Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 10
ОглавлениеWenn der Vorstandsvorsitzende tagsüber seinen Geschäften nachgeht, stelle ich meine Turnschuhe in den Flur. Die Schuhe, in die ich gegen Bezahlung gesteckt werde, wechseln ständig die Größe.
Jahrelang stand ich im Dienst einer Frau, die Hilfe bei der Organisation ihres Schuhschranks brauchte.
»Stimmt, es war einmal eine alte Frau, die in einem Schuh wohnte«, sagte Farren, »aber hier geht es um alte Schuhe, die bei einer Frau wohnen.«
»Das dürfte zu schaffen sein.«
»Die Einstellung lob ich mir!«, sagte Farren. »Wenn du dich gut machst, kann ich dir noch mehr Märchenjobs verschaffen.«
Beinah hätte ich gelacht, aber Farren meinte es ernst. Ich kenne eine Aushilfe, die ist Taubenphobikerin und hat ein paar Schichten lang Töpfchen und Kröpfchen befüllt. Farren wollte sie für ganze drei Monate vermitteln.
»Kröpfchen schon wieder?«, fragte die Aushilfe. »Kannst du knicken! Lieber krepier ich!«
Sie erzählte mir, dass ihr eine andere Agentur ein besseres Angebot gemacht hatte, irgendwas mit Spreu und Weizen. Aber ich bin mir sicher, dass ihre Einstellung sie auf dem Pfad zur Entfristung ein paar Jahre zurückgeworfen hat.
Die Frau, die mit ihren alten Schuhen zusammenwohnte, hatte ein großes Apartment in Uptown. Noch nie hatte ich so hohe Decken gesehen. Aus den Tiefen ihrer Abstellkammer förderte sie ein prächtiges Bronze-Schuhregal in Form eines Nautilus zu Tage. Es war spiralförmig wie die Flugbahn des Falken, der sich auf seine Beute stürzt. Steil kreist er auf den Erdboden zu, damit seine seitlich am Kopf liegenden Augen das Angriffsziel nicht aus dem Blick verlieren.
»So, sehen Sie?«, sagte die Frau, nahm einen knallorangen Slipper zur Hand und schob ihn in eins der Fächer. »Sie können die Schuhe auch nach Absatzhöhe oder Farbe sortieren«, sagte sie. »Wie es Ihnen gefällt!«
Sie gewährte mir das kleine bisschen Freiheit mit dem großzügigen Gebaren eines Start-up-Investors.
»Wie wäre es, wenn Sie die Schuhe nach Einsatzhäufigkeit sortieren?«, fragte ich.
»Oh, ich trage diese Schuhe doch gar nicht«, sagte sie und lachte. »Dafür gibt es einen anderen Schrank, aber der ist an einem anderen Tag dran.«
Den anderen Schrank habe ich nie gesehen, kein einziges Mal.
Die Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnte, war mutterseelenallein. Deswegen ließ ich ihr auch das eine oder andere unfeine Verhalten durchgehen. Ständig erklärte sie ihre Aufträge für ungültig, sodass jede erledigte Arbeit die Arbeit des Rückgängigmachens nach sich zog. Erst sollte der Karton hierhin, dann sollte er dorthin. Die Lebensmittel, die ich die Treppen hinauftrug, schimmelten, durchliefen die Mauser, wanderten die Treppen hinunter, landeten im Müll. Anfangs dachte ich, sie will mir einen Gefallen tun, indem sie Arbeit fingiert, wo keine ist. Inzwischen weiß ich, dass es sich um ein Spiel handelt, ein ewiges Ungeschehenmachen, das dazu führt, dass man nichts erreicht und sein Leben infrage stellt.
Man sollte meinen, ich hätte meinen Frust an den Schuhen ausgelassen, aber die Schuhe trifft keine Schuld, und ich will doch für alle nur das Beste. Ich trug sie auf Händen, bewahrte sie vor Kratzern und Flecken, befreite sie mit feuchten Lappen und trockenen Tüchern vom Staub. Einfetten, polieren, streicheln. Ein einziges Mal, ich gebe es zu, sind meine Hände in ein Paar lacklederner Pumps geschlüpft und haben – ein Verhaltensrelikt aus meiner Vergangenheit als Schuhputzerin in der Grand Central Station – einen Stepptanz vollführt. Aber nie hat ein Fuß von mir das Leder auch nur eines ihrer Schuhe gedehnt. Wenn meine Arbeitgeberin außer Haus zu Mittag aß, hielt ich einen der rosafarbenen, wildledernen Pumps an meine Wange, er war welpenweich und roch neu und alt zugleich.
Meine Großmutter hatte einen muffigen Schrank voller Sandalen mit klobigen Sohlen. Aber sie waren nicht annähernd so überzeugend wie die Sandalen der Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnte.
An den Wochenenden sprang ich ganz in der Nähe für die Schaufensterpuppen eines Kaufhauses ein, um mir etwas dazuzuverdienen. Der Schaufensterdekorateur arrangierte unsere Gliedmaßen zu ausgefallenen Tableaus.
»Aufs Törtchen legen«, sagte er und hob meinen Ellenbogen auf die überdimensionale Sahnehaube mit Kirsche. »Man muss dir glauben, dass dich dieses gesponserte Feingebäck seelisch aufrichtet«, sagte er und drehte meine Handinnenflächen zu einer flehentlichen Geste gen Himmel. »Und jetzt mach Dessert-Augen!«
Stumm wie Schnee standen wir Schaufensterpuppen während der Feiertage in einem Diorama aus Glitter, Lametta und Licht.
Mein Freund, der ständig in Kaufhäuser rennt, hat mich abends oft in der Delikatessabteilung besucht. Brezeln und Klöße to go. Er hatte ein Auto, und manchmal fuhr er mich nach Hause. Mir gefiel das ramponierte Polster des Beifahrersitzes, die Abnutzung durch schamloses Fläzen. Ich fläzte mich so schamlos in den Beifahrersitz, dass ich manchmal zu schnarchen begann, nur der Gurt bewahrte mich davor, aufs Armaturenbrett zu kippen.
»Ich mag, wenn du dich nach der Arbeit nicht umziehst«, hat er einmal gesagt. Mein Löwendompteusenkostüm war voller Troddeln. »Und jetzt mach Löwenaugen«, hatte der Dekorateur gesagt, »als hättest du gerade den Löwen gezähmt und wärst jetzt selbst der Löwe. Du weißt schon, nicht nur, aber auch.«
Einmal, als ich abends meinen Freund treffen wollte, den, der ständig in Kaufhäuser rennt, ging ich einen Umweg über die Damenmodeabteilung, und dort sah ich sie, die Frau, die mit ihren Schuhen zusammenwohnt, die Frau, bei der ich beschäftigt war. Sie saß in einem kniehohen Meer aus Turnschuhen, Slippern, Stilettos und Sandalen. Um ihre zarte Gestalt verstreut lagen zahllose Größen, Ausführungen und Kartons. Einen Moment früher, und ich hätte vielleicht verpasst, wie sie ihre alten Oxfords ordentlich unter einer der gepolsterten Bänke verstaute und in eleganten Mokassins das Kaufhaus verließ, ohne ihre Neuanschaffung zu bezahlen.
Deshalb hatte ich auch keine Skrupel, noch in derselben Woche ein besonders edles Paar aus ihrem Schrank zu stehlen. Eine Größe zu klein, aber egal. Auge um Auge, Schuh um Schuh. Ich hätte es keine Sekunde länger ertragen, mit anzusehen, wie das Paar ungetragen versauert.
Jetzt stehe ich mit meinem größten Freund an der Bar und trage die fraglichen Schuhe: hohe Stiefel ohne Reißverschluss, die sich nur mit großer Mühe an- und ausziehen lassen. Aber die Arbeit lohnt sich, die Stiefel verwandeln meine Beine in reinste Kalligrafie. Während ich mit Farren telefoniere, klopfen meine Absätze gegen die Barhockerbeine. Sie hat einen neuen Job, einen Job nur für mich.