Читать книгу 50 - Хидео Ёкояма - Страница 18

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8. Dezember, vormittags, 10.30 Uhr. Lokale Staatsanwaltschaft der Präfektur W, Zimmer von Staatsanwalt Sase …

»Herr Staatsanwalt, soll ich ihn langsam reinbitten?«

»Nein … noch nicht«, antwortete Morio Sase, ohne aufzublicken.

Seine Augen waren auf den zehn Seiten langen Brief gerichtet, jedes Blatt mit 28 Zeilen beschriftet. Er brach die Betrachtung ab und notierte sich etwas. Blickte auf die angehefteten Bilder und schließlich wieder auf den Brief.

Er merkte selbst, wie sein Gesichtsausdruck immer wütender wurde.

»Aber Herr Staatsanwalt …«

An der anderen Seite des L-förmigen Schreibtischs saß Staatssekretär Suzuki. Mit finsterer Miene.

»Er ist jetzt schon seit einer Stunde hier. Geht das denn?«

»Egal. Die haben es ja selbst gewagt, drei Stunden zu spät zu kommen.«

Die Polizei hatte sie auf den Verdächtigen warten lassen, der von der Zentralstation von W in die provisorische Zelle des Amtsgebäudes verlegt werden sollte. Und das war kein kleiner Fisch. Sōichirō Kaji. 49 Jahre. Hatte zwar gestern die Disziplinarentlassung erfahren, aber war zum Tatzeitpunkt ein leitender Polizeihauptmeister gewesen, der als Vize der Ausbildungsabteilung des Präsidiums fungierte. Verdacht auf Tötung auf Verlangen. Seine Frau erwürgt, die ihn unter Tränen darum angefleht hatte, sie zu töten.

Sase studierte das Geständnisprotokoll von Kaji, das etwas früher eingetroffen war als Kaji selbst. Das Verhörprotokoll einer Person, die Teil der Präfekturpolizei war, angefertigt von Angestellten der Präfekturpolizei. Je länger Sase es las, desto mehr wandelte sich der Verdacht in seiner Brust zu einer Gewissheit.

Vertuschung … Die Präfekturpolizei versuchte, die Fakten über diesen Vorfall zu verhüllen.

Hinter Sases Augäpfeln kräuselte sich ein kleiner Schmerz. Ein Anzeichen für Zorn. Zuerst immer bei den Augen.

Kaji hatte in der Nacht des 4. Hand an seine Frau gelegt. Der 4. Dezember.

Das war der Todestag seines einzigen Sohnes, der genau sieben Jahre vorher an akuter myeloischer Leukämie gestorben war. Sie hatten tagsüber gemeinsam sein Grab besucht, aber in der Nacht hatte seine Frau Keiko sich aufgeregt, dass sie nicht zum Friedhof gegangen seien. Ihre Alzheimer-Erkrankung war so weit fortgeschritten, dass ihr Gedächtnis nur noch unzureichend funktionierte. Keiko wurde halb verrückt dadurch. Wollte sterben, solange sie sich noch an ihren Sohn erinnerte. Wenigstens als Mutter. Zog Kajis Hände an ihren Hals und flehte ihn immer wieder an. Kaji hatte reagiert. Keiko aus Mitleid erwürgt …

Bis dahin war alles in Ordnung. Kein Raum für Zweifel an der Beschreibung des Tathergangs. Auch das Protokoll selbst war hier präzise, enthielt genug Überzeugungskraft, dass sich die Aussage realistisch und glaubwürdig las.

Das Problem lag bei der »Nachbefragung«.

Kaji hatte Keiko in der Nacht des 4. umgebracht und sich drei Tage später, also gestern, um 7 Uhr morgens, in der Zentralstation gestellt. Der 5. und 6. Dezember, diese zwei fraglichen Tage, warfen jede Menge Zweifel auf. Dem vorliegenden Protokoll zufolge war Kaji am 5. wie benommen gewesen und hatte in einem Anfall versucht, sich selbst zu erhängen. Am 6. war er in der Präfektur umhergestreift, um einen Platz zum Sterben zu finden. Aber Sase glaubte das nicht. Er spürte, dass der Text in Kajis Aussage über den 6. von der Präfekturpolizei erfunden war.

Die Abendausgabe der gestrigen Zeitung hatte den Vorfall im Detail beschrieben, und der Artikel endete mit: »Zwischen der Ermordung seiner Frau Keiko und dem Zeitpunkt, als er sich selbst angezeigt hat, liegen zwei Tage, für die nicht geklärt ist, was der Verdächtige Kaji getan hat, weswegen er weiterhin intensiv von der Präfekturpolizei vernommen wird.«

Das hieß, bis zum Redaktionsschluss der Abendausgabe hatte die Präfekturpolizei noch keine Aussage von Kaji zu den fraglichen zwei Tagen. Das war eigenartig. Ein Polizeihauptmeister im Dienst hatte seine Ehefrau ermordet. Da schien es wahrscheinlich, dass die Chefetage der Präfekturpolizei in der Kommunikation mit den Massenmedien äußerste Vorsicht walten ließ. Aber trotzdem hatten sie keine Antwort auf die Frage nach den zwei Tagen dazwischen vorbereitet, obwohl es logisch war, dass die Reporter sich darauf stürzen würden. Oder von einer anderen Seite aus betrachtet musste Kaji, der so detailliert über den Tathergang gesprochen hatte, im Verhörzimmer kein Wort über die zwei Tage danach verloren haben. Beide Varianten äußerst rätselhaft. Umhergestreift, um einen Ort zum Sterben zu suchen. Wenn das stimmte, warum konnten sie Kaji darüber nach seiner Festnahme kein Wort entlocken?

Diese eigenartige Situation, für die es keine rationale Erklärung zu geben schien, hatte sich auch einen halben Tag nach Kajis Festnahme, bis gestern Abend, nicht verändert. Sase, der durch die Abendausgabe zum ersten Mal von den zwei fraglichen Tagen erfahren hatte, fragte bei der Zentralstation zur Lage des Verhörs nach. Am Telefon saß Kazumasa Shiki, Leiter der Abteilung Gewaltverbrechen des Dezernats I der Kriminalpolizei des Hauptquartiers. Ein unbestechliches Ass der Kriminalpolizei, und auch die Staatsanwaltschaft erkannte seine überragenden Fähigkeiten an. Daraus, wie er darüber redete, ging hervor, dass er die Ermittlung selbst leitete. Kajis Handlungen am 6. wurden, laut Shiki, »zurzeit noch untersucht«. Bei Erscheinen der Abendausgabe, in der von diesen zwei fraglichen Tagen berichtet wurde, war Kajis Aussage, umhergestreift zu sein, einen Ort zum Sterben zu suchen, noch völlig unbekannt gewesen.

Und dann heute Morgen. In der Regionalzeitung Kenmin Times berichtete der Leitartikel der Gesellschaftsseite von einer Sensation: »Am Morgen des fraglichen 6. wurde Kaji auf dem Shinkansen-Bahnsteig des Bahnhofs K gesichtet.« Eine Meldung von erstaunlichem Wert. Wenn stimmte, was dort stand, hatte Kaji Keikos Leichnam zurückgelassen und war Richtung Tokio gefahren.

Sase konnte sich die Panik, die das in der Chefetage der Präfekturpolizei ausgelöst hatte, lebhaft vorstellen. Zugleich erkannte er genau darin die Gefahr, Kajis Zeugenaussage könnte so gefälscht worden sein, dass sie den Absichten der Polizeibehörde zupasskam. Sase, der in seiner Dienstwohnung die Times gelesen hatte, rief sofort in der Zentralstation an und befahl, dass Kaji mit sofortiger Wirkung in die Lokale Staatsanwaltschaft überführt werde. Diese Maßnahme sollte verhindern, dass die Präfekturpolizei weiter in Aktion trat. Doch Kaji wurde erst um 9.30 Uhr in die Staatsanwaltschaft gebracht, fast drei Stunden nachdem der Befehl ausgesprochen worden war. Während dieser Zeit hatte Sase immer wieder am Telefon versucht, die Zentralstation zu drängen; jedes Mal nahm jemand anders den Hörer ab und nannte plausible Gründe wie »Er isst gerade« und »Es wird noch mal ein Foto von ihm aufgenommen«, mit denen die Überführung immer wieder hinausgezögert wurde.

Wahrscheinlich wurde genau während dieser Zeit Kajis Aussage gefälscht, oder er wurde zu einer falschen Aussage gedrängt. Am Ende des Geständnisprotokolls, das kurz vor Kaji selbst eingetroffen war, schien die Entdeckung der Times auf Biegen und Brechen eingebaut und an dieses »Geständnis« angehängt.

Zu lesen stand da Folgendes:

»Am Morgen des 6. Dezembers gegen 5.30 Uhr habe ich das Haus verlassen und bin mit dem Auto zum Bahnhof gefahren. Ich glaube, ich habe dabei einen Ort zum Sterben gesucht. Am Bahnhof kaufte ich ein Ticket Richtung Norden und ging auf den Shinkansen-Bahnsteig. Ich schaffte aber nicht, meinen Wohnort und Keiko zu verlassen, so bin ich nicht in den Shinkansen gestiegen und zurück auf die Straße gegangen. Ich bewegte mich kreuz und quer, zum Kaufhaus, zum Spielplatz, zum trockenen Flussbett. Am Ende konnte ich mich nicht für den Tod entscheiden. Ich weiß nicht mehr, wie und wo ich gelaufen bin. Als ich wieder zu mir kam, war ich bei mir zu Hause angelangt. Ich dachte, dass mir nichts bleibe als eine Selbstanzeige. Also ging ich am darauffolgenden Tag zur Zentralstation, um mich zu stellen.«

So was wollten die ihm tatsächlich auftischen.

Sase stieß die Spitze seines Kugelschreibers in das Protokoll.

Die diffusen Schmerzen hatten sich von der Stelle hinter seinen Augen bis zur Stirn vorgearbeitet. 43 Jahre. Vor anderthalb Jahren von der Sonderuntersuchungskommission der Tokioter Staatsanwaltschaft hierher versetzt. In der Präfektur W war er nach dem Oberstaatsanwalt und dem Unterstaatsanwalt auf dem dritthöchsten Platz der Hierarchie. Und diesem Sase widersetzte sich die lokale Polizei, indem sie den Verdächtigen verspätet übergab, und sie wagte es auch noch, ein gefälschtes Geständnisprotokoll zu senden.

So verzweifelt waren sie also, sich selbst und ihre Organisation zu schützen. Das Protokoll trug nicht die Unterschrift von Shiki, sondern von Yutaka Tatsumi. Ein Untersuchungsbeamter aus dem ersten Dezernat der Kriminalpolizei mit der Befugnis, landesweit zu ermitteln. Posten mit unklarer Aufgabenverteilung, wie Sase gehört hatte. Darunter gab es einige, die direkt aus der Kriminalabteilung stammten, und zum anderen Karrierebeamte aus dem Management oder der Verteidigung, denen eine große Zukunft versprochen wurde und die sich darum bemühten, einen Begriff von Kriminologie zu bekommen.

Tatsumi war wohl einer der letzten Kategorie. Pendelte ständig zwischen Polizeiverwaltung und öffentlicher Sicherheit – das hatte Sase mal in Form eines Scherzes von Tatsumi selbst gehört.

In jedem Fall hatten die einen polizeiinternen Wechsel des Vernehmungsbeamten inszeniert, Shiki, das Ass aus der Kriminalabteilung, entfernt und durch Tatsumi ersetzt, der mit einem Bein in der Verwaltung stand. Das allein schon war Ausdruck des internen Chaos und der Krise. Dass darüber hinaus grünes Licht gegeben wurde, die Aussage von Kaji zum Schutz der Organisation zu fälschen, bezeugte die Durchsetzungskraft der Chefetage in der Polizeiverwaltung.

»Herr Staatsanwalt.«

Suzukis Stimme hallte im Zimmer. 32 Jahre. Er hatte eine solide Arbeitshaltung, aber seine Stimme war nervtötend.

»Was?«

»Machen Sie das …, weil Sie mit der Präfekturpolizei auf Konfrontation gehen wollen?«

Sase verstand, dass Suzuki nervös war.

Von der Sonderuntersuchungskommission der Hauptstadt abgesehen war es selten, dass solche Prüfungen als Einzelermittlungen durchgeführt wurden. Viele Fälle wurden allein von der Polizei bearbeitet, die das erste Ermittlungsrecht besaß, und bei der großen Mehrzahl an Verdächtigen, die sie mit dem Vermerk »Schlucken!« schickte, bestand die übliche Pflicht der Staatsanwaltschaft darin, das alles einmal durchzukauen und dann herunterzuwürgen.

Mit der Polizei auf Konfrontation zu gehen bedeutete nicht nur, dass der Fall erst einmal zum Stillstand kam, es hieß vor allem, dass die alltägliche Arbeit erschwert würde. Im Distrikt war diese Furcht groß. Man wollte so wenig Reibung wie möglich. Einerseits das Gesicht wahren als höhergestellte Ermittlungsbehörde, andererseits großzügige Kooperationsbeziehungen pflegen. Für Beteiligte der lokalen Ermittlungsbehörde war das zweifellos der Hauptgrund.

Und gerade deswegen nicht entschuldbar. Eben weil die Polizei von W diese Intentionen durchschaut hatte, konnten sie leichtfertig solche offensichtlich fabrizierten Aussagen vorlegen.

Dachten die, er würde verdorbenes Futter schlucken?

Sase drückte seinen Finger fest auf die Stirn. Der kräuselnde Schmerz hatte sich im gesamten Schädel ausgebreitet.

»Reinholen!«

Er glaubte daran, dass in diesem einen Wort der Geist des Verhörs steckte. Egal, wer das Gegenüber war, selbst wenn er sich im Hintergrund vorbereitet hatte, würde Sase sich nicht besiegen lassen, wenn er erst einmal jemanden »reingeholt« hatte. Sase betrachtete Suzukis Rücken, der sich aus dem Zimmer entfernte, und spürte seit langer Zeit wieder das Blut durch seinen ganzen Körper fließen.

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