Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 8

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Jeder weiß: Farrens Premiumkunden haben Rang und Namen. Sind Staatsoberhäupter und Sternechefs, Industrielle und Kriminelle.

Ich arbeitete mich hoch wie alle anderen auch. Fing an mit den lausigsten Jobs, ohne die keine Stadt schön sein kann.

Ich putzte die Schuhe von Showbiz-Legenden, die kesse Sohlen durch Grand Central steppten. Heimlich brachten sie mir ein paar Schritte bei.

Ich putzte die Fenster von Wolkenkratzern, die wirklich an den Wolken kratzten, mit ihren Wetterfahnen, Satellitenanlagen, stählernen Stangen wie Stiletti. Manchmal rutschte ich putzend und twistend gefühlte Stunden die Fassaden hinunter. »Vom Himmel ins Gewimmel«, sagten meine Putzkollegen. »Von Gottes Pforte zur verdienten Torte«, lautete die übliche Antwort, dann gab es Kaffee und Käsekuchen – oder Götterspeise, je nach Tagesangebot.

Später versuchte ich mich als menschliche Ampel. Was für ein Gehampel. Dann warf ich Leuten Knüppel zwischen die Beine, wortwörtlich, an einer Jahrmarktbude für Masochisten. Ich sprang für den Postboten ein, für den Wandmaler auf der Tenth Street und für die Frau, die sich jeden Tag ein Taxi aus dem Verkehr winkt, an der riesigen Kreuzung, na, Sie wissen schon. Sie winkt mit so viel Verve, dass die Touristen jedes Mal ganz aus dem Häuschen sind. Aber ich steige nie ein! Ich winke immer nur.

Schließlich beauftragt mich Farren, für den Vorstandsvorsitzenden eines omnipräsenten Großkonzerns einzuspringen: Omni Corp.

Ich unterschreibe kryptische Dokumente, sitze in Telefonkonferenzen, staple und stemple Memos – Fiduziar, Filibuster, Finanzen, Finessen – und tapeziere die Wände mit Ölbildern von Leuten, die auf einer Liste mit den Kunststars von morgen stehen. Und noch bevor sich mir ein Zusammenhang erschließt, sind meine Aufgaben auch schon erledigt. Ein jeder hat sein Päckchen mit lästiger Arbeit zu tragen, und ich, was soll ich sagen, bringe leere Päckchen zurück.

Als Vorstandsvorsitzender trage ich zu meinem Anzug ein apart gepunktetes Tuch, das ich mir wie eine Krawatte um den Kragen binde. »Auf Kleinigkeiten kommt es an, aber nicht nur«, pflegte meine Mutter zu sagen.

»Wenden wir uns der Abstimmung zu?«, fragt meine Assistentin. Unruhe im Saal, alle sind anwesend. Ich sitze an der Stirnseite und vertrete den Vorstandsvorsitzenden.

»Dürfte ich um Handzeichen bitten?«, fragt ein Aktionär.

»Niemals«, sagt ein anderer Aktionär, der mehr Gewicht hat. »Es wird anonym abgestimmt oder gar nicht.«

»Starke Worte von einem, der ein ganzes Jahr auf keiner Aktionärsversammlung gewesen ist«, murrt der erste Aktionär.

»Ich habe Verpflichtungen! Viele!«

»Ich schlage ein neues Abstimmungsverfahren vor«, sagt ein durch und durch irrelevanter Aktionär. »Zunächst stimmen wir so ab, wie unsere Großmütter mutmaßlich abgestimmt hätten, dann stimmen wir so ab, wie unsere ungeborenen Enkelkinder mutmaßlich abstimmen würden, und zum Schluss berechnen wir, unter Zuhilfenahme eines komplizierten Systems aus Tabellen und Graphen, aus diesen beiden hypothetischen Werten die Hypotenuse, deren Wert wir im Namen unserer Vorfahren und Nachfahren zum Abstimmungsergebnis erklären.«

»Dieser Aktionär ist durch und durch irrelevant«, flüstert meine Assistentin.

»Dürfte ich erfahren«, frage ich mit einem Räuspern, »worüber wir eigentlich abstimmen?«

»Über Turnus und Gegenstand zukünftiger Abstimmungen stimmen wir ab!«, heißt es unisono.

»Und«, sagt ein Mann am anderen Tischende, »wie wäre es, nun ja, wenn wir diesen Gegenstand vorerst auf Eis legen?«

Der Vorschlag sorgt für erleichterte Seufzer. »Ja, ja, ja!« Zustimmung im Saal. Meine Assistentin geht hinaus, kommt nach einer Weile mit einer dampfenden Schüssel voller Trockeneis zurück und legt die Briefing-Mappe hinein. Die Versammlung ist beendet.

Der Hauptsitz von Omni Corp: gewaltige Ausmaße, geringer Wiedererkennungswert. Heißer Kaffee, warme Cola, rekordverdächtige Snackvorräte. Bananen, Süßigkeiten, Müsliriegel. Die Mikrowelle riecht nach Popcorn. Die Raucherpausen sind lang, und mitrauchen empfiehlt sich, also gewöhne ich mir die obligatorische Zigarette an, in der Gewissheit, dass ich diese Marotte für einen anderen Job, irgendwann, wieder ablegen muss, mir die bittere Kippe aus dem Mund schlagen werde. Die Gewissheit stopfe ich wie einen Kassenzettel in die Tiefen meiner Handtasche.

Während ich an der dritten Zigarette meines Lebens ziehe, fällt mir eine Frau auf, die schluchzend in der Nähe des Eingangs steht. Vielleicht habe ich in einem meiner morgendlichen Meetings ihr Erwerbsleben auf Eis gelegt. Vielleicht auch Schlimmeres. Ich gebe ihr mein gepunktetes Tuch, damit sie ihre Tränen trocknen kann, und schlüpfe in die Rolle der Trost spendenden Unbekannten, eine unbezahlte Beschäftigung, der nachzugehen ich umso entschlossener bin.

»Ich arbeite hier seit vierundzwanzig Jahren!«, schluchzt sie.

»Ich arbeite hier seit vierundzwanzig Stunden!«, sage ich und drücke ihre Schulter. Sie beweist Klasse und lacht und lässt sich trösten. Wer sich trösten lässt, vollbringt eine gute Tat, weil auch der Tröstende etwas davon hat. Ich bin dankbar, diese Funktion ausüben zu dürfen. Ich drücke noch einmal ihre Schulter, dann ein drittes Mal, diesmal zu lang, und dann ein viertes, eindeutig unangebrachtes Mal. Sie hat umwerfende Arme. Welcher Idiot feuert so umwerfende Arme?

»Äh, okay«, sagt sie und geht los und lächelt über ihre potenziell verletzte Schulter hinweg. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich ein Niemand bin, und das bin ich wohl auch.

An meinem letzten Tag bei Omni Corp bleibe ich nach Feierabend im Büro. Ich mag es, meine Arbeitszeit zu entgrenzen und länger zu bleiben als nötig. Mit jeder Minute, die zusätzlich vergeht, spüre ich, wie meine Unentbehrlichkeit schwindet. Das Gefühl, das mich dabei überkommt, ist überwältigend und schwer zu beschreiben, als würde ich einschlummern oder sterben.

Oh, so ein Bürogebäude in den Abendstunden! Man kann unbemerkt auf Toilette gehen. Man kann schmutzige Tassen abwaschen, Geschosse aus Gummibändern basteln und Büroklammern zu Trapezen verhaken. Die Deckenbeleuchtung wird von einem Bewegungsmelder gesteuert, und nachdem meine Kollegen ihre Arbeit beendet haben und es dunkel ist, ziehe ich mich ins feierabendliche Glühen meines Eckbüros zurück. Es gibt nichts Einsameres als Lampen, die nach einem langen Tag von selbst ausgehen, weil niemand da ist, der ihnen den kleinen Gefallen erweist, ausgeknipst zu werden.

Bei meiner letzten Exkursion in den begehbaren Snackschrank stelle ich umgeben von Türmen aus Lakritzschnecken fest, dass ich nicht allein bin. In der hintersten Ecke des Kämmerchens sitzt ein Mann und knackt einhändig Pistazien.

»Sind Sie fertig?«, fragt er. »Mit Ihrer Arbeit?«

»Fast«, sage ich zum Vorstandsvorsitzenden. Ich erkenne ihn wieder, er sieht aus wie auf dem Porträt im Foyer, aber nicht wie auf dem Porträt in seinem Büro, das ihm nicht gerecht wird. Er ist eine lange dünne Bohnenstange mit dichtem weißem Haar und Einstecktuch im Anzugjackett. Vielleicht erkenne ich ihn wieder, weil ich ihn schon einmal gesehen habe. Schließlich ist er eine große Nummer, sowohl numerisch als auch physisch.

»Wieso verstecken Sie sich?«, frage ich ihn.

»Ich verstecke mich nicht, ich sterbe.« Er knackt noch eine Pistazie, isst die Nuss und dann beide Schalenhälften. »Haben Sie Kapazitäten? Jetzt, wo Sie mich nicht mehr vertreten müssen?«, fragt er. »Ich hätte da ein etwas ungewöhnliches Anliegen.«

Ich verweise ihn an meine Agentur, an Farren, aber er hat schon mit ihr gesprochen. Das Leben ist schneller als jedes Protokoll. Und so landet irgendwann der Karton vor meiner Tür. In dem Karton ist eine Urne, und in der Urne ist der Mann, und der Mann ist Asche.

»Du sollst ihn mit dir herumtragen«, sagt Farren. »Er war ein Mann von Welt und die ganze Zeit auf Achse, und das soll auch so bleiben.«

»Und wann ist der Auftrag zu Ende?«, frage ich.

»Geht in der Unendlichkeit dieser Welt jemals irgendetwas zu Ende?«, fragt Farren. Ich kann hören, wie ihre Fingernägel auf den Schreibtisch trommeln.

Die Hauptsache

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