Читать книгу Die Wanderpfarrerin - Hetty Overeem - Страница 14
ОглавлениеKAPITEL 6
VON PALÉZIEUX NACH FERLENS
Dank François von Palézieux weiß ich, wohin ich unterwegs bin: zu einer Bauernfamilie in Ferlens, die Pferde haben. Unter dem Namen »Les calèches du Jorat« organisieren sie Ausflüge mit einer Kutsche; und wo Pferde sind, ist genug Platz für meinen Speedy. Am letzten Sonntagabend wussten meine Gruppe und ich noch nicht, wo wir am kommenden Pfingstwochenende sein würden; da habe ich mir dann doch etwas Sorgen gemacht. Roland aus meiner Gruppe hat sich mit François andächtig die Karte der Gegend angeschaut. Aber erst, als ich sagte, ich könne ausnahmsweise auch mal 15 Kilometer gehen (mit Speedys kläglichem Tempo sind das acht Stunden reine Gehzeit plus Pausen), klärt François’ Gesicht auf: »Dann kannst du ja zu den Emerys, das sind Freunde von mir. Wahrhaftig keine Kirchgänger, aber immer bereit auszuhelfen.«
Und so wird’s gemacht. Unterwegs sehe ich in der Ferne meinen Eselwagen vorbeirumpeln, der von dem Trecker des wahrhaftig-kein-Kirchgänger-aber-immer-bereit-auszuhelfenden Unbekannten gezogen wird. Der erste Teil meines Weges besteht diesmal aus vielbefahrenen Straßen. Einerseits ein Nachteil, denn der Hund muss an der Leine bleiben, und mitten im Verkehr mit einem Esel zu wandern, ist immer mit etwas Risiko verbunden. Aber andererseits trifft man viel mehr Leute.
Ein Auto hält an, der freundlich lachende Fahrer ruft mir zu: »Sie sind doch die Wanderpfarrerin? Kommen Sie mit, ich lade Sie zu einem Kaffee im Dorf ein. Nur zwei Minuten zurück.«
»Nur zwei Minuten für Sie! Für meinen Esel eine halbe Stunde! Tut mir leid, ich kann nicht wieder zurück, heute muss ich noch weit! Nach Ferlens …«
Er nickt, sagt noch etwas und gestikuliert mit den Händen, aber seine Worte verlieren sich im Getöse eines vorbeifahrenden LKW. Hinter ihm hat sich schon eine Schlange ungeduldig hupender Autos gebildet, also fährt er winkend weiter.
Ich schlage einen kleinen Seitenweg ein. Laut meiner Karte werde ich über einen wunderschönen Wanderweg in einigen Stunden in Ferlens ankommen. Ich seufze vor Erleichterung. Keine Autos, kein Krach. Aber auch keine Menschen. Nach einigen spärlichen Bauernhöfen gibt es nur noch weite grüne Welt. Wir kommen gut voran, nur stimmt die Karte nicht. Oder der Weg. Oder meine Interpretation von beidem, denn ich bin nach zwei Stunden immer noch in der Pampa; weit und breit kein Haus und kein Mensch zu sehen.
Plötzlich klingelt das Telefon. Es ist der Pfarrer von Ferlens und Umgebung. Schön, dass er sich nicht geärgert hatte, als Esel und Compagnie angekündigt wurden. Er hatte nur gesagt: »Schade, dass ich es nicht vorher gewusst habe, dann hätte ich die Gemeinde einladen können.« Da hatte er natürlich recht. Ich weiß noch nicht, wie ich dieses Problem lösen soll. Meine Gruppe und ich schwanken zwischen der »Freiheit des Geistes« – was Improvisation, viel Unsicherheit und Pannen, aber gerade deswegen viel unerwartete Hilfe von oft kirchenfernen Leuten beinhaltet – und dem Rahmen menschlicher Strukturen, deren sich derselbe Geist bedient – was Langzeitplanung, Handfestes und liebe, erwartete Hilfe von Gemeindemitgliedern bedeutet.
Es ist nicht einfach, wenn diese beiden legitimen Dynamiken aufeinanderstoßen. Auch nicht einfach, wenn diese verschiedenen Gruppen aufeinanderstoßen. Es passiert öfter, dass Außenstehende sich schleunigst aus dem Weg machen, wenn die Damen des Nähkränzchens aus einer Gemeinde auftauchen. Schade, denn wenn beide Interesse füreinander aufbrächten, könnte es zu wirklich schönen Begegnungen kommen. Aber dafür braucht es guten Willen auf beiden Seiten und ein bisschen Zeit, sich aneinander zu gewöhnen.
Nun ist also der Pfarrer Jean-Jacques am anderen Ende der Leitung: »Ist es okay, wenn ich heute Abend mit ein paar Jugendlichen vorbeikomme?«
»Oh ja, gern! Aber wann? Denn ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich bin.« Ich beschreibe die Landschaft.
Jean-Jacques brütet darüber, wo ich wohl sein könnte. »Ach, wirst es schon finden!«, beschließt er mit typisch männlichem Optimismus. »Ich komme dann so um sieben.«
Ich irre weiter. Warum fährt hier denn nirgendwo ein Auto? Brauche ich endlich mal eins, ist stundenlang keines zu sehen. Zögernd bleibe ich stehen, breite zum x-ten Mal die Karte vor mir aus, vergleiche, kalkuliere und kann mich denn doch nicht entscheiden.
Da! Ein Auto! Es schlängelt sich gemächlich den Hügel hinauf, mit etwas Glück muss der Fahrer mich doch sehen. Heftig mit den Armen wedelnd, laufe ich zum höchsten Punkt des Hügels. Das Auto verschwindet … und erscheint dann wieder, bis es vor mir anhält.
»Ein Segen, dass Sie da sind!«, hechele ich erleichtert. »Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, und muss nach Ferlens. Wissen Sie, wie ich gehen soll?«
»Klar«, lacht der Autofahrer, dem ich vor drei Stunden begegnet bin. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, ich würde Ihnen Brot und Wasser bringen. Ich bin hier oft geritten, kenne die Gegend wie meine Westentasche und dachte, dass ich Sie hier irgendwo wohl finden würde!«
Camille serviert Brot und Wasser (»Wusste nicht, ob Sie unterwegs Wein trinken!«). Wir kommen ins Gespräch, reden und reden. Über seine Familie, seine Pläne, seine Krankheit. Erst nach anderthalb Stunden fährt er seines Weges und gehe ich meinen. Dank seiner ausführlichen Erklärungen komme ich anderthalb Stunden später heil in Ferlens an.
Ich werde Camille noch oft sehen während der nächsten Jahre …