Читать книгу Die Wanderpfarrerin - Hetty Overeem - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL 1
AUF DIE PLÄTZE, FERTIG … LOS IN CRÊT-BÉRARD!
Ich bin ja so gespannt! Nun ist es so weit. Der offizielle Aussendungsgottesdienst hat mich … nun ja, ausgesandt. Für meinen Geschmack war er ein wenig zu offiziell – der Vorsitzende der kirchlichen Schublade, in die man mich hineingesteckt hat, damit ich irgendwo in der Institution eingeordnet werden kann, hatte wohl plötzlich das Gefühl, es müsse etwas extra Offizielles hinzu: Diese quirlige Idee von einem Wanderpfarreramt sollte denn doch seriös erscheinen.
Jetzt bin ich endlich unterwegs. So richtig unterwegs, wie ich’s mir vorgestellt hatte. Schönes Wetter, freundlicher Esel, glücklicher Hund, abenteuerlich gestimmte Pfarrerin. Nach etwas mühsamem Getue habe ich Speedy sein »bat«, sein Joch, auflegen können und im Augenblick hält es noch. Eselwagen und Tipi warten auf mich in Jongny.
Das Handy klingelt. Am anderen Ende ertönt eine unbekannte Stimme: »Wo stecken Sie denn gerade? Wie, Sie sind ganz allein? Ich dachte, Ihre Gruppe würde Sie begleiten!« Aber meine Unterstützungsgruppe besteht nun mal nicht aus Rentnern, die ihre Zeit mehr oder weniger selber einteilen können, sondern aus hart arbeitenden, an feste Zeiten und Orte gebundenen Leuten. »Bon d’accord, dann komm ich eben selber rüber! Wo sind Sie?«
Zum ersten Mal mache ich die Übung, die sich in den nächsten Jahren unzählige Male wiederholen wird. Wo bin ich? Als ich mir mein Wanderdasein ausmalte, hatte ich immer eine Karte in der Hand, an der ich mich fest und fehlerlos orientieren würde. Karten lesen kann ich nämlich. Womit ich aber nicht gerechnet habe, ist, dass ich mit der linken Hand die Leine des Hundes festhalte (zu viele Autos auf meiner ersten Strecke), mit der rechten die des Esels und dass meine Karte mangels besseren Platzes in meinem Rucksack steckt. »Warten Sie eben, ich guck mal.« Aber gerade sieht Barou einen anderen Hund, Speedy riecht Kleeblatt, das sich auf der anderen Straßenseite befindet, und marschiert gezielt auf diese freudige Überraschung zu. Weit und breit ist kein Pfahl zu sehen, an dem ich ihn anbinden könnte. Aber Leute. Leute, die von einem Bauernhof kommen und neugierig gucken.
»Ach, bitte, können Sie mir helfen?« Ein ahnungsloses, aber fast ein prophetisches Wort – denn einer der meistgesagten Sätze während dieser kommenden Jahre. »S’il vous plait, Monsieur, Madame, pourriez-vous m’aider?« Denn hier, unterwegs, bin ich auf einmal nicht mehr die Pfarrerin. Zumindest nicht die, welche die Leute, bewusst oder unbewusst, in ihrem Kopf haben. Die gibt, die austeilt: gute Worte, Segen, Ratschläge, Gebete. Auch wenn mir das noch nicht klar ist, ab jetzt bin ich eine Frau, die unterwegs ist, oft hungrig und frierend, sehr oft nass und noch öfter hoffnungslos verirrt. Und die unterschiedlichsten Leute sind meine Helfer, manchmal sogar meine Retter. Das ändert total die Perspektive – und dann eben auch das Verhältnis zueinander.
So oft hat mir jemand gesagt: »Wissen Sie, mit Gott will ich nichts zu tun haben. Mit seiner dusseligen Kirche erst recht nicht. Aber ich kann Ihnen doch helfen, wenn Sie Hilfe brauchen?« Und oft geht das Gespräch dann weiter und die betreffende Person sagt, warum sie nichts mehr mit Gott und Kirche zu tun haben will. Denn ihr Gegenüber ist nun nicht mehr ein offizieller Vertreter, sondern wie gesagt eine nasse, frierende, hungrige und verirrte Frau mit zwei nassen, frierenden, hungrigen und verirrten Tieren. Da kann man reden. Anders. Das öffnet Herzen. Weil es kein Trick ist. Kein Marketing, um leichter an die Leute ranzukommen. Sondern einfach Wirklichkeit. Eine Art von Armut, die dem anderen, jedem anderen, plötzlich einen Platz gibt. Und weil das augenscheinlich so besonders und anders ist für die Leute – und sie mir das so oft sagen –, frage ich mich, was wir verloren haben, was die Kirche verloren hat, dass sie den Menschen so oft den Eindruck gibt, sie wären niemand, sie hätten nichts zu geben.
Bei Jesus war das so anders. Ich denke an die Samariterin aus Johannes 4. Handelte es sich da um einen Trick von Jesus? Ganz bestimmt nicht. Er war hungrig, durstig, müde. Und er war es, der die Frau, diese sozial am Rande stehende Fremde ohne Namen, um Hilfe bat. Und das machte sie hellhörig auf das, was er ihr nachher zu sagen hatte. Die gute Nachricht, das Evangelium, braucht etwas von diesem Armsein, um so gesagt zu werden, dass es ihrem Inhalt entspricht. Form und Inhalt, Worte und Haltung, Botschaft und Rahmen, es gehört immer alles zusammen.
Wir alle haben da noch viel zu lernen. Aber – wollen wir? Sind wir Christen (sowohl Pfarrer als ehrenamtliche Mitarbeiter) bereit, unseren Komfort, unsere Sicherheit, unsere Mauern von Macht, Reichtum, Wissen und Können zu verlassen, um uns verletzlich auf den Weg zu machen? Nein, natürlich nicht alle als Wanderchristen im wörtlichen Sinn. Berufung durch Gott ist nicht identisch mit dem Unterwegssein mit einem Esel. Aber wenn ich den Esel mal als Symbol nehme, dann ist es das vielleicht doch?
Wir sind alle berufen. Der eine, durch Erfahrung und durch selbst genug auf die Nase gefallen zu sein, als Lehrer. Ein anderer, dessen Herz für Gott und für sein Wort und dann auch für das Herz und das Leben anderer Menschen brennt, als Evangelist. Wieder ein anderer als jemand, der »handfestlich« dienen kann und das auch will. Und wahrscheinlich braucht’s etwas von allem, je nach Zeitpunkt und Situation im Leben. Und das Ganze mit freudiger Gewissheit, denn wir bringen nicht uns selbst, sondern unseren Herrn. Aber – eben weil der Knecht, der Nachfolger, nicht höher steht als sein Meister – immer mit dem »Esel«: immer mit offenen, nicht habenden Händen und Herzen: »Ach, bitte, können Sie mir helfen?«
Aber zurück zum unbekannten Menschen da am anderen Ende des Telefons, der mich ein Stück begleiten will, einfach weil er an dieses Projekt EEC glaubt. Dieser Mensch ist Bernard Tripet, der später ein treues Mitglied meiner Unterstützungsgruppe sein wird. Aber jetzt ist er erst einmal nur ein interessierter Wegbegleiter, der sich nach unserem Telefonat gleich auf den Weg zu mir gemacht und mich auch bald gefunden hat.
Wir gehen langsam, sehr langsam. Ich wusste, woran ich mit Speedy bin: »… der liebste, aber auch der langsamste.« Es wird Zeit für die Mittagsandacht – aber die Morgenandacht hat noch nicht stattgefunden, denn da habe ich mich mit Speedys Joch abgemüht, und als ich es endlich hingekriegt hatte, wollte ich nur eins: losgehen! Bernard schlägt vor, so bald wie möglich haltzumachen, denn er muss nun wirklich zur Arbeit. Okay – sobald wir ein Stück Wiese für Speedy finden.
Da taucht schon unsere Wiese auf. Es riecht nur etwas komisch. Speedys Ohren und Barous Schwanz wedeln glücklich, nur wir schnuppern unbehaglich. Kein Wunder, die grüne Fläche vor uns ist geschmückt mit einem riesigen Misthaufen. Zögernd sehe ich zu Bernard hinauf: »Wollen wir noch ein Stück weiter? Hier ist es, ähm, vielleicht etwas unpassend?« Aber er hat keine Zeit mehr.
Und so findet die allererste Andacht statt. Die feierliche Morgenandacht, abgeleitet von der koptischen Liturgie, die ich in Ägypten kennen- und lieben gelernt habe. Texte, die vor Freude sprudeln, weil sie die Wirklichkeit Gottes und des Menschen beschreiben und wie die beiden sich berühren. Vor einem Misthaufen.
Aber wenn man bedenkt, wie Gott selbst zwischen Misthaufen auf diese Welt kam, ist es vielleicht gar nicht so unpassend …