Die Handschrift von Gabi ist geschwungen und schnörkelhaft. Der Poststempel mit einer Werbebotschaft für das bevorstehende Oktoberfest in München prägte das Bild. Es handelte sich um eine Einladung zum ersten Klassentreffen, nachdem das Abitur nunmehr zehn Jahre zurückliegt. In Gedanken rechnete Jan-Gustav nach. Es stimmte, lange her. Dunkel erinnerte er sich daran, wer die Briefschreiberin sein könnte. Aber so genau kann er Gabi nicht mehr zuordnen. Er hat kein Bild vor Augen, zu lange her.
Die Einladung ist im eigentlichen Sinne kein richtiger Brief, vielmehr handelte es sich um eine fotokopierte Einladung zum Treffen in einer Gastwirtschaft mit Hinterzimmer irgendwo in einem Stadtteil von München. Ob er hingehen soll? Bis zum Termin hat es ja noch etwas Zeit. Vielleicht wird es lustig, die alten Kumpels mal wieder zu sehen. Vielleicht ist es aber auch nur eine versponnene Idee um an die guten alten Zeiten zu denken. Jan-Gustav legte das Einladungsschreiben zur Seite und widmete sich seinen beruflichen Aufgaben. Nach seinem Studium als Kunsthistoriker ist Jan-Gustav in das elterliche Auktionshaus als Juniorpartner eingetreten. Er ist zwar nicht der Erstgeborene, hat aber seinen eigenen Arbeitsbereich und kann sich seiner Vorliebe, der Kunst des Mittelalters, ungehindert widmen. Er lebt für die Kunst. Es ist ihm aber auch klar, dass er immer in der Rolle des stillen Teilhabers bleiben wird, auch wenn seine Eltern einmal die Geschäftsleitung abgeben. Sein Bruder Johannes-Gabriel ist unbestritten der bessere Mann für das Geschäft. Letzteres ist hierbei sogar wörtlich zu verstehen.
Im Gegensatz zu ihm ist sein älterer Bruder nicht nur, was den möglichen Profit ausmachte, ein ausgebuffter Kaufmann, er verfügte auch über ein spezielles Gespür in der Beurteilung von Bildern und anderen Kunstgegenständen. Johannes-Gabriel sieht schon im Moment des Erstgespräches die Chancen für die spätere Verwertung eines Kunstobjektes. Die Eltern sind stolz auf ihren erstgeborenen Sohn. In ihm aber sehen sie eher einen nützlichen Idioten, der für vieles zu gebrauchen war. Die wirklich großen Auktionserfolge laufen aber in Regie seiner Mutter und eben unter Mithilfe von Johannes-Gabriel über die Bühne.
Meinem Vater geht es vergleichbar ähnlich wie mir, denkt Jan-Gustav für sich. Sein größter Erfolg im Leben war sicher die Eroberung der Mutter und vor allem, dass es die geborene Freifrau von Waldershof es so lange bei ihm ausgehalten hat. Mein Vater ist heute einer der ersten Männer in München, und das erzählte er mit dem Stolz desjenigen, der den Namen seiner Ehefrau bei der Hochzeit angenommen hat. Schwer ist ihm dies nicht gefallen, da ja ein gut florierendes Kunsthaus hinter all dem steht.
Wie immer, wenn Jan-Gustav heim kommt, besuchte er zunächst seine Mutter. Er benutzt den Haupteingang der Villa und trifft seine Mutter in der Küche bei den Vorbereitungen für das Abendessen an. Nach einer kurzen Begrüßung mit einem fröhlichen „Hallo“ kommt auch schon die Frage: „Jan-Gustav, der Brief neulich; gibt es da etwa eine neue Freundin?“ Genervt die Antwort: „Musst du mich immer Jan-Gustav nennen, du weißt doch, dass ich es lieber habe, wenn du nur Jan zu mir sagst. Zu deiner Frage, nein, es gibt keine neue Frau in meinem Leben, der Brief war die Einladung zu einem Klassentreffen in der nächsten Woche.“ Darauf erwiderte seine Mutter mit einem wissenden Lächeln: “Aber du gehst doch hin, Jan-Gustav?“
Der Einwand hinsichtlich des ungeliebten Doppelnamens wird wie immer überhört und nicht zur Kenntnis genommen. Es ist so üblich, die Enkel mit dem Vornamen des Gr0ßvaters zu bedenken. Das war bei seinem Bruder so und auch bei ihm nicht anders, eigentlich kann er sich Kommentare hierzu schenken. Die Frage, ob er zum Essen bleibt, hörte er schon auf halbem Wege zu seinem Domizil im Untergeschoss der elterlichen Villa. „Danke, aber ich geh heute noch mal raus. Bis morgen.“ Und schon ist er weg.
0-0-0
Mit einem schnellen Blick in sein Notebook vergewisserte sich Roger Schneider, ob die Termine des heutigen Tages noch aktuell sind. Noch hatte er einige Minuten Zeit bis zum Beginn des nächsten Meetings. Roger ist nicht sonderlich an diesem Termin interessiert, da die endgültige Festlegung hinsichtlich des Markennamens nicht in seine Entscheidungskompetenz innerhalb des Teams fällt. Er ist erst dann gefordert, wenn es um Formulierungen von eingängigen Werbebotschaften geht. Der neue Sportwagen aus Ingolstadt soll ein echter Renner, ein Hingucker, werden. Bilder vom ersten Prototyp hat er bei einer Produktinformation schon zu sehen bekommen. Heute werden auch die Projektteams benannt. Ende der Woche findet dann die Auftaktveranstaltung statt. Das persönliche Kennenlernen soll eines der wichtigsten Ziele des ersten gemeinsamen Seminars sein.
In seiner Umhängetasche, die er immer mit sich herumschleppt, suchte Roger Schneider nach der Einladung zum Klassentreffen seiner ehemaligen Schule. Irgendwo muss der Brief doch stecken. Zwischen verschiedenen anderen Papieren findet er die Einladung und sucht nach dem Datum der bevorstehenden Veranstaltung. Seine Erinnerung hat ihn nicht getäuscht, am Freitagabend ist das Klassentreffen angesetzt. Beruflich harmonierte das ausgezeichnet mit seiner Dienstreise nach München. Wenn er einfach einen Tag länger bleibt, kann er die alten Kumpels wiedersehen. Zur Zeit ist er eh solo, kann also eh machen was er will.
Nun wird es aber langsam Zeit, sich auf den Weg ins Sitzungszimmer zu begeben. Im Hinausgehen kommt er an Marie-Luise, der Abteilungssekretärin, vorbei. Seit er einmal mit ihr zum Mittagessen in der Kantine im Gebäude der Hauptverwaltung war, hat er bei ihr einen Stein im Brett. „Hallo MaLu, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun? Donnerstag und Freitag sind wir doch alle in München beim Projekt-Kick-Off. Könntest Du für mich einmal im Tagungshotel nachfragen, ob ich füreine Nacht länger buchen kann? Rechnung geht auf mich privat.“ Marie-Luise lächelte verschmitzt und verspricht, sich umgehend um die Sache zu kümmern. Marie-Luise ist schon sein Typ und als Frau nicht zu verachten.
Wie zu erwarten läuft das Meeting mit Verzögerung an. Der Chef der Marketingabteilung kommt mit zehnminütiger Verspätung in den großen Besprechungsraum. Die gesamte Mannschaft war versammelt und wartete. Ohne auf den Grund für die Verzögerung einzugehen, erteilte der Abteilungsleiter seinem Assistenten sofort das Wort. Dieser startete mit seiner Präsentation und erläuterte in epischer Breite allseits bekannte Fakten. Als die Zusammensetzung der einzelnen Kompetenzteams und deren spezielle Aufgabenstellung an die Reihe kommt, ergreift der Abteilungsleiter wieder selbst das Wort. Roger Schneider wird für die Arbeitsgruppe „Internationale Kommunikation und Zusammenarbeit“ eingeteilt. Er soll als Projektleiter die Interessen der deutschen Seite im international besetzten Gremium entsprechend durchboxen.
Zum Ende des Meetings erfolgt noch der wichtigste Teil der Veranstaltung. Mit Stolz verkündete der Abteilungsleiter, dass der Vorstand, - auf seinen Vorschlag hin - als Arbeitstitel für das neue Vorzeigeprodukt des Unternehmens dem Markennamen „Future One“ zugestimmt habe. Die Mitarbeiter zeigen mit einem demonstrativen Klopfen auf den Tisch, dass sie mit dieser Wortschöpfung mehr als einverstanden sind. Roger denkt für sich bei diesem allgemeinen Schulterklopfen, was für ein arrogantes Arschloch doch sein Chef sei, diese einsame Entscheidung als den größten persönlichen Erfolg seiner beruflichen Karriere anzupreisen. Einfach ätzend, dieser Angeber. Dies gehörte offenbar zum „big-business“. Auf den Punkt gebracht - sagte sich Roger Schneider - Sympathie zählt für ihn nur dann, wenn er die Sekretärin ins Bett kriegen will. Um Karriere zu machen musste er aber schon die eine oder andere Kröte schlucken, auch wenn sie Müller hieß und der Abteilungsleiter war.
„Na, schon fleißig beim neuen Projekt? So lob ich mir das, Prioritäten setzen, das Wichtige vom Alltagsgeschäft trennen! Herr Schneider, es war nicht einfach, Sie beim Vorstand als Projektleiter für Internationale Kommunikation und Zusammenarbeit durchzubringen. Glauben Sie mir, ich hab dem alten Frantzen versichert, dass Sie für diese Aufgabe der richtige Mann sind. Genau wie der neue Name für unsere Luxuslimousine Future One. Mit Ihrer Auslandserfahrung wissen Sie sicher am besten von uns allen hier, wie die Amis ticken.“ Dröhnend lachte Müller P. über sein vermeintlich gelungenes Wortspiel. Na dann, mein lieber Schneider, bis Mittwochabend. Roger ist leicht verdattert. Hat er etwas durcheinander gebracht?
Auf seine zögerliche Nachfrage sagte sein Chef noch: „Hätte ich ja fast vergessen, dafür bin ich doch deswegen extra bei Ihnen ja vorbeigekommen; die Amis wollen schon am Mittwochabend einfliegen, drei bis vier Mann maximal. Es soll ein erstes Kennenlernen vorab stattfinden, Arbeitsthemen abstecken, Tagesordnung festlegen usw. na Sie wissen ja, das Übliche halt. Sie als unser neuer Projektleiter gehören natürlich ab jetzt sozusagen zum engsten Führungskreis. Schon halb auf dem Flur, dann noch eine abschließende Bemerkung von Müller P.: „Als wir Sie nach Detroit in die Lehre geschickt haben, waren Sie da nicht bei Richard Forster als Praktikant?“ Roger kommt nicht mehr zu einem „Ja“, schon ist der Abteilungsleiter davon gedüst und nicht mehr zu sehen.
Nur kurz denkt Roger darüber nach, warum sein Chef auf seine Zeit in der amerikanischen Niederlassung anspielt. Er beginnt in seiner Projektunterlage nach der Zusammensetzung der Teams zu suchen. Die amerikanische Seite ist personell nur schwach vertreten. Vier Namen, von denen er nur den von Forster kennt. An den erinnerte er sich aber mit besonderem Vergnügen.