Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 16

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Wenn eine Aushilfe schwanger ist, wird die Zeit nicht in Wochen, sondern Stunden gemessen. Wir, die wir pro Stunde bezahlt werden, tragen auch unsere Leibesfrucht im Stundentakt. Meine Mutter war 6450 Stunden mit mir schwanger und hat während des Großteils davon steuerpflichtige Arbeit verrichtet, hat Akten abgelegt, hat Tabellen erstellt, hat am Schreibtisch Nudeln gegessen, hat sich mit einem Kissen unter den Füßen auf die Couch gelegt, hat Spaziergänge durch die Stadt unternommen und dabei beruhigende Musik gehört, hat Gummisäume in ihre Hosen genäht, hat den Bus zur Arbeit genommen, hat Nudeln gegessen, hat Tabellen erstellt, hat Strampler genäht, hat aus Angst davor, gekündigt zu werden, ihren Bauch unter weiten Pullovern versteckt, hat die U-Bahn zur Arbeit genommen, hat immer mehr zugenommen, hat Tabellen erstellt, hat ihre geschwollenen Füße aufs Kissen gelegt, hat weite Pullover noch weiter gemacht, hat Spaziergänge unternommen, Musik, noch mehr Nudeln.

»Pass bloß auf, sonst wirst du noch arbeitslos«, hat meine Großmutter zu meiner Mutter gesagt. Nie zuvor hatte meine Mutter dieses Wort aus dem Mund meiner Großmutter vernommen.

»Doch nicht vor dem Baby!«, sagte meine Mutter und legte die Hand auf ihren Bauch.

»Pass bloß auf, sonst endest du noch als Hexenangestellte«, sagte meine Großmutter.

Was keine bloße Redewendung war. Nichts ist schlimmer als Hexenarbeit, nichts beschämender. Hexenarbeit ist die letzte Option für schwer vermittelbare Aushilfen, und in der 4016. Stunde landete meine Mutter genau dort, bei einer Hexe.

Mit Einzelheiten hielt sich meine Mutter zurück.

»Papierkram vor allem«, sagte sie immer, wenn ich mir die Augen zuhielt und sie fragte. Ich stellte mir wunderbare und übernatürliche Schrecken vor.

»Kesselschrubben, klar. Zauberspruchkorrektorate. Zaubertrankfaktenchecks. Ab und zu auch mal eine Friedhofsmobilmachung und unterirdische Rituale.«

Mir klappte die Kinnlade runter, meine Mutter strich sich die Bluse glatt.

»Aber vor allem Besorgungen«, sagte sie.

»Und was ist mit Kobolden?«, fragte ich. »Und mit Besen?«

Aber meine Mutter zuckte immer nur mit den Achseln und aß ihre Nudeln.

In Wahrheit war sie damals besorgt gewesen, dass der Job auf mysteriöse Weise an ihrer Schwangerschaft, und damit an mir, haften bleiben könnte. Wenn sie abends ihre Heimreise antrat, zählte sie jeden Straßenzug aufs Neue die Stunden nach, um sicherzugehen, dass ich nicht zu früh kam, nicht zu spät, sondern auf die Stunde genau und pünktlich wie die Eisenbahn.

Ungefähr in der 6430. Stunde fuhr die Hexe meine Mutter ins Krankenhaus.

»Mit dem Auto? Wieso hat sie dich nicht einfach geflogen?«, fragte ich.

Meine Mutter lachte. »Versuch du mal mit einer Hochschwangeren auf dem Rücken zu fliegen!«

Geburtstage sind keine große Sache für Aushilfen. Meist übernimmt man den Geburtstag der Arbeitskraft, die man vertritt. Kein Kuchen, keine Papierschlangen, keine großen Buchstaben, die sich auf eine Schnur gereiht durchs Büro ziehen, es sei denn, es steht »Glückwunsch, Karen« drauf und man vertritt Karen an ihrem Geburtstag. Trotzdem erwache ich jedes Jahr an meinem Geburtstag auf die Minute genau in der Stunde meiner Geburt. Trotzdem kann ich mich an die Nacht erinnern, in der ich in die Welt und die Arme meiner Mutter kam und weitergereicht wurde zu meiner am Fenster sitzenden Großmutter und schließlich in die zierlichen Hände der Hexe.

Ich habe es ihr nie gesagt, aber meine Mutter hatte den richtigen Riecher, etwas ist an mir haften geblieben. Weil mir die Hexe mit dem Daumen über die Stirn strich, muss ich mich jedes Jahr an den Tag meiner Geburt erinnern, bin ich gezwungen, auch dann, wenn ich nicht aus meiner fremden Haut kann, einen Teil von mir anzuerkennen.

Das ist es, worüber ich nachdenke, am Abend des Tages, an dem ich geboren wurde, während ich in Gestalt von Darla neben Pearl liege, das Kopf auf dem Kissen, die Hände unter der Wange.

Die Hauptsache

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