Читать книгу Die Wanderpfarrerin - Hetty Overeem - Страница 16
ОглавлениеKAPITEL 8
PFINGSTWOCHENENDE IN FERLENS
Am Freitagabend kommt die angekündigte Jugendgruppe mit dem Pfarrer. Sie wollen wissen, warum ich unterwegs bin, was mich beseelt und in Gang gesetzt hat. Ich erzähle und erwähne Niklaus von Flüe – auch Bruder Klaus genannt – mit seinem so einfachen, aber dringenden Gebet. Ein Gebet, das EEC in Gang gesetzt hat und begleitet:
»Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.«
Wie lieb muss man Gott haben, wie gut ihn erkannt haben, um so vertrauen und alles in seine Hand legen zu können! Und doch ist hier nicht die Rede von einem spirituellen Kunstakt, wo man ständig auf Zehenspitzen geht, einem Seiltanz für die Elite. Es ist das Gebet eines Menschen, der das Allerwichtigste gesehen hat: wer und wie Gott ist, und der dann die Konsequenzen daraus gezogen und danach gelebt hat. Eigentlich das »Unterwegs-Gebet« schlechthin.
Ein Mädchen hört besonders andächtig zu. Sie heißt Aude und ist Theologiestudentin in Lausanne. Beim Abschiednehmen sagt sie: »Ich komme wieder, das steht fest!«
Pfingsten entpuppt sich als ein Wochenende bunter Gesprächsfetzen mit einem bunten Mischmasch von Menschen – von morgens früh bis abends spät. Immer mal wieder zwischendurch unterhalte ich mich mit den Emerys, die mich so lieb auf ihrem Grundstück willkommen geheißen haben mit den entschuldigenden Worten: »Wir sind zwar keine Kirchgänger, aber …«
Jetzt bin ich erst ein paar Wochenenden unterwegs, aber wie oft höre ich diesen Satz … Auch wieder hier in Ferlens, von verschiedensten Leuten. Manchmal klingt es, als ob die Menschen sich irgendwie nicht für gut genug halten würden, aber dennoch geben, was sie zu geben haben: in großer Freigiebigkeit und ohne jegliche Erwartung einer Gegenleistung.
Manchmal klingt es allerdings auch etwas herablassend: »Wir sind zumindest keine Heuchler, so wie die, die jeden Sonntag in der Kirche sitzen, aber das alles nur zum Schein. Wenn Sie wüssten …!«
Und zum Schluss höre ich dann auch noch eine Art Refrain heraus – das immer wiederkehrende Motiv des schon erwähnten zusammengebastelten Gottes, aber jetzt mit der konkreten Folgerung: »Wenn es ihn schon geben sollte, dann wird er ja sehen, was wir tun, und ganz zufrieden mit uns sein.« Als wenn man sich vor Gott Punkte sammeln müsste – und könnte.
Diese gefährliche Angewohnheit des Menschen, lieber auf seine eigenen guten Taten als auf Gottes geschenkte Liebe zu bauen, ist hartnäckig. Es ist, als ginge der Mensch besonders gerne und regelmäßig in einer Art Galerie spazieren, wo er sich fasziniert falsche Bilder von Gott anguckt, um sie dann – und das ist das Schlimmste – im Herzen gespeichert mit nach Hause zu tragen. Zusammengenommen erscheinen die Bilder als eine eigenartige Exposition zum Thema »Karikaturen Gottes«.
Im ersten, etwas frostigen Ausstellungsraum wird der »göttliche Kalkulator« vorgestellt, der prüfend abwägt, wie viele Plus und Minus wir in unserem Leben gesammelt haben, sodass er uns entweder fallen lässt oder etwas widerwillig die Tür öffnet. Dann geht’s zum zweiten, kuschelig beleuchteten Raum, wo ein ewig lächelnder Gott dem Menschen Streicheleinheiten verabreichen soll. Eine Glasgalerie, bestehend aus verzerrenden Spiegeln von uns selbst, führt über eine Treppe zum Untergeschoss, wo in drei düsteren Zimmern der unerbittliche Richter ausgemalt wird, vor dem auch ein noch so tolles »Zeugnis« nur ein Kopfschütteln bewirken kann: Leider reicht’s nicht. Nach einer scharfen Kurve geht’s dann durch den Gang des passiven oder ohnmächtigen »Weg-Gucker-Gottes«, der den Menschen alleine herumfuchteln lässt, hin zum »Gott der Willkür«, der macht, was er will, und gegen den man sowieso nicht ankommt. Wenn man dem aus dem Wege gehen will, landet man aber unerwartet beim »Ja-Nicker-Gott«, der uns folgen soll auf allen unseren Wegen, auch wenn diese Wege deutlich nichts mit ihm zu tun haben wollen. Und zum Schluss gibt es dann noch den Weihnachtsmann, der all unsere Wünsche erfüllen soll.
Eine richtige Bildergalerie von verzerrten Bildern, die uns fernhalten sollen vom wirklichen Gott, der uns in Jesus Christus nahegekommen ist. Und so vielen Menschen begegne ich auf meinem Weg, die sich ein Bild aus dieser Galerie für Gott und ihr eigenes Leben ausgesucht haben. Darum ist mir das Gebet von Bruder Klaus so wichtig: »Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.« Das bedeutet nichts anderes als: »Herr, lehre mich verzichten auf die Karikaturen, die meiner geistlichen Gesundheit und damit meiner Gesundheit überhaupt schaden. Lehre mich ›fasten‹, damit die spirituelle Fettschicht um mein Herz herum abgebaut wird und ich aufatmen und leben kann.«
An Pfingsten begegnet mir, wie gesagt, ein bunter Mischmasch von Menschen. Das ist zwar immer der Fall bei EEC, aber dieses Wochenende ganz besonders: Familien mit kleinen Kindern, Pfarrer, wüst tätowierte Motorradfahrer, Gemeindemitglieder, ein französischer Gitarrist mit seiner Freundin, ein Ex-Gefangener, mit dem ich mich gut verstanden habe, ein Polizist, ein Straßenmusiker aus Neuchâtel, Freunde, Jugendliche, alte Menschen … Eine liebe, doch etwas extrovertierte Frau ist auch dabei. Sie fliegt spontan einem abseits sitzenden, weil Menschenmengen hassenden, gegen Kirche allergischen Mann um den Hals und drückt ihm zu seinem Entsetzen einen herzlichen Kuss auf die Wange: »Na, dann bis bald mal wieder!« Er rückt gleich drei Meter zurück und grummelt mir zu: »Was hast du denn hier für ’ne Gesellschaft von Ausrastern eingeladen?«
Jemand hatte versprochen, für ein Barbecue zu sorgen, aber es dann glatt wieder vergessen. Auch nicht schlimm; wir legen alles Fleisch zusammen, was wir haben, improvisieren einen Grill und legen Würstchen drauf.
Beim Abend-Tipi-Treffen kommt jemand aus dem Dorf vorbei und wundert sich über die vielen Leute, die im Gras sitzen, über den Straßenmusiker, der zusammen mit dem Gitarristen improvisiert, über eine tanzende Kollegin von mir. Wir laden ihn zu uns ein, aber er wehrt ab: »Für mich ist Gottesdienst nur echt in einer Kirche, mit einem Pfarrer in Talar, der von der Kanzel redet.« Auch gut. Eine Viertelstunde später kommt er wieder vorbei mit einem Stuhl in der Hand und setzt sich schweigend dazu.
In der Ferne sehe ich den Menschenmengen-hassenden-und-gegen-Kirche-allergischen Mann mit seinem Hund herumstreunen. Bei meiner Ankündigung, dass das Abend-Tipi-Treffen nun beginne, schaut er mich vorwurfsvoll an: »Du weißt doch, das ist nix für mich! Na ja, dann lasse ich eben jetzt den Hund raus. Kannst mir ja ein Zeichen geben, wenn ihr ausgebetet habt.«
Es sind Menschen aus allen Ecken, eine bunt gefärbte Gesellschaft, in der jeder eine andere Sprache spricht, aber in der man doch zusammengehört. Wie beim ersten Pfingstfest.
Hoffentlich weht auch hier Gottes Geist bis in das letzte vielleicht kirchenallergische, aber liebeshungrige Herz hinein.