Читать книгу 50 - Хидео Ёкояма - Страница 7
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ОглавлениеShiki fuhr ins Hauptquartier, mit dem Fahndungsfahrzeug, wie es Abteilungsleitern vorbehalten war.
Da es zu lange gedauert hätte, den Fahrer dafür herbeizurufen, hatte er kurzerhand Wachtmeister Tsuchikura, der Nachtdienst gehabt hatte, das Steuer überlassen. Kaum eingestiegen, erzählte Shiki ihm auch schon vom Fall Sōichirō Kaji. Das Rot in Tsuchikuras Augen, das sich im Rückspiegel zeigte, kam vermutlich nicht allein vom durch Schichtdienst bedingten Mangel an Schlaf.
Mit dem Auto dauerte es etwa 15 Minuten bis zur Zentralstation von W. Shiki saß auf der Rückbank, hatte den Ton des Polizeifunks heruntergedreht und unterhielt sich übers Diensttelefon mit Gruppenleiter Kamata.
Mitsugu Takano war inzwischen im Krankenhaus Kumano angekommen, und sein Magen wurde ausgepumpt. Er war bei schwachem Bewusstsein. Bei der Untersuchung seines blutigen Urins ließen sich Paraquat-Bestandteile nachweisen. Keine vorteilhaften Umstände. Shiki erklärte dem Krankenhausdirektor die Situation und wies ihn an, im Behandlungszimmer stets eine verantwortliche Person zu belassen. Sicher war sicher. Nicht, dass Takano zu vollem Bewusstsein gelangte und sich womöglich noch die Zunge durchbiss; dann wäre alles verloren.
Den Selbstmord verhindern …
Warum hatte Kaji nicht den Tod gewählt?
Das dachte Shiki erneut, als er aus dem Auto stieg. Natürlich hatte Kaji völlig andere Gründe als Takano. »Dadurch, dass ich diese einem Polizisten unwürdige Handlung begangen habe, leidet das Vertrauen in die Präfekturpolizei erheblich. Ich möchte Verantwortung übernehmen. Mein Tod ist meine Entschuldigung.« Hätte Kaji Selbstmord begangen und solch einen Brief hinterlassen, wäre der Schock geringer gewesen als bei der Nachricht, dass er sich selbst angezeigt hatte. Das gehörte sich nicht für Polizisten. Zumal Kaji als Ausbilder ein Vorbild für junge Leute sein musste.
Shiki betrat die Zentralstation. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Exakt 8 Uhr. Im dritten Stock angekommen, öffnete er die Tür zur Kriminalabteilung, woraufhin alle Anwesenden gleichzeitig von ihren Sitzen aufsprangen und ernste Gesichter machten.
Egal, in welche Bezirksdirektion man ging, als Abteilungsleiter für Gewaltverbrechen wurde man mit Respekt empfangen. In der ersten Ermittlungseinheit des Hauptquartiers gab es, neben dem Chef und seinem Vize, die drei Funktionen: Abteilungsleitung, Gerichtsmedizin und die landesweit befugten Untersuchungsbeamten. Auch wenn die Zuständigkeit jährlich wechselte, hatte das Wort dieses Abteilungsleiters, sobald etwas vorgefallen war, höchstes Gewicht. Mord. Raub. Brandstiftung. Vergewaltigung. Nur jemand, der seit langer Zeit der Einheit angehörte, die sich ausschließlich mit solchen blutigen und gefährlichen Fällen beschäftigte und immer wieder Tatorte besuchte, konnte das Recht erwerben, in diesen Posten aufzusteigen. Doch im Verhältnis zu seinen Vorgängern war Shiki insofern ein »Sonderfall«, als er, neben seinen Erfahrungen am Tatort, außerordentliche Fähigkeiten als Vernehmungsbeamter bewiesen hatte.
»Uns bleibt keine Zeit.«
Shiki griff nach der Teetasse, die ihm angeboten worden war, und ließ sich von Komine, dem Chef der Kriminalabteilung, zum alten Amtsgebäude führen. Den kurzen Verbindungskorridor bis zum Verhörzimmer kannte Shiki gut; es war sein früherer »Pendelweg«, den er schon bis zum Erbrechen hin- und hergegangen war.
»Ist Yamazaki da?«
»Ja. Zimmer acht.«
Shiki hatte als Assistenten Polizeiobermeister Yamazaki von der Polizeistation W gewählt. Der war dafür verantwortlich, die Aussagen von Verdächtigen zu protokollieren, und dafür schien ein Sinn für die sich von Moment zu Moment ändernde Stimmung im Zimmer ebenso wichtig wie ein Gefühl für die Koordination der Abläufe mit den Kollegen außerhalb. Nicht jeder konnte das bewältigen. Yamazaki und Shiki hatten zuvor bereits fünf Jahre zusammengearbeitet und waren aufeinander abgestimmt wie Zahnräder einer gut geölten Maschine. Zimmer acht zu wählen war typisch. Verdächtige, die nur schwer zu verhören waren, hatten wundersamerweise schon oft in Zimmer acht gestanden.
Aber gerade heute war kein Tag für Aberglaube.
»Wir nehmen Zimmer drei. Sagen Sie das Yamazaki.«
Mit diesen Worten, an Komine gerichtet, drückte Shiki die Tür zu Zimmer drei auf.
Abgestandene Luft drang ihm entgegen. Hier war es auch nicht besser. Ein enges Zimmer von sechseinhalb Quadratmetern. Ein vergittertes Fenster auf Hüfthöhe. Stahltisch. Zwei einander gegenüberstehende Stühle. Links ein langer Schreibtisch mit Stuhl für den Assistenten. Mehr nicht. In diesem kargen Zimmer stand man den Verdächtigen gegenüber. Das war früher Shikis »zentraler Kampfplatz« gewesen. Hier entschied sich im Psychokrieg, ob man jemanden durchschaute oder selbst durchschaut wurde. Er drehte sich beim Geräusch der Tür um und sah Yamazakis unbekümmertes Gesicht.
»Hey.«
»Lange nicht gesehen.«
»Du bist ganz schön alt geworden.«
»Das geb ich gern zurück.«
Ohne zu lächeln, hielt Yamazaki Shiki ein Bündel von Unterlagen hin.
»Hier erst mal der Haftbefehl und die Aufzeichnung seines Geständnisses.«
Plötzlich klopfte es, ein unerwartetes Gesicht erschien im Türspalt.
»Shiki, ich muss mal kurz stören.«
Es war Sasaoka aus der Verwaltung des Hauptquartiers. Shiki und er hatten zwar zur selben Zeit an der Polizeischule gelernt, doch Sasaoka war ein arroganter Mann, der eine unangenehm elitäre Ausdrucksweise pflegte. Da weder Shiki von Sasaoka noch dieser von ihm besonders nett dachte, konnte Sasaoka kein persönliches Anliegen haben, sondern musste im Auftrag der Polizeiverwaltung hergekommen sein.
Was will der denn?
Hinter Sasaoka stand ein junger Mann im Anzug. Ein Gesicht, das unter dem Seitenscheitel glatt und strahlend war wie das einer Bauchrednerpuppe.
»Das ist mein Untergebener Kurita. Assistent des Chefs der Personalabteilung.«
»Dann ist er … Polizeihauptmeister?«
»Ja, jung, aber fähig. Also benutzen Sie ihn ruhig.«
»Benutzen? Wie meinen Sie?«
»Wissen Sie nichts davon? Er wird Sie unterstützen.«
Wie bitte?
Das Mondgesicht von Iyo, dem Leiter der Polizeiverwaltung, tauchte vor Shikis innerem Auge auf.
»Soll das heißen, dass wir unsere Untersuchungen unter Ihrer Aufsicht durchführen sollen?«
»Nun regen Sie sich mal ab. Der Kollege ist nur als Kontaktperson da.«
»Wir haben selbst genug Assistenten. Ihr Auftritt ist erbärmlich. Nehmen Sie das Kind mit und verschwinden Sie.«
Sasaoka war bis zu den Ohren errötet.
»Das ist ein Befehl des Chefs.«
»Des Chefs welcher Einheit? Des Kriminaldezernats oder der Polizeiverwaltung?«
»Von beiden. Davon können Sie ausgehen. Der Chef des Kriminaldezernats hatte jedenfalls keine Einwände.«
Mit diesen direkten Worten hatte Sasaokas Gesicht einen siegesgewissen Ausdruck angenommen.
Shikis Blut kochte, so enttäuscht war er. Iwamura hatte keine Einwände? Wie weit reichte die Macht der Polizeiverwaltung? Wenn sie Kagami, den Leiter der Zentralstation, als Speerspitze einsetzen konnten, wurde die Polizeiverwaltung, der die Entscheidungen über Personal und Finanzen oblagen, wohl zu einer Ausnahmegewalt, die ihren ungewaschenen Fuß sogar in der Tür zum »inneren Palastzimmer« des Kriminaldezernats, dem Verhörzimmer, hatte.
Sollen die doch machen, was sie wollen.
Shiki ließ sich auf den für die Vernehmungsbeamten reservierten Stuhl fallen.
»In zehn Minuten beginnt die Befragung, also entschuldigen Sie mich.«
»Ja, ich gehe, aber Kurita wird …«
»Hauen Sie ab!«
Es gibt eine bestimmte »Zeremonie« für Vernehmungsbeamte. Yamazaki, der sich dieser Gepflogenheit wohl bewusst war, entfernte sich sofort aus dem Zimmer. Sasaoka und Kurita folgten ihm mit befremdeten Gesichtern.
Das Verhörzimmer war komplett still.
Shiki schloss die Augen. Atmete tief ein und aus.
Vergiss es. Wahrscheinlich ist gar nichts …
Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er musste sich konzentrieren. Autosuggestion. Er fing an, innerlich zu flüstern.
Genau.
Ein Verhör ist ein Buch. Der Verdächtige ist die Hauptfigur des Buches. Und diese Bücher erzählen viele verschiedene Geschichten. Aber ihre Gemeinsamkeit ist, dass die Hauptfigur nicht aus ihnen entkommen kann. Erst wenn wir die Bücher öffnen, werden sie uns etwas erzählen. Manchmal wollen sie uns zu Tränen rühren. Manchmal rufen sie Wut hervor. Sie wollen erzählen. Sie wünschen sich, dass man ihre Geschichte liest. Es genügt, wenn wir leise ihre Seiten umblättern. Sie warten. Warten ungeduldig. Denn wenn wir nicht umblättern, werden sie ihre Geschichte nicht erzählen können.
Shiki öffnete die Augen.
Es war nicht so wie früher. Aber trotzdem hatte er sich beruhigt. Jetzt ließ er sie rufen.
Etwa zehn Minuten später kamen Yamazaki und Kurita ins Zimmer und blieben am Assistentenstuhl stehen. Eine weitere Minute später öffnete sich die Tür hinter Shiki. Jemand wartete, dass er sich umdrehte.
In Shikis Sichtfeld rückte, den Tisch umrundend, ein Mann im Anzug und ohne Krawatte. Er stellte sich direkt vor Shiki, den Tisch zwischen ihnen, das Fenster im Rücken. Ein junger Gefängniswärter löste die Handschellen und Fesseln. Seine Finger zitterten leicht.
»Bitte setzen Sie sich.«
Kurita riss die Augen auf. Denn Shikis Stimme klang wie die eines anderen Menschen. Yamazaki reagierte nicht. Es war genau der »Geständnis-Shiki«, den er fünf Jahre lang erlebt hatte.
Doch innerlich war Shiki aufgewühlt: Als Sōichirō Kajis Gesicht nach seiner Verbeugung sichtbar wurde, war es noch ruhiger und ausgeglichener als Shikis eigenes. Seine Augen kristallklar. Wie können seine Augen so klar sein, obwohl er einen Menschen getötet hat? Obwohl er seine Frau mit eigenen Händen getötet hat, wie können diese Augen …
Shiki warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Es ist der 7. Dezember, 8.23 Uhr. Wir beginnen jetzt mit dem Verhör. Mein Name ist Shiki, vom Hauptquartier, Dezernat I der Kriminalpolizei, Leiter der Abteilung Gewaltverbrechen.«
»Ich bin Sōichirō Kaji. Freut mich.«
Er sprach deutlich und ohne zu stocken.
Shiki klärte ihn über sein Recht zu schweigen auf und spürte dabei, wie sein Verhörer-Blut in Wallung geriet.
Welche Geschichte würde er jetzt lesen?
Die Zeit war begrenzt. Deswegen musste er zuerst das Schlusskapitel lesen und konnte nicht am Anfang beginnen, wie er, einen Moment enttäuscht, dachte.