Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 13
ОглавлениеIch hefte die Logbucheintragungen ab und sorge für Ordnung auf den Schreibtischen. Ich schrubbe das Deck und staple die sauberen Firmeneimer. Ich finde Dreck auf dem Deck, um den sich niemand gekümmert hat, und kümmere mich darum. Ich studiere Das große Buch der Piratenprobleme, Das große Buch der Piratenverbrechen und Das große Piratenbastelbuch. Der Job hat sein eigenes Tempo, übers Knie brechen kann man hier nichts.
Farren hat versprochen, dass ich anständig bezahlt werde, aber eigentlich weiß ich gar nicht, was ein anständiges Gehalt ist, weil ich mich mit Wasserfahrzeugen nicht auskenne. Andererseits kann ich mich an ein schmales Kanu erinnern, das in meiner Kindheit an einem grasigen Seeufer lag.
Einmal bezahlen sie mich mit drei roten Edelsteinen, die in einen Fensterbriefumschlag eingeklebt sind.
Der Mann, der die Lohntüten austeilt, hat lange wuschelige Haare und ein Grübchen am Kinn. Nachts stromert er übers Schiff und plappert die Gespräche vom Tag nach. Er erinnert mich an meinen koffeinsüchtigen Freund, mit dem ich für den Nervenkitzel zusammen bin. Manchmal hockt sich der Mann auf einen Mast, reckt die Nase in den Himmel und flattert ein bisschen mit den Armen.
»Er springt für Maurice ein, unseren Papagei«, erklärt mir der Assistent der Geschäftsleitung.
Abends, wenn die Logbucheintragungen vom Tag abgelegt sind, sehe ich von Weitem den Papagei-Mann. Ich freue mich, dass ich nicht die einzige Vertretung bin.
Als sich unsere Wege endlich kreuzen, hindert er mich mit der Hand oder dem Flügel am Weitergehen, legt mir den anderen Handflügel ins Kreuz und führt mich in eine Ecke, in der wir ungestört sind. Dann fällt er aus der Rolle, und sein Gesicht wird ganz weich und verformt sich, komplett und auf unerwartete Art. Wo die Haut glatt war, wachsen ihm Stoppeln. Er sieht jetzt völlig anders aus. Er sagt, dass ich bald über die Planke muss.
»Die werfen dich über Bord, wart’s nur ab«, sagt er ganz ruhig. Er ist überhaupt nicht mehr wie mein koffeinsüchtiger Freund. Seine Hand liegt noch immer in meinem Kreuz und bewegt sich kein bisschen. Seine Hand, ruhig wie eine Wand.
»Wie bitte?«
»Wart’s ab. Bald musst du über die Planke.«
»Aber das verstehe ich nicht«, sage ich.
»Nur damit du’s weißt«, sagt er, als wären klare Worte nichts als Firlefanz. Dann baut er sich wieder um und kopiert Maurice den Papagei.
Ich beachte ihn kaum. So wie fast alle hier. In jedem Büro gibt es einen langhaarigen Typen mit krautigen Koteletten, der Zeug erzählt, das keiner hören, und der als Vogel durchgeht. Wenn er mich nervt, melde ich ihn beim Ersten Offizier des Personalmanagements. Oder ich setze mich an meinen Schreibtisch mit dem winzigen Bullauge, schaue auf die Wellen und bin zufrieden. Die Aussicht verändert zwar nicht mein Leben, aber schön ist sie schon. Arbeitsplätze mit Fenster sind selten, Meerblicke sowieso.
Die meisten Leute hier sind nett, auf eine unmissverständliche, zunickende Art. Jeden Morgen, wenn wir für unseren Piratenfraß anstehen, unterhält sich die Frau im Patchwork-Rock mit mir.
Sie sagt: »Guten Morgen, Darla!«
Ich sage: »Guten Morgen auch dir!«
Sie schaufelt sich Rollmöpse auf den Teller und wirkt furchtbar enttäuscht, weil sie weiß, dass ich nicht Darla bin, dass ich kein Bedürfnis habe, Darla zu sein, dass ich Darla nicht verinnerlicht habe und nur so tue, als wäre ich Darla. Wenn man jemanden präzise ersetzen will, braucht man knallhartes Einfühlungsvermögen. Ein Mensch ist ein Geflecht aus Nerven, Adern und Beziehungen, und das Geflecht muss entflochten werden wie eine Kette, die sich verknotet hat, damit man sich von Kopf bis Fuß in die Sauerei einhüllen und darin verschwinden kann.
Ich gehe über meinen Rollmöpsen in mich. Ich will erspüren, was Darlas Abwesenheit für die anderen bedeutet, und ziehe dafür eine uralte Reflexionstechnik heran, die Aushilfen manchmal benutzen. Es ist keine gewöhnliche Technik. Normale Angestellte würden »Glotzen« dazu sagen. Die Frau im Patchwork-Rock sitzt allein an ihrem Tisch und glotzt kaltblütig zurück. Ich spüre, dass Darla geliebt und gefürchtet wurde, und will mich ihr angleichen, damit ich in ihre Fußstapfen passe. Ich schlage mit flacher Hand auf Rücken in rauen Mengen und lache, dass sich die Planken biegen, dann wieder gehe ich mit düster-leerem Blick auf dem Deck hin und her. Mal dies, mal das.
»Nicht schlecht«, sagt der Kapitän, als er mir auf einem meiner Ausflüge begegnet. »Gar nicht mal schlecht.«
»Danke«, sage ich, frage mich aber sofort: Würde sich Darla bedanken?
Unter der Dämmerung und über der Fischsuppe, die es zum Abendbrot gibt, erklären mir meine Kolleginnen und Kollegen, was Darla keinesfalls tun würde.
»Nie würde Darla sich feige rächen«, sagt der Piratenkapitän.
»Darla würde abstechen, abstechen, abstechen«, wiehert der Assistent der Geschäftsleitung, der sich keine gereimte Pointe entgehen lässt. Der Kapitän rollt mit den Augen.
»Nie würde Darla einer Dame ihren Pudding klauen«, sagt die Frau im Patchwork-Rock, »vor allem dann nicht, wenn ›Pearl‹ auf dem Pudding steht.«
»Nie würde sich Darla Kaffee kochen«, sagt der Assistent der Geschäftsleitung, »und den vollen Kaffeefilter in der Maschine lassen, was in letzter Konsequenz nur dazuführt, dass der Nächste an der Kaffeemaschine keinen frischen Kaffee kochen kann, und nie würde Darla keinen frischen Kaffee kochen, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hat, und jetzt kommt das Wichtigste, schreib’s dir hinter die Ohren, nie würde Darla viel Wind darum machen, dass sie frischen und brühend heißen Kaffee gekocht hat, denn frischer Kaffee ohne viel Wind ist wie ein Liebesbrief im Spind, ein absoluter Traum, und wer trotzdem glaubt, Wind machen zu müssen, hätte besser gar keinen Kaffee gemacht, überhaupt keinen niemals! Von wegen willst du jetzt etwa ’ne Belobigung fürs Kaffeekochen, oder was? Kapiert?«
»Würde Darla Bockbier trinken?«, frage ich.
»Das würde Darla durchaus«, sagt die Frau im Patchwork-Rock namens Pearl und reicht mir ihre Feldflasche. Langsam habe ich den Dreh raus, denke ich.
»Und nie würde Darla auf bezahlte Überstunden bestehen«, sagt der Piratenkapitän.
»Fürwahr! Fürwahr!«
»Darla doch nicht!«
»Und nie würde sie eine Abfindung wollen«, fügt der Piratenkapitän hinzu.
»Stattdessen lässt sie Köpfe rollen«, verkündet der Assistent der Geschäftsleitung und lacht sich schlapp. Diesmal packt ihn der Kapitän am Kragen, hebt ihn in die Luft und wirft ihn über Bord. Einen Moment lang herrscht Stille.
»Nie würde Darla nicht tanzen«, sagt die Frau des Piratenkapitäns, schwingt ihren Löffel wie einen Taktstock und dirigiert uns über Deck, bis es dämmert. Der Mond steht hoch am Himmel, und vor dem blauen Horizont schlingert das Schiff hin und her. Wir torkeln aufeinander zu und voneinander weg. Wir tanzen comme il faut, wir scherbeln und twisten und schwofen. Der Papagei-Mann und Pearl spielen Gitarre und Schlagzeug.
»Conga!«, kräht der Kapitän, und Conga wird getanzt.
Wir suchen uns einen Schlafplatz unter den blasser werdenden Sternen, und ich stelle mir vor, wie Farrens glitzernde Nägel am frühmorgendlichen Himmel funkeln. Der Wind weht über unsere Körper wie ein kühles Laken.
»Nie würde Darla nicht tun, was man von ihr verlangt«, säuselt der Erste Offizier des Personalmanagements. Sein Kopf liegt an meiner Hüfte, unsere Körper bilden ein T.
»Gehorsam ist entscheidend!«, erwidere ich.
»Nie würde sie Nein sagen«, sagt er und presst seine Hand auf meinen Schenkel, »denn eine Darla sagt nicht Nein.« Er mobilisiert all seine Führungskraft und rollt sich auf mich. »Darla macht so was ständig.«
»Ja?«, frage ich.
»Klar«, sagt er und presst sich gegen mich. »Irgendwie schon.«
Hiermit wäre nun also geklärt, dass die Crew von mir verlangt, anders zu sein als Darla. Es kann vorkommen, dass man im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses bei der Befriedigung von Bedürfnissen assistiert, von denen in der Stellenausschreibung keine Rede war. Dem Ersten Offizier des Personalmanagements gegenüber verhalte ich mich so, wie es seine mit Nachdruck vorgetragene Vorstellung von Darla erfordert. Er ist nicht der erste Mann, der falsche Vorstellungen von einer Frau hat, und seine Hand unter meinem Rock unter den Segeln unter dem Himmel bemerkt niemand, am wenigsten Darla.
Spät in der Nacht oder früh am Morgen wird das Amulett auf meiner Brust ganz heiß. Der Vorstandsvorsitzende sitzt am Ende der Planke und isst Pistazien.
»Und? Kannst du mit dem Piratenleben was anfangen?«, fragt er.
»He-ho, geht so«, sage ich.
»Streng dich an, Kleine. Du gibst dir ja gar keine Mühe.«
»Doch. Ich zeige mich von meiner besten Seite. Ich präsentiere mein bestes Ich.«
»Ach ja? Und welches Ich soll das bitte schön sein?«, fragt er.
Ich denke an die vielen verfestigten, voneinander getrennten Ichs in mir, die sich untreu sein müssen, damit sie nebeneinander existieren können.
»Wo ist dein Ehrgeiz?«, regt er sich auf. »Wo sind die Leichen, über die du gehst?«
»Das ist nicht so mein Stil«, sage ich und erspüre mit den Zehen das Ende der Planke.
»Ich erzähl dir jetzt mal was«, sagt er. »Mein erster Pudel hieß ›Stil‹, und die Insel, die ich mir mal gekauft habe, hieß auch ›Stil‹, und ich hab ›Stil‹ immer wie Schtiel ausgesprochen, einfach so, weil ich’s konnte. Ich hab Stil im Grunde erfunden.«
Mein Blick wandert zum Horizont, hoffentlich taucht die Insel des Vorstandsvorsitzenden auf. Als ich wieder zu ihm sehe, ist er weg.
Noch schlafen fast alle auf Deck. Der Erste Offizier des Personalmanagements, ein zufriedenes Häuflein Mensch, kuschelt mit sich selbst. Der Assistent der Geschäftsleitung klettert über die Strickleiter wieder an Bord, seine Sachen sind klatschnass.
»Hi«, sagt er schüchtern. Dann geht er unter Deck und zieht sich um. Ich koche ihm den besten Kaffee, den er je getrunken hat, dann noch einen, und wir verlieren kein Wort darüber.