Читать книгу Dann mal ab nach Paris - Hubert Becker - Страница 11
ОглавлениеFlucht
Weg jetzt, ich weiß nicht wohin, nur weg von hier und möglichst viele Kilometer zwischen mir und diesem schrecklichen Ort.
Laufen, so schnell wie’s geht? Keine gute Idee, damit falle ich erst recht auf. Ich zwinge mich, langsam zu gehen, ich bin ja auf einem gemütlichen Spaziergang, nicht wahr?
Der Nachbar, der mich vorhin gesehen hat, glotzt mit stierem Blick aus dem Fenster und scheint mich gar nicht zu sehen. Aber der hat mich garantiert registriert! Weiß der schon was und ruft jetzt die Polizei an?
„Hey Manfred, wohin des Wegs?“ Kurt, ein Schulfreund, kommt mir entgegen und grinst mich mit dreckigem Gesichtsausdruck an. Ich kann ihn schon lange nicht mehr ausstehen, seitdem er mir mal eine Freundin ausgespannt hat. Mir, der ich mich immer für den größten Frauenversteher gehalten habe!
„Immer der Nase lang, Kurt, wohin die Sehnsucht mich treibt.“ Und nichts wie weg, bloß nicht zu schnell!
Missglückter Versuch, cool zu wirken. Der wird sich seinen Teil denken, besonders wenn er erfährt, was los ist.
„Blödmann!“ höre ich ihn noch hinterherrufen. Seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber ausgerechnet jetzt um diese Zeit.
Ja, wohin treibt mich eigentlich die Sehnsucht oder besser gesagt die Verzweiflung? In mir reift ein Gedanke, ein Gedanke, der sicherlich bald Hildegard auch umtreiben wird. Wohin werde ich wohl gehen, wenn ich glaube, untertauchen zu müssen? Tausendmal im Scherz mit ihr besprochen. Dorthin, wo alles so groß und anonym ist, dass niemand von mir Notiz nimmt. Nach Paris. In eine Stadt, die tatsächlich für mich ein Sehnsuchtsort ist und wo ich mich noch dazu auskenne.
Geld am Automat meiner Bank abzuheben, traue ich mich nicht. Alles zu nahe am Geschehen. Ich entschließe mich, die sechs Kilometer nach Lampertheim zu Fuß zu gehen. Also los und „immer an der Wand lang“, wie es in einem alten Lied heißt.
Es ist inzwischen stockdunkel; das kommt mir sehr entgegen.
Die Luft wird mir eng, mein linkes Auge zuckt, wie immer, wenn ich aufgeregt bin, und ich spüre, wie mir Schweißperlen über’s Gesicht rinnen.
Nein, das alles strengt mich eigentlich nicht an, ich bin gut durchtrainiert, schaue mir sämtliche Sportsendungen im Fern-sehen an. Das ist Angstschweiß. Auf Feldwegen gibt es gewöhnlich keine Beleuchtung. Plötzlich höre ich in absoluter Dunkelheit aufgeregtes Grunzen unmittelbar vor mir. Ich weiß, dass es hier Wildschweine gibt, und die Viecher sind alles andere als handzahme Kuscheltiere.
Cool bleiben, raune ich mir zu. Ich versuche ein langsames Schlendern. Jetzt bloß nicht rennen, die Biester sind bestimmt schneller als ich. Der schwarze Schatten vor mir wird größer und da steht er vor mir: ein kapitaler Keiler. Ich glaube ein mordlüsternes Funkeln in seinen Augen zu sehen.
„Glaub mir“, versuche ich das Tier zu beruhigen, „ich hab noch nie Wildschweinbraten gegesse und ich werd’s auch nie tun.“
Versteht der mich überhaupt? Ich rede Mannemer Dialekt!
Ein verhaltenes Grunzen, das ich nur als zufrieden bezeichnen kann, dann macht sich das Untier aus dem Staub. Aha, doch ver-standen! Beruhigt setzte ich meinen Nachtspaziergang fort.
Mehrmals hinzufallen, weil ich über irgendeine Wurzel oder sonst was stolpere, geschenkt! Vor mir sehe ich jetzt ein Licht auf mich zukommen. Heiliger Strohsack, was ist das jetzt? Die Polizei? Haben die mich geortet? Ich hab doch mein Handy ausgeschaltet!
Das Licht kommt näher und rauscht auch schon mit einem freundlichen „Guten Abend“ vorbei. Ein Jogger. Muss der ein Rad abhaben: Ich sehe einen nackten Hintern in der Nacht verschwinden. Mannomann, das ist nicht nur ein Nacht-, sondern ein Nacktjogger. Der ist doch sicher aus irgendeiner Psychiatrie entlaufen. Gut, dass ich den Kerl von vorne nicht richtig gesehen habe; der Anblick eins baumelnden Gemächts nachts auf dem Feld hätte mich sicher aus der Fassung gebracht.
Fassung? Hab ich überhaupt noch eine angesichts der Umstände, in denen ich mich befinde?
Da tauchen die ersten Lichter von Lampertheim auf.
Bin ich außer Atem nach dieser langen Nachtwanderung? Nö, bin ich komischerweise nicht. Hab wohl einen gewaltigen Adrenalinüberschuss im Blut. Kein Wunder, ich bin abgehauen, weil ich vermutlich unter Mordverdacht stehe, obwohl ich so unschuldig bin wie die Jungfrau Maria. Ich habe deshalb meine Frau verlassen, ohne mich zu verabschieden und bin auf der Flucht nach Paris, obwohl ich nicht weiß, ob ich dort jemals ankommen werde.
War wohl eine Scheißidee das Ganze. Aber ich war noch nie einer, der auf halbem Weg stehen bleibt. Wenn ich aufgeben wollte, hab ich mich selbst in den Arsch getreten. Symbolisch natürlich, so gelenkig bin ich nicht mehr. Hat mir ja schon meine Frau vorgeworfen, beim Sex!
Ja, jetzt bin ich also in Lampertheim. Da werden Erinnerungen wach. Ich setze mich auf die Treppe vor einem Hotel und hänge wehmütig meinen Gedanken nach.