Читать книгу Die Wanderpfarrerin - Hetty Overeem - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 3
AUF DEM WEG NACH JONGNY
Nach Bernards Abreise und meinem einsamen Picknick in einer anderen, diesmal misthaufenlosen Wiese warte ich auf den Journalisten, der sich angekündigt hat. 24 Heures ist eine viel gelesene kantonale Zeitung, und ich freue mich über ein bisschen Öffentlichkeit. Das macht das Ganze offizieller und folglich die Leute offener; denn hier in diesem Kanton bezeichnet man schon schnell als »sektiererisch«, was nicht in die politisch korrekte Formel hineinpasst. Da der Journalist seine Zeit frei einteilen wollte, haben wir keinen bestimmten Ort als Treffpunkt abgemacht: »Ich ruf Sie an, wenn ich in der Nähe bin, ja?«
Das Telefon klingelt. »Wo sind Sie denn?«
Diesmal bin ich vorbereitet: »Bei der Kurve auf der Straße, die von Puidoux hochführt, beim Wasserbrunnen.«
»Okay, ich komme.«
Er kommt nicht. Das Telefon klingelt wieder. »Welche Straße, die von Puidoux hochführt?!« Ja, das weiß ich nicht. Ich bin schon stolz, dass ich überhaupt angeben kann, wo ich bin. Nach vielem Klingeln findet er mich dann doch. Wir teilen meinen letzten Apfel, er fragt und schreibt. Geht einen Teil der Strecke mit, schiebt solidarisch einen unwilligen Speedy den steilen Wanderweg hoch, immer noch fragend und schreibend. Dann verlässt er mich wieder: »Ich warte auf Sie in Chardonne. Wann denken Sie denn, dass Sie dort ankommen?«
Das kann ich nicht sagen. Das hängt vom mir unbekannten Weg ab, davon, ob Speedy gut gelaunt ist oder nicht, davon, ob ich Leute treffen werde oder nicht und ob diese Leute sich unterhalten wollen oder nicht. »So ab 17 Uhr« ist das Genaueste, was ich angeben kann.
Fröhlich wandere ich weiter. Wie wird es wohl sein in Jongny, dem ersten Ziel? Das Dorf gehört zur Gemeinde von Dominique, meinem Mentor während der Ausbildung zur Pfarrerin vor 22 Jahren. Ich überlege mir, wie spannend das Leben doch ist. Früher hatte ich gemeint, das Leben sei mit 50 so ungefähr zu Ende – da passiere bestimmt nichts Neues mehr. Und nun bin ich über 50 – und Wanderpfarrerin; etwas, das ich mir in meinen wüstesten Träumen nicht ausgedacht hätte.
Ich muss dabei an meine erste Gemeinde in Fiez zurückdenken. Wie schön war es dort, wie gerne habe ich da gearbeitet, elf Jahre lang. Bis ein Kribbeln im Bauch mir ankündigte, dass die Zeit für etwas Neues angebrochen war. Ein Kribbeln, das zusammenfiel mit der Einsicht: Ich brauche Weiterbildung. Denn seit meiner Studienzeit in Lausanne arbeite ich nebenher in verschiedenen Gefängnissen und gerate da in Situationen hinein, wo ich mit meinem guten Willen und mit meinem bisschen Einsicht stecken bleibe. In der Gemeinde manchmal übrigens auch …
Nach mehreren Weiterbildungen, hauptsächlich im Bereich der Begleitung misshandelter Menschen, setzte sich dann die Idee einer pastoralen Beratungsstelle durch – zuerst in meinem Kopf, dann auch etwas widerwillig in meiner kantonalen Kirche. Daraus wurden elf Jahre la Cascade. Zuerst acht Monate ohne Gehalt, dann glücklicherweise mit, weil die Region West-Lausanne die inzwischen bewährte Beratungsstelle »adoptierte«.
Und dann, im Laufe der Zeit, hatte ich wieder dieses Kribbeln, sodass la Cascade nun ohne mich weitergeht. Und ich, ich gehe mal wieder ins Ungewisse …
Plötzlich werde ich aus meinen Erinnerungen gerissen. »Bonjour, Madame!« ruft mir jemand fröhlich von einer Baustelle zu. »Wo geht’s denn hin?«
»Nach Jongny!«
»Ist nicht mehr weit!«
»Das hängt von ihm ab!«, lache ich und zeige auf Speedy.
»Wollen Sie was trinken?«
»Ja, gern!«
Der Mann bringt ein Glas Wasser zum Wanderweg hinauf, muss dann aber wieder an die Arbeit. Ich ziehe weiter, bis ich zehn Minuten später merke, dass ich die Hundeleine an einem Pfahl bei der Baustelle habe hängen lassen. Also wieder zurück. Speedy sträubt sich – was soll das denn nun schon wieder, denkt er bestimmt. Ging es gerade so schön runter, muss er wieder rauf. Schwitzend komme ich eine halbe Stunde später wieder bei der Baustelle an. Die Arbeit scheint inzwischen erledigt zu sein, der Mann sitzt mit einigen anderen Arbeitern am Tisch und winkt mir zu: »Trinken Sie einen Wein mit?«
Aber sicher doch! Speedy wird angebunden, guckt mir beleidigt nach, Barou darf mit. Und da um den Tisch herum geht’s zuerst um die Arbeit, dann um Esel, dann um Pfarrer, dann um Gott. Einer sagt nachdenklich: »Es gäbe so viel zu fragen, aber ich komme eigentlich nie dazu, mir richtig Zeit dafür zu nehmen. Wer weiß, ob ich dieses Wochenende mal vorbeikomme …«
»Bienvenue!« Ja, das ist mir wichtig: Die Leute sind willkommen und müssen das wissen; dabei kann der Journalist mir helfen. Ach ja, der Journalist, der wartet bestimmt schon ungeduldig, also muss ich wieder los.
Er wartet auf mich beim Ortsanfang von Jongny. Er geht wieder treulich fragend und schreibend mit. Ein LKW fährt vorbei, bremst, hält an. Einer der Arbeiter von vorhin sitzt am Steuer. »Sieht ja toll aus, Ihr Eselwagen! Ich dachte, ich guck ihn mir gleich an, wenn Sie schon mal in der Nähe sind. Wo sind Sie denn nächstes Wochenende? Ach nee, da muss ich arbeiten. Übernächstes?«
»Weiß ich noch nicht. Wir haben noch keinen Platz gefunden.«
»Kommen Sie doch zu mir! Ich habe eine große Wiese. Ich bin zwar kein guter Gläubiger, aber aushelfen kann ich doch. Würd mich freuen!«
Ich bin ganz glücklich. So hab ich’s mir vorgestellt: einfach unterwegs sein, Leute treffen, nicht wissen, wo man in zwei Wochen ist, dann plötzlich eingeladen werden. Sich führen lassen. Nein, nicht vom Zufall! Vom Heiligen Geist. Das mag für einige Ohren etwas pompös klingen, aber ich will ihm einen echten Platz geben. Das heißt auch: nicht mehr alles selber in der Hand haben, regeln und planen, nicht mehr festsitzen in Ordnungen und Strukturen und Zeittafeln und Agendas.
»Ich meld mich!«, rufe ich also zurück und notiere seine Handynummer. Er winkt noch mal und fährt los.
Der Journalist schreibt und fragt: »Wer war das denn? Kennen Sie den?«
»Seit heute Nachmittag!« Ah, da sehe ich das Tipi. Stolz steht es auf einem kleinen Feld mitten im Dorf. Und mein lieber Eselwagen. Oh wei, steht der aber schief. Unbekannte Leute gucken sich das Ganze an, fragen, was hier los ist. Ein kleiner Zirkus? Wann ist die Vorstellung? Was gibt’s außer dem Esel?
Ja, eigentlich nicht viel. Eine Andacht gibt’s heute Abend, wenn ich mich erst einmal ein bisschen eingewöhnt habe. Die Leute sehen sich etwas perplex an. Eine Andacht? Zum ersten Mal mache ich die Erfahrung, die ich in diesen Jahren sehr oft machen werde: Ich fühle mich klitzeklein. Keine auf den Händen gehende Pfarrerin? Keine Hundekunststücke auf einem Esel? Auch nicht ein Einziges?
Auch nicht ein Einziges. 45 Minuten singen, beten und zusammen reden über einen Text, eine Frage, die sich im Laufe des Tages gestellt hat, oder eine Bemerkung, die jemand gemacht hat. Wie soll man das überhaupt nennen? Zuerst denken die Unterstützungsgruppe und ich an das Wort »office« – so etwas Ähnliches wie »Andacht«; ein für Kircheninsider sehr bekanntes Wort. Aber wir merken schon bald, diese Insidersprache wird von den Tipi-Gästen nicht verstanden. »Office? Wieso, ist das hier ein Büro?« Nach einigen Wochen einigen wir uns auf »rencontre-tipi«: Zeltbegegnung, Tipi-Treffen. Etwas vage, aber es hat den Vorteil, dass die Leute fragen, was das beinhaltet; und dann plumpst man gleich in eine Diskussion hinein.
Es gibt also ein »rencontre-tipi«. Danach gehen die Teilnehmer – einige Gemeindemitglieder und ein paar Neugierige – nach Hause, aber meine Unterstützungsgruppe bleibt. Zusammen müssen wir an Ort und Stelle herausfinden, was fehlt, was funktioniert und was nicht; vor allem, wie die biologische Toilette, die sowohl mir als auch allen möglichen Besuchern zugutekommen soll, aufgebaut werden muss. Die Anleitung ist für mich Abrakadabra, aber die Männer meiner Gruppe haben einen wissenden Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Wir lachen uns schief und krumm an diesem Abend. Die Toiletten übersteigen jede Erwartung. Es handelt sich um eine ziemlich neue Erfindung: Was hineinfällt, wird zuerst mittels eines Pulvers kristallisiert und gefestigt und darf dann wie normaler Müll in einen x-beliebigen Container geworfen werden. Allerdings darf der Maximalinhalt von ungefähr vier Mal »normal« aufs Klo gehen nicht überschritten werden, sonst geht das Ganze schief. Dann ist das eben meine neue Mission: regelmäßig den »Pinkel-Pegel« kontrollieren …
Am Abend betrete ich durch meine Kaninchenklappe (eine richtige Tür hat mein Eselwagen nicht) auf den Knien meinen hölzernen Palast – »Barou, spring!«. Mein Herz ist so voll von Glück, dass ich zuerst gar nicht schlafen kann. »Danke Herr«, sage ich zur Decke hinauf. Der Mond leuchtet durch die kleinen Fenster und bescheint Phils Bild von den Schafen, die friedlich in ihrer frisch grünen 23.-Psalm-Aue grasen. Phil war mein amerikanischer Gemeindepfarrer, als ich in Frankfurt wohnte. Nach fast 35 Jahren Sendepause haben er und seine Frau Ursel plötzlich wieder Kontakt gesucht und mich übers Internet gefunden. Phil ist inzwischen ein begeisterter EEC-Unterstützer geworden, und seine täglichen Gebete tragen mich.
So viel Gutes und Liebes um mich herum …
»Danke, Herr!«