Читать книгу 50 - Хидео Ёкояма - Страница 10

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Auf dem Weg vom Verhörzimmer zur Kriminalabteilung begegnete Shiki niemandem. Sein früherer »Pendelweg«. Er empfand widerstreitende Gefühle. Ungeduld. Frustration. Erwartung. Unsicherheit. War er schon einmal diesen Gang entlanggelaufen und hatte sich dabei derart in die Enge getrieben gefühlt?

Das Ansehen der Polizeipräfektur W. Auf den Schultern eines Einzelnen.

Die Stimme von Leiter Iyo klang noch immer in seinen Ohren.

Beim Leichnam seiner Frau geblieben …

Durch die Gegend gelaufen und einen Platz zum Sterben gesucht

Durch den Schock, seine Frau umgebracht zu haben, keine Erinnerung an den Tag

Diese Art Antwort hatte Shiki selbst auch erwartet.

Aber nichts davon stimmte. Sōichirō Kaji trug eine Geschichte in sich, die mit dem Vorfall überhaupt nichts zu tun hatte. Deswegen war er nicht gestorben. Er hatte seinen Sohn verloren, seine kranke Frau mit eigenen Händen ermordet, hatte keine Verwandten, um die er sich sorgen musste, und hatte sich, anstatt seinem Leben ein Ende zu setzen, freiwillig gestellt. Kaji hatte sich entschieden zu leben. Ein Polizist, noch dazu ein Lehrer wie Kaji, der viele Schüler betreute, war hervorgetreten, im vollen Bewusstsein, wie sehr das sein Ansehen beschmutzte und welcher Schande er sich durch ein Leben in der Untersuchungshaft oder im Gefängnis aussetzte. Eine derartige Macht besaß seine Geschichte.

Die will ich lesen. Nein, die muss ich lesen. Mit der Gier eines ehemaligen Vernehmungsbeamten. Mit der Ehre eines Leiters der Abteilung Gewaltverbrechen. Und auch, um als eine Führungsperson der Präfekturpolizei zu überleben.

Egal, wie es läuft, heute Nachmittag entscheidet es sich.

Als er die Tür zur Kriminalabteilung aufdrückte, stieß er mit Komine zusammen. Der wollte gerade zu ihm, sagte er. Sein Gesicht war bleich.

Komine drängte ihn ins Empfangszimmer der Abteilung.

»Das hier haben unsere Mitarbeiter von der Hausdurchsuchung mitgebracht.«

In dem Beweisbeutel befand sich ein Päckchen Taschentücher, das mit einer auffälligen Werbung bedruckt war. »Private Videozimmer« in Großbuchstaben. Shikis Blick fiel auf die kleinere Schrift. »Tokio«, »Shinjuku-Bezirk«, »Kabuki-Viertel« …

»Wo wurde das gefunden?«

»In der Tasche des Mantels von Polizeihauptmeister Kaji. Der hing im Garderobenschrank bei ihm zu Hause.«

»In seinem Haus?«

»Weil er im Anzug war, als er sich gestellt hat.«

Er hatte keine Rückreise eingeplant. Sich zu stellen hieß, einige Jahre nicht nach Hause zurückzukehren.

»Und das ist der Mantel, den er immer trägt?«

»Jemand von der Ausbildungsabteilung, der bei der Durchsuchung dabei war, meinte, dass er den jeden Tag anhat.«

Es war eine unangenehme Vorstellung, aber auch nicht ausgeschlossen.

Kaji in einem privaten Videozimmer in Shinjuku.

Ein Päckchen Taschentücher als Werbeträger. Es konnte ihm einfach beim Vorbeilaufen in die Hand gedrückt worden sein, doch mit Sicherheit war Kaji im Kabuki-Viertel unterwegs gewesen. Aber wann? Und weswegen?

Ihm kam ein unbequemer Gedanke.

Wenn man seit 30 Jahren Fälle bearbeitet, begegnet man verschiedenen Arten von Straftätern. Man begreift, dass den Menschen, egal, wie sehr er sich als Heiliger inszeniert, letztlich nur wenig von einem Monster trennt. Vor allem Sexualstraftäter sind schwer zu fassen. Denn ganz unabhängig von Stand, Familie und Beruf – wo es Männer gibt, da gibt es auch potenzielle Verbrecher. Sex als solcher brachte offenbar so etwas hervor.

Kaji und das Kabuki-Viertel. Die Kombination mutete fremd an, konnte aber nicht ausgeschlossen werden. Respektable Männer in den Vierzigern oder Fünfzigern waren gefährlich. »Sex ist schlecht.« Je stärker die zu Kinderzeiten eingepflanzte Moral und je gewissenhafter sie sich dieser verpflichtet hatten, desto mehr fixierten sie sich auf das Sexuelle. Als brächen von allen Seiten Staudämme, und inmitten der Flut an Sex-Medien knirschten sie eines Tages mit den Zähnen. »Ich komme zu kurz.« Sie verfolgten das Sexuelle, als würden sie sich dadurch an der Zeit rächen, in der sie lebten, wurden gierig, zügellos. Die Zahl der Männer, die taten, als hätten sie weder Arbeit noch Familie, ging ins Unendliche.

Er hat seine Frau erwürgt, ihre Leiche liegen gelassen und sich zum Kabuki-Viertel begeben. Sich, bevor er sich anzeigt, noch einmal mit seiner »Lieblingsdame« getroffen …

Weder Shiki noch Komine sprachen diese Schlussfolgerung aus.

»Schicken Sie zwei Kommandos nach Tokio. Ich gucke mir noch einmal die Familie von Polizeihauptmeister Kaji an.«

»Unten drängen sich die Reporter rein.«

»Ich weiß.«

Shiki bewegte sich in den hinteren Teil der Abteilung. Er öffnete die Tür, die dem Transfer von Verdächtigen vorbehalten war, ging die Außentreppen hinunter und auf den Parkplatz vor dem Polizeigebäude. Dort sah er einen jungen Mann in der Nähe des Fahndungsfahrzeugs stehen. Nakao von der Tōyō. Zu spät machte Shiki auf dem Absatz kehrt.

»Herr Abteilungsleiter!«

Der Zeitungsreporter, der sich seit seiner Zeit im Leichtathletik-Club an der Uni etwas auf seine Schnellfüßigkeit einbildete, war wie der Blitz an Shikis Seite aufgetaucht und hielt nun Schritt.

»Mussten Sie wohl wieder ran, was?«

»Ich bin nur kurz vorbeigekommen. Schon auf dem Rückweg.«

Shiki drehte sich erneut um und ging in Richtung des Wagens.

»Ist ja schlimm, wie das gelaufen ist, was?«

»Ja.«

»Das hat mich wirklich überrascht. Also, dass der Vize seine Frau ermordet hat.«

»Kannten Sie ihn?«

»Nein. Aber ich hab mal über ihn geschrieben. Kaji hat doch einmal ein Schönschrift-Lehrbuch veröffentlicht und das an Nachwuchspolizisten ausgeteilt.«

»Ja, das hat geholfen! Wenn beim Rotieren der Protokolle falsche oder schlecht leserliche Schriftzeichen auftauchen, wird man zum Gespött der Straftäter.«

»Und? Was war jetzt? Hat der Vize über die Zeit nach der Tat gesprochen?«

»Keine Ahnung.«

»Er scheint sich bei der Ausbildungsabteilung für zwei Tage abgemeldet zu haben. Hat wohl am ersten Tag gesagt, dass er sich schlecht fühlt, und am zweiten, dass er was Wichtiges vorhat.«

»Ach ja?«

Das klang zunächst einmal eigenartig, aber Shiki wurde sofort klar, was passiert war. Hätte er unentschuldigt gefehlt, wäre jemand von der Ausbildungsabteilung zu ihm nach Hause gegangen, um sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen, und hätte gemerkt, dass etwas faul war.

Aber diese Geschichte von seiner gewissenhaften Abwesenheitsmeldung am zweiten Tag rief die Erinnerung an etwas wach, das Shiki in Kajis Gesichtsausdruck zu lesen geglaubt hatte. Wenn jemand daran dachte, sich abwesend zu melden, ließ das zumindest schon einmal darauf schließen, dass er nicht vollkommen neben sich stand. Aber was war danach geschehen? Was hatte er getan, nachdem er seine Abteilung hatte glauben lassen, er sei krank oder habe etwas Wichtiges vor? Seine Wohnung in Ordnung bringen? Dann hätte er das sicher gesagt. Also war er wirklich irgendwo hingegangen. Zum Beispiel ins Kabuki-Viertel.

»Was ist eigentlich mit dem Serienvergewaltiger, Herr Abteilungsleiter?«

Shiki drehte sich ruckartig um. Das war es also, worauf Nakao eigentlich lauerte. Natürlich war die Nachricht darüber, dass sie heute Morgen in die Wohnung von Mitsugu Takano eingedrungen waren, vor den Medien geheim gehalten worden.

»Tja …«

»Ist das ein ›Tja‹ des Triumphs?«

Zum Glück war in Nakaos Gesicht kein Hinweis darauf zu sehen, dass er die Konfrontation suchte. Es war schließlich Nakao selbst, der aufgedeckt hatte, dass das Dezernat I die Serienvergewaltigungen an jungen Mädchen untersuchte. Aus diesem Grund hielten sich die Mitglieder des Dezernats jetzt fern von ihm, und er hatte keinerlei Möglichkeiten, an Informationen über die Vergewaltigungen zu kommen.

Shiki ließ sich auf die Rückbank des Wagens fallen und befahl Tsuchikura, während er noch durchrutschte, abzufahren. Er blickte auf die Digitaluhr des Autos. 11.05 Uhr. Durch den Funk wurde das Kennzeichen eines gestohlenen Autos durchgegeben. Als sie durch das Hintertor des Präsidiums fuhren, blickte Tsuchikura Shiki im Rückspiegel an.

»Ins Hauptquartier?«

»Zur Privatwohnung von Polizeihauptmeister Kaji.«

Tsuchikura verkrampfte sich einen Moment lang, sagte aber nichts und wendete. Die Adern in seinen Augen sahen nicht normal aus. Er hatte wohl nicht geschlafen, obwohl Shiki ihn dazu aufgefordert hatte.

Shiki wählte die Handynummer von Gruppenleiter Kamata.

Mitsugu Takano hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Gerade wurde er mit einem Medikament behandelt, das seinem Körper das Grand Kison entzog, das dann, über ein Abführmittel, ausgestoßen werden sollte.

Gleich würde die Blutreinigung beginnen. Kamata war noch genauso aufgeregt wie in den frühen Morgenstunden, und seine Stimme klang so laut, dass Shikis Ohren schmerzten.

Er legte auf und atmete kurz durch.

Kamata schien beinahe in einer anderen Welt zu sein. Shiki fühlte, wie die Verbrechen des Mädchenschänders in ihm schnell verblassten. Polizist zu sein bedeutete nicht, immer nur für die Gerechtigkeit oder aus Pflichtgefühl zu arbeiten. Es gab Fälle, die man lediglich bearbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und es gab immer Ärger durch internes Kompetenzgerangel oder gegenseitige Behinderung. Aber dieses Mal war es anders. Alle zogen an einem Strang. Alle waren Eltern. Diesem Vergewaltiger konnte niemand verzeihen. Er musste gefasst werden. Alle damit beschäftigten Einsatzkräfte hatten gebeten, keine freien Tage nehmen zu müssen, um ihn suchen zu können, und 62 Tage lang war das auch umgesetzt worden.

Shiki war in Gedanken in Verhörzimmer drei.

Ob er gegen Kaji siegte oder verlor, würde über seinen eigenen Job entscheiden.

Aber nicht nur das. Er war wie wachgerüttelt. Eine Jetzt-oder-nie-Lage. Waren diese sechseinhalb Quadratmeter abgeschlossener Raum der Ort, an dem er wirklich er selbst sein konnte? Er hatte einen Fall nach dem anderen bearbeitet, wollte, wie jeder andere, nach oben und war, eh er sich versah, bis zum von allen Kommissaren beneideten Leiter des ersten Dezernats aufgestiegen. Hatte den Sitz im Mittelpunkt der Division, führte die zahlreichen Untergebenen zusammen und konnte mit einem einzigen Telefonat die gesamte Division zu einem großen Netz flechten, das ihm zu Willen war.

Aber die Frage blieb: Wollte er das überhaupt?

Der Polizeifunk gab keine Ruhe. In der Stadt hatte wohl jemand Fahrerflucht begangen. Ein Notfalleinsatz.

Shiki schloss die Augen und vertraute sich dem Schaukeln des Wagens an.

Er sah einen Maronenbaum vor sich. Den, der früher im Garten seiner Familie gestanden hatte.

Er hatte sich nicht an seine neue Mutter gewöhnen können. Sich im engen Geräteschuppen verkrochen, im Arm die Bücher, die ihm seine verstorbene Mutter gekauft hatte. Hatte sie Tag für Tag gelesen. Ihre Figuren erzählten viele verschiedene Geschichten. Nur während er die Buchseiten umblätterte, war er für kurze Zeit aus seiner Isolation befreit.

Shiki ließ seine Augen geschlossen.

Das angespannte Hin und Her des Polizeifunks hörte sich an wie der Zikadenchor eines heißen Sommers.

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