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KAPITEL 9

LES MONTS DE PULLY

Zwei Wochen Ferien stehen vor der Tür! Speedy habe ich beim Bauern vom ersten Wochenende untergebracht, Barou begleitet mich wie immer in meinem Urlaub. Wieder unterwegs! Aber diesmal ist es nicht das Evangelium, sondern ich reise mit Fahrrad, Hundekarre und Zelt durch die Lande. Zwei Wochen nichts müssen, nur meiner Nase folgen, abends irgendwo landen, wo ich mein Zelt aufbauen kann, ist das schön! Dann geht’s am nächsten Tag wieder weiter, immer weiter, bis ans Mittelmeer. Radfahren, schwimmen, lesen, lecker essen, schlafen – was will der Mensch noch mehr?

Höchstens nach zwei Wochen wieder zum Wanderpfarrerabenteuer zurück.

Am nächsten Wochenende mache ich einen Schlenker über Crêt-Bérard, wo eine Kollegin ein großes Fest organisiert hat. Es ist heiß unterwegs, und ich halte bei einem Bauernhof an, um nach Wasser für Speedy zu fragen. Eine Frau guckt aus dem Fenster und ruft: »Aber das ist ja die Wanderpfarrerin! Ich konnte nicht kommen, als Sie in Palézieux waren, und war schon so sauer, dass ich Sie verpasst habe – kommen Sie doch rein auf einen Kaffee!«

Der »Kaffee« entpuppt sich als eine richtige Mahlzeit, die mit großer Herzlichkeit serviert wird. Die Leute vertrauen mir eine ganz traurige Begebenheit an, aber es gibt auch viel zu lachen. Auf der Straße rast ein Motorradfahrer vorbei, wir hören quietschende Bremsen, die Maschine kehrt wieder um. Eine in Leder gehüllte Gestalt kommt durch den Gartenzaun. Es ist Patrick, ein guter Bekannter von mir, der am ersten Wochenende den Eselwagen mit seinem Anhänger nach Crêt-Bérard gezogen hat. Er hat Speedy erkannt, der draußen im Schatten der Dinge harrt, die da kommen werden. Patrick musste doch eben testen, ob es wirklich Speedy selber ist … und kommt gerade rechtzeitig für den Nachtisch!

Bald ist es Zeit, weiterzugehen. Thea, meine beste Freundin, holt mich und meine Tiere mit ihrer Kindergruppe kurz vor Crêt-Bérard ab. Sie übernachten alle hier und werden dieses Wochenende oft zum Singen kommen. Einige kenne ich: Sie gehörten zu der Gruppe, die mit mir eine CD von Bibelliedern gemacht hat.

Als Kinder haben Thea und ich schon zusammen gesungen; als Erwachsene machen wir einfach weiter!

Am nächsten Wochenende geht es von Crêt-Bérard zu den Monts de Pully. Aber am Freitagmorgen findet erst noch ein Treffen mit meiner Unterstützungsgruppe statt: immer wieder spannend, zusammen zu besprechen, was gut gewesen ist und was weniger. Wo wir hinwollen, wo wir hinkönnen. Und auch, wer bleiben kann und wer nicht: Georges, der Pfarrer meines Bergdorfes, sagt ehrlich, dass er nicht mehr kommen kann. Er wird zu alt für dieses Hin-und-her-Gereise, von einem Dorf zum anderen. Das ist traurig, aber ich bin dankbar für die vielen guten Ratschläge von Georges; für seine Weisheit, die unsere Gruppe oft vorm Ausrutschen bewahrt hat.

Wir besprechen auch, wer welche Aufgabe übernimmt. Franco wird zum ersten Mal in seinem Leben einen Trecker fahren und meinen Eselwagen von hier nach Lausanne ziehen. Roland wird an diesem Sonntag das Tipi abbauen und mitnehmen. Valérie und Priscille können dieses Wochenende nicht selbst kommen, aber sie werden beten. Und das ist nicht einfach schnell dahergesagt, im Sinne von »Herr, segne dieses Wochenende, amen«. Es ist ein echtes Engagement: EEC lebt vom Gebet, wird getragen vom Gebet, ermutigt vom Gebet; eigentlich wird es jedes Wochenende immer wieder neu »erbetet«.

Nach dem Treffen mache ich mich auf den Weg. Die Tageswanderung mit Speedy ist mühsam heute. Der Esel will nicht, es gibt ein Unwetter mit Blitzen und Donner, Barou wird panisch. Glücklicherweise bin ich auf dieser Strecke nicht alleine. Eine Frau hat angerufen und gefragt, ob sie mitgehen darf: »Ich möchte gerne mit Ihnen reden.« Es ist das erste Mal, dass jemand die ganze Strecke mitgeht, und ich stelle fest, dass man unterwegs wirklich gut reden kann. Christine kommt von weit her, aus dem Jura; sie ist eine alleinstehende Frau mit fünf Kindern, einem harten Alltagsleben und einem großen Glauben voller Gipfel und Täler und Fragen an Gott.

Triefend vor Nässe kommen wir in den Monts de Pully an, das Tipi klappert wehmütig im kalten Wind. Wir ziehen uns um und essen unser Picknick. Unterwegs sind wir an einem kleinen Geschäft vorbeigekommen, an einer dieser Selbstbedienungshütten, die nach dem tollen Vertrauensprinzip funktionieren: Jeder nimmt, was er will, und bezahlt, was er soll, in einem kleinen Kästchen an der Wand. So haben wir an diesem Abend alles frisch: Salat, Brot, Butter, Käse, Schinken, Milch, Joghurt, Früchte. Nachdem ich abends Christine wieder zu ihrem Auto in Crêt-Bérard zurückgebracht habe, sitze ich nun einsam in meinem Klo-Zelt mit Aussicht auf den weiten Sternenhimmel – es kommt hier sowieso keiner vorbei, also habe ich den Zeltvorhang offengelassen – und denke mir: Wer hat es so gut wie ich? Welche schönste Villa bietet eine derartige Aussicht, und das vom Klo aus? Welcher Palast kann mit meinem schnuckeligen Eselwagen konkurrieren, wo der Hund schon auf mich wartet und wo ich nachher, wie eine Mumie in meinem Federbett eingerollt, einschlafen werde? Wo das Licht der Sterne sich noch ein bisschen durch die Vorhänge hindurchwagt und ich morgen früh von der Sonne oder vom Regen geweckt werde? Gibt es eine schönere Bleibe als mein tolles, wasserdichtes Tipi, in dem ich essen, beten und singen kann – und Leute treffen, die ich gar nicht kenne, aber die nachher als Bekannte wieder weggehen? Wer hat es so gut wie ich?

Dieses Wochenende muss ich öfter an mein offenes Klo-Zelt denken: Es kommt hier sowieso keiner vorbei … Das wird leider Wirklichkeit. Die Familie Rouge wohnt zwar an einer sehr befahrenen Straße, aber der Bauernhof steht etwas abseits und die Autos fahren zu schnell, um die Plakate an der Straßenseite lesen zu können. Die Gemeinde hat ihr großes Jahresfest unten in Lutry, und so kommen auch keine Kirchenleute vorbei. Wir waren schon froh, dass Roland überhaupt einen Platz gefunden hat; denn der Weg nach Lausanne kann nur durch diese Gegend führen. Gemeindefest hin oder her, hier irgendwo musste haltgemacht werden: Der Esel kann nun mal nicht fliegen.

Zuerst macht es mir nichts aus, dass niemand vorbeikommt. Eine Frau hat angerufen und gefragt, ob ich Zeit für sie hätte, und zwar Zeit für sie alleine. Ich habe ihr zugesagt, den Ausführspaziergang für Barou am Nachmittag mit ihr zu machen; und es passt prima, dass ich dafür nicht andere Tipi-Besucher verlassen brauche. Wir reden lange und haben ein tiefes Gespräch. Ich freue mich, dass mir die elf Jahre pastoraler Beratungsstelle geholfen haben, das Puzzle »Mensch« manchmal doch ein bisschen besser zu verstehen. Und danach gibt’s Essen: Spaghetti mit Salat, den die Frau versehentlich in Barous Hundenapf wäscht.

Später am Nachmittag sind einige Besucher da. Roland kommt noch mal vorbei und Eva, eine Freundin, erscheint zur Abendandacht. Und dann ist Stille. Ich warte im Tipi, ob noch andere Leute auftauchen werden, aber außer Madame Rouge, ihren Eltern und ihren zwei kleinen Kindern sehe ich niemand. Also kann ich ausnahmsweise mal früh ins Bett!

Aber bei der andauernden friedlichen Stille im Tipi am nächsten Tag wird mir mulmig. Ich fühle mich »nutzlos«, und das kann ich nicht so gut haben. Nachdem ich abends mit Yann, einem sehr sympathischen jungen Mann aus der Gemeinde, und Roland das Tipi abgebaut habe, sage ich etwas missmutig zu Gott: »Na ja, das war wohl nichts dieses Wochenende. Fast umsonst.« Roland und Yann fahren los. Ich will noch kurz zum Bauernhaus gehen, um mich von der Familie Rouge zu verabschieden. Da kommt ein junges Ehepaar aus dem Dunkeln hervor. Ich erkenne die beiden wieder, sie sind zu einer Andacht gekommen und zum Kaffee geblieben. »Gehen Sie schon?«, fragen sie.

»Ja, wir haben gerade alles aufgeräumt. Ich bleibe nie so lange am Sonntagabend, weil ich noch in die Berge zurück muss.« Ich zögere, denn ich spüre, dass sie auf etwas warten. Dann plumpse ich – allerdings nicht sehr subtil – in die Frage hinein: »Darf ich wissen: Wie stehen Sie eigentlich zu Gott?« Denn ich habe das Gefühl, ein langer Anlauf ist hier fehl am Platz, außerdem ist es schon 23 Uhr. Aber subtil oder nicht, auf diese Frage haben sie gewartet, und nun geht’s los. Weil es sich im Dunkeln und stehend nun doch nicht so gut diskutieren lässt, frage ich Philippe und Jennifer Rouge, ob sie uns ein Zimmer zur Verfügung stellen können. Kein Problem.

Und so höre ich eine lange Geschichte. Die Frau weint, der Mann sitzt zuerst ein bisschen grummelig da. Ihre Ehe ist nicht das, was sie sich vorgestellt haben, aber beide wollen ein Stück weiterkommen, beide wollen, dass wir zusammen beten. Und viel mehr kann und brauche ich an diesem Abend auch nicht tun. Zuhören. Versuchen, ein Stück weit zu verstehen. Beten. Und segnen.

Denn das ist nicht dasselbe. Eine Leiterin meiner Fortbildung in Dänemark hat mal gesagt: »Wenn du betest, stellst du dich an die Seite des anderen Menschen vor Gott, und zusammen redet ihr mit ihm. Wenn du im Namen Gottes segnest, ist es, als wenn Gott sagt: ›Komme an meine Seite, dann wollen wir zusammen versuchen, diesem Menschen etwas zu sagen, das ihm weiterhelfen kann.‹«

Während ich morgens um ein Uhr ins Auto steige, um mit etwas Verspätung nach Hause zu fahren, ist es, als ob ich eine Stimme in mir hörte: »Fast umsonst?!«

Die Wanderpfarrerin

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