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Alte Zeiten – Streiche und Gerd

Ich bin 14 und hänge in diesem zarten Alter mit meinen Kumpels im Karl-Schweitzer-Park rum, dummes Zeug im Kopf, aus Langeweile. Es ist bereits zweiundzwanzig Uhr, es ist dunkel und ich sollte zuhause sein. Aber ich habe Eltern, die mir fast alles durchgehen lassen. Ich bin verwöhnt und Grenzen sind für mich da, sie zu ignorieren.

„Was ist Leute?“, rufe ich meinen Freunden Erwin, Ernst und Gerd zu. „In der Broadway-Bar ist wieder großer Amitreff und ’ne Masse dieser Straßenkreuzer parkt die Hanfstraße zu.“

Die Jungs wissen, was ich will. Die Wände in meinem Zimmer schmücken Plaketten, die ich von Autos abgebrochen habe. Benzsterne, Embleme von Alfa Romeo und Opel, die Weltkugel eines Taunus 12 M und die Radkappe eines NSU. Meine Eltern schließen Augen und Ohren und ignorieren einfach, was ich treibe. Klar, ich bin ja der Einzige und ein Junge in diesen Zeiten ist das einzig Senkrechte, Mädchen sind immer zweite Wahl.

Es sind die sechziger Jahre, die prüden Fünfziger grade rum und ich weiß – Triumph! – ich bleibe der Einzige, meine Mutter kann nämlich keine Kinder mehr bekommen. Was will ich mehr, ich bin der King im Hause und habe als Einziger unter meinen Kumpels ein eigenes Zimmer.

Gerd, den wir immer nur den Lulatsch nannten, war trotz seines Spitznamens klein und schmächtig und dabei fürchterlich dünn. Und wir wussten auch warum. Er hatte Leukämie und durfte sich eigentlich nicht anstrengen. Es gab in dieser Zeit nicht allzu viel, was man dagegen tun konnte. Er war unser allerbester Kumpel und wenn wir uns trafen, wurden nicht nur die Hände geschüttelt, wir umarmten und drückten ihn, was er nicht immer so dulden wollte. Er wusste sehr wohl, was ihm bevorstand und worauf seine Krankheit hinauslief, nämlich, dass er sterben würde. Aber Gerd hatte einen unbändigen Lebenswillen und er wollte bei allem dabei sein, was wir taten. Er war beleidigt, wenn er merkte, dass wir ihn schonen wollten.

Nächtliche Mutproben, die uns quer durch ein Straßenquadrat über Mauern, Gärten und Garagendächer führten, waren unsere Spezialität. Es musste geklettert werden, durch Beete gekrochen und mit eingezogenem Kopf durch Hinterhöfe geschlichen werden; immer schwebte die Angst entdeckt zu werden wie ein Damoklesschwert über uns. Und Gerd war immer mittendrin und danach stets völlig außer Atem. Mehr als einmal waren wir ver-zweifelt, dass er jetzt und gerade sterben würde.

Mehr als einmal mussten wir uns Strafpredigten seiner Eltern anhören, wenn wir ihn wieder mal leichenblass und nach Luft röchelnd nach Hause brachten. Sie kannten zwar ihren Sohn und dass er einfach immer und überall dabei sein wollte. Sie wollten uns deshalb keine Vorwürfe machen, machten es dann aber doch. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, gesucht und gefunden, weil wir unsere Freiheit auskosten durften und der Einbruch der Nacht kein Hindernis war. Gerd war dabei und wer bemerkte schon die vom Weinen rot umrandeten Augen, wer hörte zuhause das nächtliche Schluchzen und spürte die Angst, die ihn innerlich zerfraß?

Ein Erlebnis mit ihm hatte mich zutiefst erschüttert: Ein Gartenbesitzer, durch dessen Beete wir mehr als einmal nachts getrampelt waren, hatte Schilder aufgestellt: Achtung, Fußangeln und Selbstschüsse!

Wir vermuteten, dass dies lediglich zur Abschreckung dienen sollte. Aber für Gerd war das eine Tatsache. Er wollte über den Zaun steigen und wir konnten ihn nur mit Mühe davon abhalten. Sein Kommentar war nur: „Was solls? Wenn’s mich trifft, ist es endlich vorbei!“

Da war sie nun, die bisher mühsam verborgene Verzweiflung und Angst vor einem qualvollen Tod.

Gerd war gerade fünfzehn geworden, als wir im Krankenhaus an seinem Bett standen, zusammen mit seinen Eltern. Seine Mutter hielt seine Hand und der Vater strich ihm immer wieder zitternd über die schweißverklebten Haare. Wir drei harten Jungs konnten unsere Tränen nicht mehr zurückhalten, als Gerd ganz leise mit brüchiger Stimme flüsterte: „Lasst nur Jungs, ich bin froh!“

Dann war es vorbei und ich öffnete das Fenster, weil ich damals noch fest daran glaubte, dass die Seele nach dem Tod zum Himmel flöge.

Dann mal ab nach Paris

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