Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 9
ОглавлениеDen Vorstandsvorsitzenden umzubetten ist eine haarige Angelegenheit. Mein praktischer Freund hilft mir bei der Konstruktion eines winzigen Papiertrichters, mit dem ich die unruhig rieselnden Überreste in das Medaillon einfülle.
Das Medaillon ist ein umgewidmetes Geschenk von meinem praktischen Freund und enthielt früher ein Tröpfchen seines Lieblingsbourbons. Ich weiß noch, wie spröde seine Gesichtshaut war, in der kalten Nacht, als er es aus der Jackentasche zog wie ein Kaninchen aus einem Zylinder, flink und liebevoll und strahlend vor Selbstzufriedenheit. Schmuck sei ein Zeichen der Zuneigung, hatte man mir gesagt. Wie Haustiere, wie Blumen.
»Das habe ich geschmiedet, für dich!«, sagte er mit erwartungsbehauchter Stimme und vollführte ein Kunststück von der Art, die mich so richtig vom Hocker haut: Er öffnete mit wurstigen Handschuhfingern den Kettenverschluss. Er erwartete, dass ich die Kette täglich trug. Erwartung troff ihm aus allen Poren. Ständig lauerte er darauf, dass man ihn beglückwünschte, zu dieser einen Nettigkeit an diesem ganz bestimmten Tag. Zum Glück sahen wir uns höchstens einmal im Monat, so konnte ich ihm ein Märchen erzählen, in dem ich die Kette tagtäglich trug. In dem Märchen trug ich sie ewig und drei Tage, und sobald sich unsere Wege trennten, nahm ich sie nie und nimmer ab.
Sie ist schön. Sie sieht alt aus, wie etwas mit Geschichte. Es ist nicht so, dass mir an der Kette nichts liegt. Aber mir liegt nichts daran, ein falsches Bild zu vermitteln. Oder ein richtiges. Ich will gar nichts vermitteln. Auf keinen Fall will ich meinen praktischen Freund pikieren.
Mein praktischer Freund, der jetzt Asche auf den Fußboden meiner Wohnung trichtert, wirkt nicht so, als wäre ihm seine Aufgabe zuwider, er lässt auch keine Anzeichen von Ärger erkennen. Nur die Ahnung einer Grimasse, die sich im Verborgenen regt, umspielt seine lächelnden Mundwinkel, als wollte er sagen: So war das aber nicht gedacht.
Nach mehreren Pannen, einem Aschehäufchen auf meinem Teppich, einem Zwischenspiel mit dem Staubsauger und einem Besuch der Fusselbürste haben wir einen kleinen Teil des Vorstandsvorsitzenden umgebettet und auf meinem Körper platziert, so wie es ihm gebührt. Ich streiche mir die Haare aus dem Nacken in Vorbereitung auf die Kette. Ich greife nach dem Saum meines Shirts in Vorbereitung auf meinen Freund.
Später, als er auf der Couch ein Nickerchen macht, verstaue ich die übrigen Überreste des Vorstandsvorsitzenden im Karton, und den Karton verstaue ich in meinem Schrank, in einem Winkel in der Wand, der einer kleinen Höhle gleicht, einem Schränkchen im Schrank für Knabberzeug, einer Katakombe, einer Gruft, vor der meine Business-Handtaschen und Nieten-Clutches, meine gestreiften ärmellosen Oberteile, die geschlitzten Röcke und pillerigen Pullover Wache halten.
Und was ist mit der Beerdigung? Und was ist mit der Familie? Frage ich mich.
Am Tag darauf geht mein erstes Gehalt aus dem Nachlass des Vorstandsvorsitzenden auf meinem Konto ein. In der Woche darauf wird die Kette auf meiner Haut ganz heiß.
»So also lebt das gemeine Volk!«, sagt er. Er steht auf der Couch, tippt mit der Hand an die Zimmerdecke, springt auf den Boden, wo er sich setzt.
»Sie hier?«, frage ich. »Wie kann das sein?«
»Männer von Welt sind immer auf Achse!«, sagt er, als wäre nichts offensichtlicher als das.
Ich sehe erst die Kette an und dann ihn. »Erfüllen Sie auch Wünsche?«, frage ich.
»Sehe ich aus wie ein Flaschengeist?«, fragt er zurück und löst sich in Luft auf.
Meine festen Freunde gewöhnen sich allmählich an meine neuen Marotten. Dass ich aus heiterem Himmel leere Stühle anstarre. Dass ich beim Abendessen Selbstgespräche führe.
»Verstehe, der Vorstandsvorsitzende hat also wieder beschlossen, uns Gesellschaft zu leisten«, sagt mein agnostischer Freund, lässt die Knöchel knacken und würde sterben für ein Gespräch über den Tod.
»Ist er denn, na ja, so richtig groß?«, fragt mein größter Freund. »Also, ich meine, größer als ich?«
»Fast«, sage ich.
»Und was hast du ihm von mir erzählt?«, fragt mein Lieblingsfreund. Ich lüge. Die Wahrheit ist, ich habe ihm gar nichts erzählt.
»Wann gehen Sie denn endlich auf Achse mit mir?«, beschwert sich der Vorstandsvorsitzende. »Ich bin ein Mann von Welt und bekomme nichts mit von der Welt! Wir unternehmen ja nichts!«
Ich ziehe meine Turnschuhe an, und wir gehen joggen im Park. Die Hunde lenken ihn ab. Er versucht, jeden zu streicheln, aber ohne Erfolg.