Читать книгу Die Hauptsache - Hilary Leichter - Страница 15

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Worin die Arbeit an Bord wirklich besteht, weiß ich nicht, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Wir sitzen im Krähennest, und Pearl erklärt mir, dass wir Investoren suchen und wenn nötig auch stehlen. Bald gehen wir auf die Suche nach Venture-Kapital.

»Der Kapitän sagt Adventure-Kapital dazu«, erklärt sie, und ihre Füße baumeln über Deck, umkreisen einander wie Vögel, eine Verfolgungsjagd im Miniaturformat. »Beute machen«, flüstert sie.

»Und ist das gefährlich?«, frage ich.

»Klar«, sagt sie, »aber ein Tacker in den falschen Händen ist auch gefährlich.«

Pearl ist eine erfahrene Verhandlerin, ihre Räuberpistolensammlung wird mit jedem Auftrag größer. Sie schaukelt Bilderbuchbeutezüge und lässt ihre Opfer glauben, sie hätten die Sache für sich entschieden. Wir sollten nach einer Lösung suchen, die für beide Seiten befriedigend ist, sagt sie, während ihre Schiffskameraden brandschatzen und plündern. Diese Taktik ist ihr Markenzeichen. Sie brüstet sich, dass sie den Kapitän dazu bringen könnte, sie zur alleinigen Kapitänin zu befördern. (»Doppelspitze? Niemals!«) Dass sie den Himmel dazu bringen könnte, zu donnern. Dass sie einen Fisch dazu bringen könnte, zu fliegen.

»Wie Fliegende Fische, meinst du?«, frage ich.

»Nein, wie Möwen. Wie diese mistigen Möwen.«

Sie stört sich daran, dass keiner ihrer Kollegen eine Augenklappe trägt. »Der Job wäre so viel einfacher«, sagt sie und will mich dazu überreden, ein Vintage-Modell aus braunem Leder mit filigraner Totenkopfstickerei anzulegen.

»Würde unserer visuellen Markensprache gut zu Gesicht stehen«, sagt sie.

»Lieber nicht, danke.«

»Aber die passt doch so gut zu deinen Haaren!«

»Wirklich, danke. Ich brauche keine Augenklappe.«

»Also wenn’s weiter nichts ist, kann ich dafür sorgen, dass sich das ändert, für immer«, schlägt Pearl vor. Würde mir Pearl ein Auge ausstechen, nur für den Look? Wahrscheinlich gibt es Leute, die nur für den Look noch viel weiter gehen würden.

»Was ich eigentlich meinte«, sage ich, »würde die Augenklappe dem Ersten Offizier der Personalabteilung nicht viel besser stehen?«

»Dem?«, fragt sie. Vielleicht bemerkt sie, dass sich meine Züge verhärten, und reitet deswegen nicht weiter auf der Sache rum. »Okay«, sagt sie, »Herausforderung angenommen«, und steckt die Augenklappe in ihre Hosentasche.

Der Mann mit den langen wuscheligen Haaren kommt ins Krähennest, um seiner Papageienpflicht nachzugehen, also klettern wir runter und überlassen ihn seiner gefiederten Arbeit. Als ich mich noch einmal nach ihm umdrehe, sieht er mich an, mit seinem richtigen Gesicht, das zugleich härter und weicher aussieht als das andere.

An unserem freien Tag ziehen Pearl und ich eirunde Bahnen übers Deck, die jedes Gespräch befeuern. »Spaziergänge lockern die Zungenmuskulatur«, pflegt mein Freund, der ständig in die Muckibude rennt, zu sagen, und auch der, der ständig in Kaufhäuser rennt, schwört auf ausgiebiges Bummeln. Pearl läuft auf dem Umkreis unserer Eier und ich in ihrem Inneren. Wir mögen beide Popcorn. Wir mögen beide, wie sich die Haut nach einem Sonnenbrand pellt. Wir hinterlassen beide schlechte erste Eindrücke. Ich greife nach meinem Portemonnaie, öffne die Harmonika mit meinen Freunden, die sich auf den Boden faltet. Pearl begutachtet voller Respekt und Interesse ihre Gesichter.

»Hübsches Kinn«, sagt sie. Hübsches dies, hübsches das.

Wir trinken Weinbrand, und Pearl zeigt mir geduldig, wie man Buckelknoten, Halbschlag und Palstek knotet. Von der rauen Leine werden meine Finger ganz spröde.

»Hier«, sagt sie und massiert meine Hände mit einer kühlenden Salbe. Händehalten ist angenehm, auch wenn es hier eigentlich nicht ums Händchenhalten geht, denn das Händchenhalten ist nur die Folge einer vom Händchenhalten unabhängigen Handlung.

»Und jetzt auseinanderknoten!«, sagt sie mit ihrer liebreizenden, klangvollen, überzeugenden Stimme. Meine Finger machen sich über die Knoten her und pfriemeln, was das Zeug hält.

»Du bist ein Naturtalent«, sagt sie, als sie meinen ersten Trompetenknoten sieht. »Darla wäre beeindruckt.«

»Ich hab kein Talent, für nichts«, sage ich und reibe mir die Hände. »Du schon, du bist wie geboren für das alles hier«, sage ich, und das Messer des Neids fährt mir scharf zwischen die Rippen.

Pearl runzelt die Stirn. »Woher willst du denn wissen, wofür ich wie geboren bin und wofür nicht?«

Sie hat recht. Was weiß ich schon von der Welt? Pearl sitzt in ihrem Stuhl und streicht sich mit der Hand übers Gesicht, so als würde sie sich eine Maske aufsetzen oder abnehmen. So sieht jemand aus, dem die Vergangenheit in die Kehle fährt, und jetzt, ich weiß es, soll ich mir eine Geschichte anhören – ihre Geschichte.

»Beinah wäre ich gar nicht geboren worden«, sagt Pearl. »Und auf keinen Fall bin ich die geborene Piratin. Meine Geburt war das Ergebnis eines letzten Versuchs, ein Ersatz für zuvor verunglückte Schwangerschaften. Ich war sehr klein und viel zu früh dran. Das ist auch der Grund, weswegen ich mein ganzes Leben pünktlich sein wollte.«

»Pünktlichkeit ist entscheidend!«, sage ich.

»Stimmt«, sagt sie. »Zu wissen, wo man wann sein soll, ist eine gute Sache. Und wenn ich weiter pünktlich bin, das weiß ich, kann ich ab und zu eine Lücke schließen, die von jemandem hinterlassen wurde, der zu spät oder zu früh gekommen ist.«

»Das könnte man als Vorteil bezeichnen«, sage ich.

»Könnte man. Es hat seine Vorteile, Lücken zu schließen. Hier auf dem Schiff habe ich eine Lücke geschlossen, die eine Frau namens Pearl hinterlassen hat. Sie ist nie zurückgekommen. Zwei Jahre ist das jetzt her. Jetzt bin ich die fest angestellte Ersatz-Pearl.«

»Du bist die einzige Pearl, die ich kenne, und deswegen bist du einfach nur die patente Pearl für mich.«

»Danke, das ist sehr nett von dir. Aber ich kann nie einfach nur die patente Pearl sein. Ohne Beständigkeit bin und bleibe ich ein Niemand. Ich kann nur versuchen, dich davon zu überzeugen, dass ich das Zielsubjekt meiner derzeitigen Annäherungsbemühungen überzeugend verkörpere.«

»Klar.«

»Wie im Großen Buch der Piratenprobleme«, sagt Pearl. »Orientierungsverlust auf hoher See.«

Pearl bringt mir alle Knoten bei, Knoten, wie ich sie noch nie gesehen habe. Einer sieht wie ein Fisch aus, heißt aber Vogel. Eine bestimmte Abfolge von Knoten ergibt richtig geknüpft eine Art Schriftcode. Pearl zeigt mir auch den Evolutionsknoten, der so heißt, weil er sich mit der Zeit immer fester zusammenzieht. Wenn man ihn einen Monat sich selbst überlässt, wird er fester als die knorrigen Wurzeln eines alten Baums. Auf dem Meeresgrund befinden sich Evolutionsknoten in versunkenen Schiffen, die zu den verschlungensten Verschlingungen der Welt gehören.

Es ist spät, der Himmel kippt sein glühendes Gold übers Deck. Bei Neumond veranstalten die Piraten einen Filmabend. Teambuilding. Der Projektor hängt an einem Haken, die Segel werden zur Leinwand umfunktioniert. Männer und Frauen in Schwarz-Weiß, hoch wie ein Mietshaus, bauschen und blähen sich im Wind. Der Piratenkapitän hat eine Schwäche für Klassiker und grinst wie ein Honigkuchenpferd.

»In diesem Sommer steht eine Retrospektive auf dem Programm«, sagt er. »Motto: Meine Lieblingsfilme.«

Wären die Schauspieler nicht so elegant, wir würden sie für auf dem Wasser stehende Riesen halten, die uns unter dem Gewicht ihrer rhetorischen Finessen, ihrer Bonmots und Spitzen zerschmettern, mit ihren rasanten Dialogen, die vor allem eines verraten: dass letzten Endes alle verliebt sind, aber immer erst zum Schluss. Ein schnelles, pochendes Geschöpf ist das Herz, ein Metronom für schlagfertige Zungen. Niemand holt Luft beim Sprechen, damit niemand plötzlich tot umfällt, ohne über seine Gefühle gesprochen zu haben. Das letzte Bild zeigt immer eine innige Umarmung, eine Wiederbelebung. Viel bräuchte es nicht, mich diese Nacht ins Krähennest zu locken, in den Armen dieser Figuren zu liegen, dieser Menschen, die anderen Menschen etwas vormachen.

Pearl sitzt neben mir und lässt mich von ihrem Popcorn essen. Mit einem Gefühl der Zärtlichkeit erinnere ich mich an die bedauernswerten Körner, die in der Omni-Corp-Mikrowelle klebten. Das, was ich fühle, ist kein Heimweh. Jobweh. Wellenweh. Wenn ich lache, lacht auch Pearl, und ich weiß, dass der Film ab jetzt ein Witz zwischen uns sein wird, der Plot so realistisch wie etwas, das uns und nur uns passiert ist, in diesem unserem Leben, uns beiden.

Wir gehen zurück in unsere Kojen. Auf Höhe des Personalers gehe ich schneller, aber nicht so schnell, dass Pearl etwas bemerken würde. Vor meiner Koje greift sie nach meiner spröden rissigen Hand mit den buttrigen Relikten des ersten schönen Abends, dem noch viele schöne Abende folgen werden.

»Darla ist meine beste Freundin«, sagt sie.

»Ich weiß«, sage ich.

»Wenn sie nicht zurückkommt … vielleicht … könntest du dann Darla sein.«

Unbefristet Darla sein, denke ich. Wäre das Beständigkeit genug?

»Vielleicht könntest du meine beste Freundin werden«, sagt Pearl, und ich fühle, wie ich mich fülle, als wäre ich etwas Leeres, Wildes, Hungerndes. Aber klar, klar, klar nehme ich die Augenklappe! Ich trage sie sogar. Sie zupft sie zurecht, und ihre Finger verweilen in meinem Gesicht, auf meiner Wange. Wir legen uns in meine Koje und üben weiter, diesmal einen anderen Knoten.

Die Hauptsache

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