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IV) Die Debatte über Wirtschaft und Menschenrechte

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Nach herrschender Auffassung sind Unternehmen keine direkten Träger menschenrechtlicher Pflichten. Menschenrechte wurden historisch gegen die Ausübung staatlicher Gewalt erkämpft; daraus resultiert ein Fokus auf eine Verpflichtung des Staates aus den Menschenrechten.44 Im internationalen öffentlichen Recht (Völkerrecht) gelten Unternehmen nicht als Rechtssubjekte. Sie sind daher weder aus internationalen Verträgen direkt verpflichtet, noch gilt für sie das völkerrechtliche zwingende Recht45, zu dem Teilbereiche der internationalen Menschenrechte wie das Folterverbot, das Verbot von Diskriminierung aufgrund der Rasse oder das Verbot der Sklaverei zählen.46 Menschenrechtliche Verträge sind traditionell von Staaten als Katalog staatlicher Pflichten verfasst und das entsprechende Kontrollsystem auf die hergebrachten Regeln staatlicher Verantwortung abgestimmt.47

Allerdings sind viele transnationale Unternehmen einflussreiche „global players“. Der Jahresumsatz einiger dieser Unternehmen geht oft über das Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten hinaus und ihre Wirtschaftskraft versetzt sie in die Lage, innerstaatliche politische Entscheidungen zu beeinflussen.48 Große Unternehmen beeinflussen in erheblichem Umfang internationale Regeln über den Handel, Investitionen oder Telekommunikation.49 Hieraus wird teilweise hergeleitet, dass mit dem großen Einfluss auch die entsprechende Verantwortung korrespondieren müsse.50 Es komme nicht in erster Linie darauf an, wer aus den Menschenrechten verpflichtet sei, sondern darauf, dass die Menschenrechte für alle Menschen jederzeit gewährleistet werden müssten.51 Darüber hinaus sei es widersprüchlich, dass Unternehmen beispielsweise nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zwar Träger von Menschenrechten – und damit Opfer von Menschenrechtsverletzungen – sein könnten,52 aber umgekehrt nicht aus den Menschenrechten verpflichtet sein sollten.53 Auch gebe es Fälle, in denen nicht-staatliche Akteure aus Normen des internationalen Rechts verpflichtet seien. Dies gelte beispielsweise bei Piraterie oder, wie der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien im Fall Karadzic entschieden habe, bei bestimmten Verstößen gegen die Genfer Konventionen.54

Trotz dieser Argumente geht die herrschende Meinung weiterhin davon aus, dass Unternehmen nicht direkt aus den international anerkannten Menschenrechten verpflichtet werden. Die Frage der direkten Verpflichtung ist aber zu unterscheiden von indirekten Pflichten. Dabei geht es um Pflichten, die Staaten Unternehmen oder anderen nichtstaatlichen Akteuren auferlegen, um ihren eigenen Verpflichtungen nach internationalem Recht gerecht zu werden. Es ist anerkannt, dass dies möglich ist.55 Einige Autoren vertreten sogar die Auffassung, dass Staaten aufgrund ihrer Bindung an menschenrechtliche Verträge verpflichtet sein können, entsprechende Gesetze zu erlassen.56

Die Diskussion über derartige gesetzliche Vorschriften zur Regulierung menschenrechtlicher Pflichten von Unternehmen im weiteren Sinne reicht bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.57

In einigen westlichen Demokratien gab es Befürchtungen, der Einfluss transnationaler Unternehmen auf die Wirtschaft könne überhandnehmen.58 Die International Confederation of Free Trade Unions bemühte sich, die ILO zu bewegen, den sozialen Folgen der Aktivitäten transnationaler Unternehmen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.59 Der Versuch der US-amerikanischen International Telephone and Telegraph Company (ITT), mithilfe der CIA die Wahl Salvador Allendes zu verhindern bzw. einen Staatstreich in Chile zu initiieren60 rief öffentliche Empörung hervor und war ein Schlaglicht auf die politische Dimension transnationaler Unternehmen.

Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (UN Economic and Social Council) verabschiedete 1972 eine Resolution, in der er den Generalsekretär der Vereinten Nationen aufforderte, eine Gruppe anerkannter Personen („eminent persons“) zu ernennen, um die Rolle multinationaler Konzerne im internationalen Recht und ihren Einfluss auf den Entwicklungsprozess von den Ländern zu analysieren.61 Die Gruppe veröffentlichte einen Bericht, in dem sie die Schaffung einer Kommission empfahl, die sich mit den Aktivitäten transnationaler Unternehmen befassen sollte. Aufgrund dieser Empfehlung wurden das „Center on Transnational Corporations“ (UNCTC) und die „Commission on Transnational Corporations“ gegründet. Dieses hatte unter anderem die Aufgabe, ein Regelwerk für das Verhalten transnationaler Unternehmen zu entwickeln.62 Das UNCTC verfasste in den Jahren 198363, 1988 und 1993 drei Entwürfe für einen „Code of Conduct“; alle sahen vor, dass die Pflichten, die sich aus dem internationalen Recht der Menschenrechte ergeben, auf Unternehmen anwendbar sein sollten.64 Diese Entwürfe stießen auf großen Widerstand aus Wirtschaftskreisen.65 Gleichzeitig bewirkte die Hinwendung zum Glauben an die freien Kräfte des Marktes, insbesondere in den USA unter Reagan, dass die politische Unterstützung für das Projekt bindender menschenrechtlicher Pflichten für Unternehmen schwand. Auch einige der sich entwickelnden Länder legten ihr Augenmerk in der Schuldenkrise der 80er Jahre eher darauf, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen als Unternehmen zusätzliche Pflichten aufzubürden.66 1992 wurde das UNTCT abgeschafft.

Trotz des schlussendlichen Scheiterns des verbindlichen Code of Conduct hatten die Entwürfe, die das UNTCT verfasste, und die Analysen der Konsequenzen des Verhaltens transnationaler Unternehmen großen Einfluss auf die Diskussion über Ausgestaltung menschenrechtlicher Pflichten (oder Verhaltensrichtlinien) von Unternehmen.

Auch andere Richtlinien und Empfehlungen wurden in den 70er Jahren aufgrund eines gestiegenen Bewusstseins für die sozialen Folgen wirtschaftlichen Handelns verabschiedet. Die International Chamber of Commerce veröffentlichte 1972 erstmals die ICC Guidelines for international Investment; die OECD publizierte 1976 ihre „Guidelines on Multi-national Enterprises“ und die ILO verabschiedete 1977.die „Declaration of Principles Concerning Multi-national Enterprises and Social Policy“.

Trotz des Scheiterns des verbindlichen „Code of Conduct“ bekamen Bestrebungen, die sozialen Folgen wirtschaftlichen Handelns – vor allem großer Unternehmen – zu regulieren, in den 90er Jahren erneut Aufwind. Ein Schlüsselereignis war dabei die Hinrichtung des nigerianischen Journalisten Ken Saro Wiwa und acht weiterer Personen aus seinem Umfeld und die Rolle, die Royal Dutch Shell nach Meinung vieler Beobachter dabei spielte. Saro Wiwa stammte aus dem Volk der Ogoni, das im Nigerdelta ansässig ist. Shell und andere internationale Unternehmen fördern seit den 50er Jahren Öl im Nigerdelta; dies hat dort zu erheblichen Umweltschäden geführt und beeinträchtigt die Lebensgrundlagen der Anwohner. Saro Wiwa war der Kopf einer Bewegung, die sich dafür einsetzte, die Unternehmen für die Schäden verantwortlich zu machen und die Bewohner des Nigerdeltas an den Einnahmen aus der Ölförderung zu beteiligen, des „Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP)“. Die nigerianischen Behörden versuchten, MOSOP zu unterdrücken. Es kam zu gewaltsamen Konflikten; Saro Wiwa wurde verhaftet, in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und trotz internationaler Proteste hingerichtet. Zahlreiche Kritiker, darunter große internationale Menschenrechtsorganisationen warfen Royal Dutch Shell vor, für die Eskalation und die Hinrichtung der MOSOP-Angehörigen mitverantwortlich zu sein. Royal Dutch Shell habe die nigerianischen Behörden angehalten, gegen die Proteste vorzugehen und sie dabei logistisch unterstützt.67 Die Witwe Saro Wiwas, Esther Kiobel, initiierte Klageverfahren gegen Royal Dutch Shell in den USA und später auch in den Niederlanden, die zum Teil noch andauern.

Durch diesen und andere Fälle erhielt die Frage der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen erneut öffentliche Aufmerksamkeit. Große internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International begannen, sich verstärkt des Themas anzunehmen.

Auf Ebene der UN entstand eine neue Initiative, Standards für das Verhalten internationaler Unternehmen zu entwickeln. Der „Unterausschuss für die Verhinderung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten“ der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte setzte eine Arbeitsgruppe ein. Diese sollte (unter anderem) Empfehlungen und Vorschläge unterbreiten, um sicherzustellen, dass die Tätigkeit internationaler Unternehmen im Einklang mit den wirtschaftlichen und sozialen Zielen der Länder stünden, in denen sie tätig seien; darüber hinaus hatte sie den Auftrag, den Umfang staatlicher Pflichten zu analysieren, die Aktivitäten derartiger Unternehmen zu regulieren.68 Auf dieser Grundlage entstand die „Working Group on the Working Methods and Activities of Transnational Corporations“. Die Arbeitsgruppe entwickelte – in einem breiten Konsultationsprozess mit verschiedenen Interessengruppen – unter Führung des Rechtsprofessors David Weisbrodt die „Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations and Other Business Enterprises with Regard to Human Rights“. Sie enthielten Regeln und Grundsätze für das Verhalten von Unternehmen in zahlreichen Bereichen, beispielsweise sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten, bürgerliche Rechte und internationales Strafrecht.69 Das Dokument sah verbindliche Pflichten für Unternehmen und einen Mechanismus zur Durchsetzung vor.70 Der Unterausschuss nahm den Entwurf an und leitete ihn an die (damalige) UN-Menschenrechtskommission weiter. Diese dankte dem Unterausschuss für seine Arbeit, teilte aber mit, die Kommission habe den Entwurf nicht erbeten und dieser habe keine rechtliche Bedeutung.71

Die UN-Menschenrechtskommission beschloss, eine breite Konsultation durchzuführen und einen Bericht über die bereits existierenden Normen und Standards bezüglich der menschenrechtlichen Pflichten von Unternehmen zu verfassen. Verschiedene Staaten und Wirtschaftsorganisationen äußerten Kritik, die sich vor allem an der Einführung verbindlicher Regeln entzündete. Diese seien dazu angetan, die freiwilligen Bemühungen von Unternehmen im Bereich CSR zu unterminieren und sie dazu anzuhalten, lediglich minimale Standards zu gewährleisten72; Unternehmen seien bereits über den legalistischen Ansatz im Bereich ihrer sozialen Verantwortung hinweg.73 Auch könnten verbindliche Pflichten für Unternehmen die staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenrechte verwässern.74

Dennoch verschwand das Thema nicht von der Agenda. UN Generalsekretär Kofi Annan initiierte eine Initiative, in deren Rahmen sich Unternehmen zu bestimmten Standards im Bereich der Menschenrechte, Arbeitsschutz und Korruptionsbekämpfung bekennen sollten. Der UN Global Compact wurde im Juni 2000 verabschiedet. Unternehmen, die ihm beitreten, müssen sich zu zehn programmatischen Grundprinzipien bekennen und sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten umsetzen.75

Darüber hinaus empfahl die UN-Menschenrechtskommission die Ernennung eines Sonderbeauftragten, der sich mit der Frage von Wirtschaftsunternehmen und Menschenrechten auseinandersetzen sollte.76 Der Economic and Social Council der UN folgte der Empfehlung und beauftragte den Generalsekretär der UN, einen Sonderbeauftragten zu ernennen. Am 28.7.2005 verkündete UN-Generalsekretär Kofi Annan die Ernennung des Politikwissenschaftlers John Ruggie zum Sonderbeauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte.

44 Bilchitz, in: Bilchitz/Deva: Building a treaty on Business and Human Rights, S. 7. 45 Crawford, Brownlie’s Principles of Public International Law, S. 121. 46 Shaw, International Law, S. 93. 47 Clapham, Non-state Actors, in: Moeckli/Shah/Sivakumaran, International Human Rights Law, S. 562. 48 Herdegen, Principles of International Economic Law, S. 39. 49 Cassese’s International Law, S. 177. 50 Carrillo-Santarelli, Direct International Human Rights Obligations of Non-State Actors – a legal and ethical Necessity, S. 228ff. 51 Bilchitz, in: Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, Corporate Obligations and a Treaty on Business and Human Rights – a constitutional law model?, S. 193. 52 Vgl. etwa EGMR Anheuser-Busch g. Portugal, Beschwerde Nr. 73049/01, Urteil der Großen Kammer vom 11.1.2007; Unistar Ventures GmbH g. Moldau, Beschwerde Nr. 19245/03, Urteil vom 9.12.2008; siehe auch Hembach, Die Beschwerde beim EGMR, S. 54. 53 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations – Global Prospects for Legal Action, S. 137ff. 54 Brief of amici curiae International Law Scholars in support of petitioners im Fall Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, S. 8. 55 Lopez, Human Rights Legal Liability for Business Enterprises, in: Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, S. 301f. 56 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 107. 57 Die Darstellung der Entwicklung in den 70er Jahren folgt: Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 29ff. 58 Hamdani/Ruffing, Lessons from the UN Centre on Transnational Corporation for the Current Treaty Initiative, in: Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, S. 28. 59 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 25. 60 New York Times vom 22.3.1972 “I. T.T. said to seek Chile coup in 1970” https://www.nytimes.com/1972/03/22/archives/itt-said-to-seek-chile-coup-in-70-anderson-sayswhite-house-was.html. 61 https://uncitral.un.org/sites/uncitral.un.org/files/media-documents/uncitral/en/acn9_83_e.pdf (Annex IV). 62 Hamdani/Ruffing, Lessons from the UN Centre on Transnational Corporation for the Current Treaty Initiative, in: Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, S. 29. 63 Nachzulesen hier: https://investmentpolicy.unctad.org/international-investment-agreements/treaty-files/2891/download. 64 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 29f. 65 Bantekas/Oette, International Human Rights Law and Practice, S. 773. 66 Hamdani/Ruffing, Lessons from the UN Centre on Transnational Corporation for the Current Treaty Initiative, in: Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, S. 34. 67 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/11/investigate-shell-for-complicity-inmurder-rape-and-torture/. 68 The relationship between the enjoyment of economic, social and cultural rights and the right to development, and the working methods and activities of transnational corporations. , Sub-Commission resolution 1998/8. 69 Jernej Letnar Cernic, Two steps forward, one step back: The 2010 Report by the UN Special Representative on Business and Human Rights, German Law Journal, 2010, 1264, 1266; die Normen können hier heruntergeladen werden: https://digitallibrary.un.org/record/501576. 70 Miretski/Bachmann, Global Business and Human Rights – The UN “Norms on the Responsibility of Transnational Corporations and Other Business Enterprises with Regard to Human Rights”, S. 1, 3. 71 “has not been requested by the Commission and, as a draft proposal, has no legal standing, and that the Sub Commission should not perform any monitoring function in this regard.”, Brot für die Welt/Miserior/GPF, Working Paper Juni 2014; Corporate Influence on the Business and Human Rights Agenda of the United Nations, S. 10. 72 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 36. 73 Brot für die Welt/Miserior/GPF, Working Paper Juni 2014; Corporate Influence on the Business and Human Rights Agenda of the United Nations, S. 11. 74 Khoury/Whyte, Corporate Human Rights Violations, S. 36. 75 Spießhofer, in Nietsch (Hrsg.), Corporate Social Responsibility Compliance, S. 65. 76 UN Commission on Human Rights, Resolution 2005/69.

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