Читать книгу PERRY RHODAN-Kosmos-Chroniken: Reginald Bull - Hubert Haensel - Страница 13
Reginald Bull, Deserteur
ОглавлениеJuni 1971 – Mai 1972
Sowohl die Asiatische Föderation als auch der Ostblock sahen die STARDUST von Anfang an als amerikanischen Stützpunkt an. Unerträglich wurde die Situation, als Peking in ultimativer Form von Washington die bedingungslose Übergabe forderte, die Regierung der Vereinigten Staaten hingegen versicherte, nichts von einem Stützpunkt in der Gobi zu wissen, und ein Treffen der Regierungschefs vorschlug. Der Atomkrieg rückte zum Greifen nahe.
Um zu beweisen, dass wir jede Nation bestrafen konnten, die eine Atomrakete startete, kündigte Perry Rhodan am 30. Juni 1971 weltweit eine Demonstration unserer Macht an. In der Sahara, nördlich des Ahaggar-Gebirges, brannte ein Energiestrahl, der seinen Ursprung auf dem Mond hatte, einen fünfzig Kilometer durchmessenden Krater in den Wüstensand. Ich glaube, dass Thora nur zu gern bereit gewesen war, Crests Bitte nachzukommen. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, wir halbintelligenten Menschenaffen würden kreischend zurück auf unsere Bäume fliehen.
Mit einem den Chinesen abgenommenen Armeehubschrauber und Clark Flipper als Passagier, der nichts anderes mehr wollte, als endlich zu seiner hochschwangeren Frau zurückzukehren, flog ich am 7. Juli nach Australien. Mit einem Psychostrahler, einer kleinen Handwaffe regelbarer Intensität, die bis zu zwei Kilometern Distanz einen Menschen geistig lähmen konnte, hatte Crest einen undurchdringlichen Wall um Flipps Erinnerungsvermögen gelegt. Weder an den Mondflug noch an die Arkoniden und ihr Forschungsraumschiff erinnerte er sich. Es war sein eigener Wunsch gewesen. Nur der Name seiner Frau und ihre Adresse waren fest in seinem Bewusstsein verankert.
Mir wurde danach erst richtig bewusst, welches Machtmittel allein dieser unscheinbare Strahler bedeutete; solche Erfindungen durften niemals in die falschen Hände geraten. Posthypnotische Befehle, verbunden mit künstlicher Amnesie, verwandelten Menschen in Roboter. Ein entsetzlicher Gedanke. Schon ein einziger Psychostrahler im Besitz eines Wahnsinnigen konnte zur unüberschaubaren Gefahr mutieren; wir verfügten über drei dieser silbernen Stäbe. Von den anderen Errungenschaften ganz zu schweigen. Auf unseren Schultern lastete eine schwere Verantwortung, aber irgendwie fühlte ich mich wie der edle Ritter, der Unterdrückten und Geknechteten zu Hilfe eilte.
Erinnerungsfetzen, vage Bilder aus meiner frühen Schulzeit, zogen während des Fluges vor meinem inneren Auge vorüber. Da war Tess, ein sommersprossiges, von ewigen Zahnlücken geplagtes Mädchen, meine allererste heimliche Liebe. Zumindest hatte ich es damals so empfunden, aber wir waren wohl eher eine Schicksalsgemeinschaft gewesen. »Feuergesicht« hatten die anderen sie genannt. Und »Rothaar«. Dabei hatte ich ihre zu einem strengen Nest zusammengebundenen roten Haare stets ausgiebig bewundert. Als die Burschen zwei Klassen über uns angefangen hatten, Tess »Teufelskind« hinterherzuschreien, war ich ausgerastet.
In der Erinnerung spürte ich immer noch die Tritte und Fausthiebe, die ich mir eingehandelt hatte, als ich gleich mit drei älteren Jungs abrechnen wollte. Ich sah auch wieder Mutters Tränen und die Verbitterung in ihrem Gesicht, als sie mir das Blut von den Lippen wusch und mein dick geschwollenes Auge mit Eis kühlte. Über mein zerfetztes Hemd hatte sie nie ein Wort verloren und den Triangel in der Hose mit einem ledernen Herzen übernäht.
Den ausgeschlagenen Backenzahn hatte Mutter erst Tage später bemerkt. Warum sie nicht geschimpft, sondern sich neben mich gesetzt und mir zugehört hatte, hatte ich erst sehr viel später wirklich verstanden. Ich hatte ihr von Prinz Eisenherz in den Sonntagsseiten erzählt und dass ich manchmal träumte, wie er Abenteuer zu bestehen.
Nun gab mir der Psychostrahler die Möglichkeit, zu verwirklichen, was ich mir als Kind sehnsüchtig gewünscht hatte. Leider sah ich die Welt längst mit anderen Augen und nicht mehr so verklärt wie einst. Perry Rhodan hatte recht, auch wenn ich vielleicht ein klein wenig seiner Nachhilfe bedurft hatte. Die Chance, die wir auf dem Mond erhalten hatten, war einmalig. Wir waren es der Menschheit schuldig, nicht mehr lockerzulassen.
In Darwin lieferte ich Flipp, dessen ununterbrochenes Gerede über seine Frau und die bevorstehende Geburt mir allmählich auf die Nerven ging, im Hotel ab. Dann suchte ich Dr. Frank Haggard auf, der vor zwei Jahren das Leukämie-Serum entwickelt hatte. Er verstand nicht sofort, was ich von ihm erwartete. Erst als ich ihm einen handlichen arkonidischen Energiespeicher als Bezahlung für seine Dienste anbot, ein Gerät, das ihm mindestens die nächsten hundert Jahre als unabhängiger Stromlieferant dienen konnte, wurden wir uns einig.
Am nächsten Tag verscherbelte ich weitere unbedeutende Geräte aus dem Fundus der Arkoniden an die Direktoren mehrerer Industriewerke, nichts Weltbewegendes, doch ausreichend, dass ich mich mit Kisten voll elektronischer Spezialteile und einer beachtlichen Summe Bargeld eindecken konnte. Nicht weniger karg als das Staatsgebiet der Dritten Macht war ihr finanzielles Polster gewesen. Der Gedanke, mit Hilfe des Psychostrahlers den gesamten Tresorbestand irgendeiner Staatsbank abzuheben, war an sich verlockend, aber eben auch kriminell. Wie oft hatte ich mir so etwas gewünscht, vor allem, wenn ich meinem Bankberater gegenübergesessen und er scheinbar sinnend auf die Wand hinter mir gestarrt und dazu Notizen gemacht hatte.
»Ein nagelneuer Chevy, Mr. Bull? Außerdem mit Sonderausstattung? Hm ... Als Astronaut leben Sie gefährlich – wer sagt mir, dass Sie nicht eines Tages oben bleiben?« Gleichzeitig hatte er die Augen verdreht, als müsse er das Auto aus eigener Tasche bezahlen, und sich mit zwei Fingern die Nasenspitze massiert. »Wissen Sie, Mr. Bull, die Sache ist nämlich nicht so einfach, wie immer alle glauben: Ohne zusätzliche Lebensversicherung wären wir gezwungen, im Falle – Sie wissen schon – Ihr Auto zu veräußern. Das bringt in der Regel nicht den ausstehenden Betrag. Sie werden also diese Lebensversicherung abschließen, und danach können wir die Finanzierung durchziehen ...«
»Gar nichts werde ich«, hatte ich dem Pfennigfuchser in aller Freundlichkeit erklärt. »Und Ihre Versicherungspolice können Sie sich sonst wohin schieben – Sie wissen schon!«
Captain Flipper gab ich 5000 Dollar, von denen er eine Passage nach New York buchte. Und Dr. Haggard beschaffte eine Jacht für unsere Rückfahrt. In den Nachrichten gab es wenig Neues über die STARDUST und den Truppenaufmarsch in der Gobi. Ich gewann den Eindruck, dass die offizielle Berichterstattung bewusst unterdrückt wurde.
Die Soldaten kamen völlig überraschend. Ihre entsicherten Waffen redeten eine unmissverständliche Sprache. Es war eine eigenartige Erfahrung, wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden.
»Sie heißen Reginald Bull?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ist das verboten?«
»Sie gehören zu den Anhängern Perry Rhodans?«
Ich vergrub die Hände in meinen Taschen.
»Jeder Widerstand ist sinnlos!«, herrschte mich der Offizier an. »Dr. Haggard wurde bereits verhaftet. Auch Captain Flipper steckt in einer netten kleinen Zelle.«
»Der arme Kerl bekommt ein Kind«, seufzte ich.
»Wer?«
»Captain Flipper.«
Mein Gegenüber hielt mich offensichtlich für verrückt. Und wennschon. Inzwischen war es mir gelungen, die Intensität der silbernen Stabwaffe in der Hosentasche zu justieren. Nur mit Mühe verkniff ich mir ein schadenfrohes Grinsen. In Gedanken sah ich den Offizier mit ausgestreckten Armen Kniebeugen machen – Sekundenbruchteile später begann er mit dem Training und schien alles um sich her vergessen zu haben. Diese Psychostrahler waren eine tolle Erfindung.
Was wir erlebten, war die Apokalypse, die Hölle auf Erden. Wir standen im flackernden Widerschein gewaltiger Entladungen, die ausgereicht hätten, ein kleines Gebirge einzuebnen, aber wir spürten nicht einmal einen Windhauch. Lediglich Crests merkwürdige Apparatur summte lauter als zuvor – böswilliger, so schien es mir, wie ein angreifender Bienenschwarm. Dennoch schützte dieses Aggregat unser Leben, indem es einen normalerweise unsichtbaren Energieschirm projizierte. Die energetische »Käseglocke« leuchtete mittlerweile in einem fahlen Grün, an den Einschlagstellen der Geschosse glühte sie grellviolett.
Um zwei Uhr nachts aus tiefem Schlaf aufgeschreckt, hatte ich jäh an das Ende der Welt geglaubt, zumindest unseres kleinen Reiches inmitten trostloser Einöde. Weite Kieswüsten, ausgedehnte Sanddünen, schroffe Gebirge und eintönige Steppe, die Gobi hatte hundert verschiedene Gesichter, die ich in den beiden Monaten seit unserer Rückkehr vom Mond zwar kennen-, aber noch lange nicht liebengelernt hatte. Dies war eine archaische Welt mit einem unglaublichen Reichtum an Farben und Formen, außerdem lagen hier die weltweit bedeutendsten Saurierfundstätten.
Vielleicht waren wir ebenfalls Fossilien – und wussten es nur noch nicht. In fünfzigtausend Jahren würden Archäologen unter dem dann möglicherweise fruchtbaren Boden auf unsere versteinerten Knochen stoßen und auf die innerlich verrottete stählerne Rakete.
Ich möchte nicht in einem Schaukasten ausgestellt werden. Aber falls ich das nicht verhindern kann, dann wenigstens mit einem goldenen Namensschild: Bully.
Es fiel mir schwer, in dem kargen Land die Keimzelle einer neuen Nation zu sehen, geschweige denn die Wiege der vereinten Menschheit. Perry Rhodans amüsiertes Lachen, als ich ihn an den berühmt-berüchtigten Dschingis-Khan erinnert hatte, klang mir noch immer in den Ohren. Er wollte nicht mit dem Mongolenfürsten verglichen werden, dessen Reiterheere einst ein riesiges Reich erobert und das Abendland in Furcht und Schrecken versetzt hatten. »Wir erobern nicht, Dicker«, hatte er geantwortet, »wir überzeugen. Das ist unser Vorteil.«
Insgeheim gab ich ihm recht. Trotzdem brauchte Perry jemanden wie mich, der seine Euphorie zügelte und seinen überschäumenden Glauben an das Gute im Menschen auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Die Suppe hatten wir uns zusammen eingebrockt, wir mussten sie demzufolge gemeinsam auslöffeln.
Das neueste Gesicht der Wüste behagte mir noch weniger als das alte. Seit Perry nach der Landung die Gründung der neutralen »Dritten Macht« bekanntgegeben hatte, bestand der Einschließungsring durch die Landstreitkräfte der Asiatischen Föderation. Während der letzten Wochen waren weitere Divisionen eingetroffen. Die schwersten Werferbatterien standen dreißig Kilometer entfernt. Unser Wunsch nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Asiatischen Föderation wurde nach wie vor ignoriert.
Langrohrgeschütze und Raketenbatterien fielen in das Trommelfeuer ein. Insgesamt sechstausend feuerspeiende Mündungen. Außerdem die Stalinorgeln und die dicken Brummer, deren brisante Last aus Sprengbomben und Phosphorgranaten bestand, die die Schwärze der Nacht in ein Flammenmeer verwandelten. Die Wüste brannte, der Himmel ebenfalls.
Vor vierzehn Tagen waren europäische Beobachtungsteams eingetroffen, ein erster Hinweis auf einen möglichen Schulterschluss zwischen Ost und West. Schön zu wissen, dass Perrys Hoffnungen wenigstens in einer Hinsicht Erfolg zeitigten: die Welt vereint gegen uns.
Die Nacht loderte in schrecklichem Feuer. Mit sturer Ignoranz bissen sich die Militärs an unserer Energiekuppel die Zähne aus. Eigentlich war es ein einfaches Prinzip, auf dem der Schutz basierte, die Erzeugung eines exakt berechneten elektromagnetischen Feldes, das auftreffende Geschosse vorzeitig zur Explosion brachte und ihre Energien absorbierte. Das aber nur bis zu einem gewissen Sättigungsgrad, denn eine Kapazitätsüberlastung bewirkte feldenergetische Rückschläge zu den Projektoren, die im schlimmsten Fall durchbrannten und ihrer Position entsprechend Lücken im Schirmfeld entstehen ließen. So ungefähr hatte es Crest erklärt.
Überlastungen wurden durch Punktbeschuss erreicht. Ob wissentlich oder nicht, die asiatischen Truppen waren im Begriff, genau das zu praktizieren. Ein Ausfall des Schirmfeldes hätte auf jeden Fall das schnelle Ende der Dritten Macht bedeutet. Es war ein lächerliches Wüstenterritorium von dreizehn Quadratkilometern Ausdehnung, auf das wir Anspruch erhoben.
Seit einer Stunde dauerte das Trommelfeuer an. Ich fragte mich, wie lange der arkonidische Reaktor die zur Abwehr benötigten Energien liefern würde. Zweifellos schluckte der Schirm Megawattzahlen, die bestenfalls ein komplettes irdisches Atomkraftwerk hätte liefern können.
Inmitten der Explosionen zeichnete sich endlich wieder ein Stück Nachthimmel ab. Energieschleier verwehten und zerstoben wie Polarlichter in bunten Fahnen.
Ungewohnt klar hing das Band der Milchstraße über der Gobi. Ich fragte mich, welcher der funkelnden Sterne Arkons Sonne sein mochte. Einer der hellsten Kugelsternhaufen des nördlichen Sternhimmels, im Sternbild Herkules gelegen, war M 13, die galaktische Heimat der Arkoniden. Ungefähr einhunderttausend Sonnen gehörten zu jener Region, fast jede mit Planeten, sehr viele von ihnen bewohnt. Das waren Gegebenheiten, die wir uns auf der Erde bislang nicht hatten vorstellen können, die aber hoffentlich bald Allgemeingut sein würden.
Das Trommelfeuer begann von neuem. Die flüchtige Pause schien nicht mehr gewesen zu sein als ein Atemholen, bevor der Sturm um so wütender über uns hereinbrach. Die Angreifer setzten auf Zermürbungstaktik. Niemand verkraftete auf Dauer dieses unaufhörliche Dröhnen, das Stakkato der Explosionen und den dumpfen Donner der Bomben. Dazu der Wall aus Feuer, der schon viele Nächte zum Tag gemacht hatte, vereint mit den unaufhörlichen Beben. Ich war überzeugt davon, dass die Angreifer unterirdische Sprengungen vornahmen, um zusätzliche Stoßfronten zu erzeugen.
An diesem Tag, wir schrieben den 26. August 1971, trieben sie es auf die Spitze.
»Ihr könnt uns kreuzweise.« Ich verstand meine eigenen Worte nicht. Auf dem Absatz machte ich kehrt und betrat wieder das große Zelt, in dem ein Behandlungsraum für Crest abgetrennt worden war. Nicht einmal das Trommelfeuer hatte den Arkoniden aus seinem Tiefschlaf aufschrecken können. Er schien auch die zweite Injektion des Serums einigermaßen gut überstanden zu haben. Das war meine größte Sorge gewesen. Falls Crest uns unter den Händen starb, würde Thora zur Furie werden. Für sie waren wir unverändert Wilde, die ein unglaublicher Zufall von ihren Bäumen heruntergetrieben hatte. Mir wäre bedeutend wohler gewesen, hätte ich diese Frau einige tausend Lichtjahre entfernt gewusst. An ihr wollte ich mir jedenfalls nicht die Finger verbrennen.
Die weltpolitische Lage spitzte sich rasant zu.
Peking drohte Washington mit dem Abbruch aller diplomatischen Beziehungen, da weder der Kongress noch der Präsident daran dachten, ihrer Übergabeaufforderung nachzukommen. Die Sowjetunion wurde gleichzeitig bedrängt, hinsichtlich des amerikanischen Stützpunktes in der Wüste Gobi unmissverständlich Stellung zu beziehen. Wir erhielten die ultimative Aufforderung, den Energieschirm bis zum nächsten Tag um zwölf Uhr abzuschalten.
In einer Note an Peking wiederholte ich unser Angebot einer diplomatischen Lösung. Zudem ließ ich wissen, dass wir jede kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Nationen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern würden.
»Befördere mich aber deshalb nicht gleich zum Außen- und Verteidigungsminister!« Ich grinste Perry Rhodan an. »Mir genügt es, wenn ich das Kommando über ein eigenes Raumschiff bekomme.«
»Mehr willst du nicht?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Falls du einen Brandy spendierst, sage ich nicht nein. Der ewige Sand kratzt im Hals. Ein Vollbad wäre übrigens auch nicht zu verachten.«
Perry brachte eine angebrochene Flasche Carlos I zum Vorschein. Das erinnerte mich an den Abend im »White Horse House«, vor allem an Captain Flipper. Auf gewisse Weise hatte ich das Gefühl, dass Flipper die Bindung mit seiner Frau zu früh eingegangen war. Selbst ein so unwiederholbares Erlebnis wie den Mondflug hatte er nicht richtig genossen, weil er in Gedanken immer auf der Erde geblieben war.
Ich wollte es anders machen. Seit Wochen träumte ich davon, zu den Sternen zu fliegen. Erst war es nur der Mars gewesen, danach Jupiter und Saturn, unterdessen landete ich in meinen Tagträumen auf weit entfernten Planeten. Ausgedehnte Pilzwälder ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich sah Saurierherden zwischen Riesenfarnen dahintrampeln ...
»Träumst du, Dicker?«, schreckte mich Perrys Stimme auf. »Ich sagte: Trink einen Doppelten, als Ersatz für das fehlende Vollbad.«
Crest schlief erschöpft. Die tief eingegrabenen Linien in seinem Gesicht erschienen nicht mehr so kantig. Das Serum wirkte. Vielleicht hatte ihm auch schon der »Luftwechsel« gutgetan. Tag für Tag mit einer arroganten Person wie Thora konfrontiert zu sein zermürbte den stärksten Mann.
»Wie geht es weiter?«, wollte Dr. Haggard wissen. »Auf Dauer haben Sie gegen den Rest der Welt schlechte Karten.«
»Sie kennen Perry Rhodan nicht so lange wie ich«, widersprach ich. »Wenn er sagt, der Mond besteht aus grünem Käse, dann ist das auch so.«
»Und?«, fragte Haggard.
»Was und?«
»Sie waren oben.« Sein Kopf ruckte in die Höhe. »Besteht er aus ... grünem Käse?«
»Perry hat das nie behauptet«, seufzte ich und fragte mich zugleich, warum manche Menschen jede Bemerkung wörtlich nahmen.
Ich trat hinaus vor das Zelt. Die Nachtluft war kühl und wirkte belebend. Ein Sternenhimmel in selten gesehener Klarheit spannte sich über die Gobi. Ich schloss die Augen und lauschte, versuchte das Durcheinander in meinen Gedanken zurückzudrängen und nur für den Augenblick zu leben.
»Hörst du sie«, fragte unvermittelt eine Stimme hinter mir, »die Verlockung der Sterne? Ihre Melodie ist verführerisch.«
Ich hatte nicht bemerkt, dass mir jemand gefolgt war. Zögernd, beinahe widerwillig, wandte ich mich um. Aber da war niemand. Ich schüttelte den Kopf und massierte mit beiden Händen mein Gesicht. Erst allmählich akzeptierte ich die Müdigkeit, die mir in den Knochen steckte. Wenn du anfängst, Stimmen zu hören und Dinge zu sehen, wo gar nichts ist, kannst du zwei Dinge tun, Junge, hatte mein Onkel früher hin und wieder behauptet, bevor ich zur Space Force gegangen war. Entweder du säufst weiter, hast am anderen Tag einen fürchterlichen Brummschädel und kannst dich an nichts mehr erinnern, oder du hörst schlagartig auf damit und weißt wenigstens, wen du vor den Kopf gestoßen hast.
»Und warum hältst du dich nicht daran?«
»Ich halte mich ... He, verdammt, ich bin wirklich überarbeitet.« Redete ich schon mit mir selbst? Mehr als fünfzig Meter hatte ich mich vom Zelt entfernt und stand allein hier draußen.
»Glaubst du das wirklich? Du siehst die Dinge nur mit deinen Augen, mein Freund.«
Und wennschon ... Mein tiefer Atemzug wurde zum herzhaften, nicht enden wollenden Gähnen. Was um alles in der Welt hatte Perry in den Brandy gemischt? Mit Daumen und Zeigefinger massierte ich meine Nasenwurzel. Ein paar Zahnstocher, um die Augenlider offenzuhalten, wären nicht zu verachten gewesen.
»Warum ignorierst du mich?«
Weil ... Ach, Unsinn. Ich ging weiter, schritt hastiger aus als zuvor. Fast lief ich vor mir selbst davon.
»... vor deinem Unvermögen, die Dinge richtig wahrzunehmen, Dicker. So nennt Perry dich doch, oder?«
Eine technische Spielerei. Natürlich. Perry Rhodan hatte mich zum Versuchskaninchen degradiert. Irgendwo – vergeblich versuchte ich, einen Schatten, einen Reflex, eine Bewegung vielleicht, zu entdecken – schwebte eine arkonidische Miniatursonde, und der Bursche amüsierte sich köstlich über mein verblüfftes Gesicht.
»Lass den Unfug, Perry! Mir ist heute nicht nach Scherzen.« Ich wollte zum Zelt zurück, aber ich hatte noch keine zehn Schritte getan, als hinter mir erneut die Stimme erklang.
»Reginald Bull, lauf nicht vor dir selbst davon. Hörst du?«
»Ach ...« Auf dem Absatz wirbelte ich herum – und erstarrte mitten in der Bewegung. Im ersten Moment glaubte ich, Crest zu sehen, aber die einsame Gestalt war kein Arkonide. Ein alter Mann, vielleicht ein wenig größer als ich, mit markanten, von der Erfahrung eines langen Lebens geprägten Gesichtszügen. Halblang und wirr hing ihm das graue Haar in die Stirn, schlohweiße Bartfäden standen in dünner Strähne vom Kinn ab. Er hatte asiatisch hoch angesetzte Wangenknochen, doch nur leicht schräg stehende Augen.
»Wer sind Sie?«, herrschte ich ihn an. »Woher kommen Sie?«
Mein Verstand wollte mir einreden, dass der Alte aus dem Nichts heraus erschienen war. Ansonsten hätte ich ihn schon sehr viel eher sehen müssen.
»Liebst du sie?«
Ich stand da wie angewurzelt. »Wen? Miriam? Ich habe sie lange nicht ...«
Der alte Mann lachte. »Ich rede nicht von einer Frau, mein alter Freund, sondern von den Sternen.«
Ich war verrückt – die einzige vernünftige Erklärung, die mir in den Sinn kam. Wahrscheinlich hatten die chinesischen Truppen ein Nervengift versprüht. Ich musste die anderen warnen, ich ...
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Ich wüsste nicht ...«
»Liebst du die Sterne?«
»Ja, verdammt! Wer tut das nicht. Genügt das? – Und jetzt sagen Sie endlich, wer Sie sind. Und woher Sie kommen. Für welchen Geheimdienst arbeiten Sie?«
Der Alte spuckte in den Sand. »Du kennst mich, du weißt es nur noch nicht. Ich habe viele Namen, denn ich komme aus dem Morgen und von gestern – such dir aus, was dir am besten gefällt!«
Ich war nicht verrückt. Der Alte war es schon eher. Verzweifelt fragte ich mich, wie es ihm gelungen sein mochte, die Energiekuppel zu durchdringen. Wenn sie für ihn kein Hindernis darstellte, dann womöglich ebenso wenig für Einzelkämpfer der Asiatischen Föderation. Und genau das durfte nicht geschehen.
»He!«, rief ich. »Was soll das heißen: morgen oder gestern? Ich habe keinen blassen Schimmer ...«
Er lachte nur. »Irgendwann, Bully, wirst du verstehen.« Damit wandte er sich um und schritt langsam auf den Energieschirm zu.
Ich folgte ihm. »Bleiben Sie stehen, alter Mann! Ich bin nicht Ihr Bully, ich ...«
»Wo rennst du hin?« Verwunderung schwang in Perry Rhodans Stimme mit. Er hatte eben das Zelt verlassen und blickte genau zu uns herüber.
Meine Finger umklammerten den Unterarm des Alten. Ich spürte Knochen und wenig Fleisch unter der Kleidung. »Reden wir endlich Klartext!«, stieß ich hervor. »Wer hat dich geschickt? Suche gar nicht erst nach Ausflüchten, dann kann ich nämlich sehr unangenehm werden.«
»Führst du Selbstgespräche, Dicker, oder mit wem redest du?« Perry kam auf mich zu, von dem Ziegenbärtigen schien er keine Notiz zu nehmen. Wollte er nicht oder konnte er nicht, oder ...? Unwillkürlich verstärkte ich meinen Griff, zumal der Alte ein spöttisches Lächeln zeigte, das mir völlig missfiel. Blicke einer durch, was sich hinter der Stirn eines Asiaten zusammenbraut.
»Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er ist durchgekommen.«
Perry blieb zwei Schritte vor mir stehen. Skeptisch musterte er mich. »Wer hat was geschafft?«, wollte er wissen.
Ich setzte zur Antwort an, zog es dann aber vor zu schweigen. Perry sah den Alten nicht, das wurde mir schlagartig klar.
»Er ... ich ...«
»Wenn dir nicht gut ist, Dicker, solltest du einen unserer Ärzte konsultieren. Ich bin überzeugt davon, sie kriegen dich wieder hin.«
Zum zweiten Mal versuchte ich eine Erwiderung – schwieg aber verbissen. Ich hatte den Mann nicht festhalten können. Er war fort, als hätte er in der Tat nie existiert.
»Du wirkst verwirrt, Bully.«
Ich nickte zögernd. »Mag sein. Vielleicht. Mir geistert so vieles durch den Kopf. Wir versuchen die Welt zu verändern, Perry. Das ist Idealismus pur. Okay, dagegen habe ich nichts. Aber ich fürchte, guter Wille allein hat noch nie lange geholfen. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die Erde steuert einem Atomkrieg entgegen. Wir können nichts daran ändern.«
Ich schaute wieder zu den Sternen auf. Die Welten da oben schienen nicht besser zu sein als unsere. Crest hatte von fürchterlichen Kriegen gesprochen, die im Weltraum tobten. Demnach war eine Aufnahme in die Völkerfamilie der Milchstraße wenig erstrebenswert. Wer hatte schon Interesse daran, vom Regen in die Traufe zu geraten?
Trotzdem glaubte ich, den Ruf der Sterne zu hören, ein Gefühl innerer Unruhe und Abenteuerlust, das mich ruhelos vorwärts trieb.
So wie ich in diesem Moment blickten seit Jahrtausenden Menschen in den Nachthimmel und spürten dessen grenzenlose Verlockung.
Zum ersten Mal hatten wir wirklich die Chance, unsere Träume wahr zu machen. Ich hatte mich längst entschieden. Nicht mit dem Verstand, sondern aus dem Bauch heraus, indem ich meinen Gefühlen folgte.
Peking, 12 Uhr mittags. 22. Juli. Die Hand verharrte über einem roten Knopf. Sie zögerte Sekundenbruchteile, die über Leben und Tod entscheiden konnten. Dann berührte der Daumen das kühle Plastik und drückte es ruckartig tief in die Fassung.
Silberne Torpedos jagten auf Flammenbündeln in den strahlend blauen Himmel. Ihre ballistischen Flugbahnen zielten auf die großen Metropolen der Welt, auf Militärbasen und gegnerische Atomsilos.
Langsamer folgten die Bomber, die mit ihrer tödlichen Last hoch in die Stratosphäre stiegen und ebenfalls programmierten Kursen folgten.
Flottenverbände änderten ihren Kurs und liefen unter Volllast feindliche Gewässer an.
Exakt eine Minute und achtzehn Sekunden nach den Chinesen öffnete der amerikanische Präsident seinen Atomkoffer und befahl den Gegenschlag. Wie Sternschnuppen zogen die Interkontinentalraketen ihre Flammenbahnen durch die Nacht – ein grausiges Arsenal, das ausreichte, die Menschheit viele Dutzend Male auszulöschen. Gleichzeitig stiegen die Abfangjäger auf. Jeder Pilot wusste, dass es ein Flug ohne Rückkehr sein würde. Wer wollte schon in verbranntem, strahlenverseuchtem Territorium landen? Die Männer und Frauen waren ausgebildet worden, dem Tod ins Auge zu schauen – in der Gewissheit, dass jede frühzeitig zerstörte Rakete einem kleinen Landstrich des Vaterlandes den unmittelbaren Feuersturm ersparte.
Am längsten zögerten die Verantwortlichen im Ostblock. Erst als die Radartaster die auseinanderstrebenden Raketen wie Asteroidenschwärme auf die Weltkarte projizierten, ihre Ziele in Moskau und Leningrad, Berlin, Paris, London und entlang den nordamerikanischen Küsten, starteten auch die russischen Todesboten.
»Hol's der Teufel, Brüderchen.« Iwan Martinowitsch Kosselow, sowjetischer Geheimdienstchef, drehte die bauchige Flasche in seiner Hand so, dass er das handgeschriebene Etikett lesen konnte, dann schlug er ihr an der Kante seines Schreibtisches den Hals ab. »Mit Wodka in der Kehle ist jeder gute Kommunist gegen Strahlung immun.«
Und stand nicht in den Kirchenbüchern geschrieben, »die Letzten werden die Ersten sein«? Sowjetische U-Boote kreuzten längst in den flachen Küstengewässern vor Nordamerika, Europa und China. Die Einheiten der modernen, nuklear angetriebenen Yankee-Klasse hatten ihre jeweils sechzehn ballistischen SS-N-6-Flugkörper bereits abgefeuert, jeder bei einer Reichweite von 2950 Kilometern mit einem nuklearen Gefechtskopf bestückt.
Kosselow lächelte und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Der Wodka schmeckte ihm nicht. Er entsann sich seiner Ausbildung auf einem dieselangetriebenen Angriffsunterseeboot der Foxtrott-Klasse. Achtundsiebzig Mann Besatzung in einer Konservendose von 91,5 Metern Länge, das war schon immer eine qualvolle, stickige Enge gewesen, ohne Platz für falsche Romantik. Aber gerade die Mannschaften an Bord der Unterseeboote würden den weltweiten Atomschlag am längsten überleben. Eine verflucht zweifelhafte Ehre.
Die Hand um den zersplitterten Flaschenhals verkrampft, trat Kosselow ans Fenster und blickte starr in die Dämmerung hinaus. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Explosionen ihre Rauchpilze in die Atmosphäre schickten.
Inzwischen war es zu spät, um zu bedauern.
Viel zu spät.
Ich hörte, wie Dr. Haggard neben mir scharf einatmete. Dann erstarrte er schier, den Blick auf den Monitor gerichtet, der völlig konfus die Hektik im Studio eines amerikanischen Nachrichtensenders wiedergab. Niemand hielt noch auf Konventionen. Ich hörte hysterisches Schreien und zorniges Gebrüll. Da waren totenblasse Gesichter mit Tränen in den Augen ...
Perry Rhodan hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt. Er drückte fest zu, als wolle er sich an mir aufrichten.
Ich selbst schloss die Augen und hoffte, dieser Albtraum möge endlich aufhören. Wenn ich aufwachte, lag Miriam neben mir im Bett und ...
»Woran denkst du, Bully?«
Perrys Frage in dem Moment erschien mir schrecklich profan. »An die Zukunft«, antwortete ich. »An die Zukunft der Menschheit im Weltraum. Vorausgesetzt, Thora hält ihr Wort und hilft uns.«
»Ich zweifle nicht daran.«
Was sollte ich darauf erwidern? Einzig und allein Crests Schicksal schien diese Frau nicht kalt zu lassen. Die paar Milliarden halbintelligenter Affen, die es im Laufe ihrer Evolution zu einer bescheidenen technischen Entwicklung gebracht hatten, interessierten sie doch kaum. Ähnlich intensiv berührte die Straßenbauarbeiter im brasilianischen Dschungel das Schicksal Tausender Ameisenvölker, die unter den Rädern der mächtigen Planierraupen zermalmt wurden.
Perrys Finger verkrampften sich in meine Schulter. Hinter mir stieß Eric Manoli einen gurgelnden Aufschrei aus.
Das Bild auf dem Monitor wechselte abrupt. Entweder hatte die Regie auf einen Satelliten umgeschaltet, oder die neue Aufnahme kam von Bord eines Spionageflugzeugs.
Zwei Interkontinentalraketen befanden sich im Erfassungsbereich. Sie schmierten ab, stürzten in steiler werdendem Winkel in die Tiefe. Wolkenbänke verschluckten sie.
Ich hielt den Atem an und zählte in Gedanken bis zehn.
Nichts geschah. Weder flammte in der Tiefe die urwüchsige Gewalt atomarer Explosionen auf, noch ließ der elektromagnetische Puls die Übertragung zusammenbrechen.
Weitere Bilder ...
Monument Valley. Grelles Scheinwerferlicht verharrte zitternd über einem kleinen Krater. Das deformierte metallene Etwas, das sich metertief in den Boden gewühlt hatte, trug chinesische Schriftzeichen.
Los Angeles. Die Fassade eines siebenstöckigen Wohnhauses war aufgerissen und halb in sich zusammengesackt. Einzelne Wohnungen lagen offen, aus geborstenen Leitungen ergossen sich dünne Wasserfontänen in die nur langsam verwehenden Staubwolken. Schreie, verwackelte Aufnahmen, herabstürzende Mauerbrocken – der Kameramann kämpfte sich ins Innere des Gebäudes vor. Augenblicke später verharrte das Bild zitternd auf dem Schrott einer Atomrakete. Ein Kommentator setzte zum Reden an, doch nach wenigen Worten versagte ihm die Stimme.
Die Aufnahmen waren bezeichnend für die Szenen, die sich in diesen Minuten überall auf der Welt abspielten.
Es war vorbei.
Vorerst ...
Trotzdem empfand ich keinen Triumph, nur eine grenzenlose Leere. Nicht menschliche Vernunft hatte im letzten Augenblick über die Todessehnsüchte einiger weniger Wahnsinniger gesiegt, sondern arkonidische Supertechnik.
Um so mehr gab es für uns zu tun.
»Mister Wong«, sagte ich, bemüht, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen, doch am liebsten hätte ich mit meinen Verhandlungspartnern endlich Klartext geredet. »Wir sitzen seit zweieinhalb Stunden beisammen ...«
»Fast drei Stunden, Mister Bull.« Das Lächeln des Chinesen war entwaffnend und sollte mich aus dem Konzept bringen.
Ich nickte knapp. »Wenn Sie es sagen, dann eben drei Stunden. Das ändert leider nichts daran, dass wir uns bislang keinen einzigen Schritt aufeinander zubewegt haben.«
»Was sicherlich nicht unsere Schuld ist«, erklang es zu meiner Rechten. Suzy Marei hieß die Sprecherin des Wirtschaftsausschusses, so zumindest war sie mir vorgestellt worden. Indes wurde ich den Verdacht nicht los, dass ihre Funktion vor allem darin bestand, ausländische Geschäftspartner auf charmante Weise zu Zugeständnissen zu bewegen. Ihr Gesicht war ebenmäßig, wie aus Elfenbein geschnitzt, und das stufenförmig geschnittene schwarze Haar kontrastierte perfekt zu ihrer hellen Haut. Sie war schlank, für eine Chinesin großgewachsen und überragte mich beinahe um Haupteslänge. Das enganliegende grüne Seidenkleid, das ihren Körper in vollendeter Form modellierte, trug sie am Hals hochgeschlossen, allerdings mit einem pikanten Ausschnitt.
Ich bemühte mich, Suzy nur in die Augen zu schauen. »Wie Konfuzius schon sagte«, gab ich mit mühsam bewahrter Freundlichkeit zurück, »es gehören immer zwei dazu.«
»Aber Mister Bull.« Der Dritte im Bunde, Marschall Roon, Befehlshaber der AF-Landstreitkräfte, lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Scheinbar versonnen musterte er mich über seine Fingerkuppen hinweg. »Sie sind Amerikaner, deshalb sehe ich großzügig darüber hinweg, dass Sie unserem ehrwürdigen Konfuzius falsche Worte in den Mund legen. Ich hätte eher erwartet, Sie zitieren Ihren Tellerwäscher.«
»Wen?« Ich notierte einige Zahlen auf dem vor mir liegenden Schreibblock, multiplizierte, strich alles wieder durch.
»Rockefeller, Mister Bull«, sagte Roon nachsichtig.
Und Wong, Mitglied des Politbüros, fügte hinzu: »Ihr Angebot ist lächerlich gering. Ich bedauere.«
»Dann bedauere ich ebenfalls. Meine Herren ...«
Ich war wütend. Was glaubten diese Halsabschneider, wen sie vor sich hatten? Krösus? Der Preis, den sie für lumpige 160 Quadratkilometer Wüste verlangten, war Irrsinn. Dafür hätte ich halb Manhattan kaufen können, aber nicht taubes und staubiges Brachland.
»Morgen ist ein neuer Tag, Mister Bull.« Wong erhob sich geschmeidig und verneigte sich knapp in meine Richtung.
»Sagt das Konfuzius?«, fragte ich, ohne meinen Ärger länger zu verbergen.
»Das sagt die Partei.« Roons Blick durchbohrte mich wie ein kraftvoll geschleuderter Wurfstern. Mein Freund war der Marschall gewiss nicht. Die Dritte Macht hatte seinem Ansehen geschadet. Zumindest sah er das so. Ich spürte es an seinen Gesten, seinen Worten, seinen giftigen Blicken. Aber ich konnte mir meine Verhandlungspartner nicht aussuchen. Wenn Perry und ich unsere Ideen endgültig etablieren wollten, brauchten wir das Land.
Ich dachte an die blamable Show, die Roon beim Angriff auf die STARDUST geboten hatte – vor allem, als Perry seinen Hubschrauber wegen unerlaubter Landung auf dem Gebiet der Dritten Macht konfisziert hatte.
Meine zweite Begegnung mit dem Marschall war auf dem Rückweg von Australien gewesen. Unter dem Einfluss des Psychostrahlers hatte er mir trotz seines beachtlichen Truppenaufmarsches in Hongkong Fahrzeuge und freies Geleit beschafft.
»Selbstverständlich sind Sie heute Abend unser Gast, Mister Bull«, sagte Wong gepresst. »Die besten Plätze in der Staatsoper sind reserviert.«
Den bevorstehenden Abend verband ich mit stilisierter Schauspielkunst, schriller Fünftonmusik und grellbunten Kostümen, alles Dinge, die mir persönlich nicht sonderlich viel gaben. Andererseits würde es mir schwerfallen, bei diesen Darbietungen einzuschlafen und meine Gastgeber tödlich zu beleidigen.
Der Abend ging doch schneller vorbei als befürchtet. Mir dröhnte der Schädel. Sobald ich die Augen schloss, sah ich immer noch die akrobatischen Verrenkungen der Tänzer und ihre kalkweißen Gesichter im Scheinwerferlicht.
»Wir sind durchaus gewillt, der Dritten Macht das Land mit fünfzig Kilometern Radius um den Landeplatz der STARDUST als souveränes Territorium zu verkaufen«, begann Suzy Marei völlig unerwartet in ebenso akzentfreiem Englisch, wie es die anderen Gesprächspartner sprachen. »Nur müssen Sie einsehen, dass wir die Seele unseres Reiches nicht für ein Butterbrot verramschen können. Zumal wir ein abschreckendes Beispiel vor Augen haben. Für uns ist ein Teil von New York auf gestohlenem Boden gewachsen.«
»Lernt man das in der Kulturrevolution?«, konnte ich mir nicht verkneifen.
»Wohl nur im Kapitalismus«, konterte die Chinesin.
Sie komplimentierten mich in die Hotelbar und ließen mich unmissverständlich wissen, dass sie eine Ablehnung meinerseits als Beleidigung empfunden hätten.
Wong erwies sich als ebenso trinkfreudig wie Marschall Roon. Nach dem vierten Whisky entledigte ich mich endlich der Krawatte, die mir schon den ganzen Abend über lästig gewesen war. Wie Diplomaten sich mit so einem Strick um den Hals wohl fühlen konnten, würde mir ewig ein Rätsel bleiben. Lieber ölverschmierte Hände bis hinauf zu den Ellbogen; das zeugte von Arbeit, auf die man stolz sein durfte.
Halb zwei Uhr morgens war es, als Suzy sich verabschiedete. Ich hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken, wobei es mir völlig gleichgültig war, in welches Fettnäpfchen ich damit trat. Ein klein wenig, zumindest hinsichtlich Größe und Statur, erinnerte mich Suzy an Thora. Dabei hatte ich gar nicht an die arrogante Ziege denken wollen.
Ihre Überheblichkeit hatte die Arkonidin den Forschungskreuzer gekostet. Mehr als Schrott war nach der Explosion der Meso-Katalyse-Bombe von dem stolzen 500-Meter-Raumer nicht geblieben. Drei lausige Mondraketen der unterentwickelten Menschen hatten es geschafft, Thoras Weltbild anzukratzen.
Ihre starre Gleichgültigkeit war gespielt gewesen, das glaubte ich nach wie vor. »Sie kennen das Tai Ark'Tussan nicht«, hatte sie Perry entgegengeschleudert. »Wir verlieren an jedem Tag Raumschiffe. Das ist nichts Besonderes.«
Lediglich ein 60-Meter-Beiboot war Crest und ihr geblieben – für uns Quasi-Neandertaler immer noch ein monströses Schiff, aber eben nur ein Abklatsch des Forschungskreuzers.
Drei Uhr war es, als ich die Hotelbar endlich verließ und mit dem Lift nach oben fuhr. Ein rotfleckiges Stoppelgesicht starrte mir in der verspiegelten Kabine entgegen. Die dunklen Schatten unter den Augen wollten mir absolut nicht gefallen.
»Die versuchen, dich morgen über den Tisch ziehen«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. »Unsere Dritte Macht hat keinen Geldscheißer, oder?«
Ich hatte mehr getrunken als beabsichtigt. Meine Beine fühlten sich schwammig an. Als der Lift ruckartig hielt, taumelte ich nach vorne und gleich darauf hinaus auf den breiten Korridor mit seinen übermannshohen Vasen und den vergoldeten Drachenskulpturen.
Trotz Thoras Protest hatte Crest Perry und mich einer hypnotischen Schulung am Indoktrinator des Beibootes unterzogen. Wir verfügten über Kenntnisse, die von den fähigsten irdischen Wissenschaftlern bestenfalls erst in Ansätzen diskutiert worden waren; eine neue und phantastische Welt hatte sich aufgetan. Ich beherrschte die Reinheitsformeln für die Erzeugung von Arkonstahl zur Schiffspanzerung ebenso wie die Erweiterung thermodynamischer Leitsätze. Ohne besondere Mühe hätte ich zu sagen vermocht, wie viel Energie sich aus einem Kubikzentimeter der Masse eines Braunen Zwerges gewinnen ließ – rein theoretisch natürlich, denn noch fehlten die Grundlagen, die eine solche Massegewinnung überhaupt erst ermöglichten.
Obwohl mein Hirn vollgestopft war mit abgehobenen Theorien, schien immer noch ausreichend Platz für ein leichtes Schwindelgefühl. Und das lästige Summen unter der Schädeldecke gab es ebenfalls weiterhin. Insgeheim war meine größte Sorge gewesen, dass der arkonidische Apparat mich veränderte, dass ich mich in einen knöchernen, trockenen Professor verwandelte, dessen Zerstreutheit die schönen Dinge des Lebens schlichtweg ignorierte. Nein, ich konnte mir den Reginald Bull nicht vorstellen, der über Formeln brütete, den Tag in Büros oder Labors verbrachte, mittags in der Kantine aß und sich nach achtzehn Uhr in die vollgestopfte U-Bahn quetschte. Das war nicht mein Leben, ich wollte keine eingefahrenen Geleise, die mit jedem Tag tiefer wurden.
Ich brauchte Abwechslung, musste mir den Wind um die Nase wehen lassen und das Gefühl haben, ich könnte alles hinter mir lassen. Frau und Kinder, ein trautes Heim womöglich, mit Meerschweinchen, Hund und Goldfischen im Teich, das war bestenfalls fürs Alter geeignet. Aber vorher ...?
Schritte folgten mir, verhielten hinter der nächsten Abbiegung. Schlagartig war ich nüchtern. Eine Nachlässigkeit durfte ich mir nicht erlauben. Es gab genug Leute, die nach dem Besitz arkonidischer Machtmittel strebten. Andererseits konnten Perry Rhodan und ich uns nicht in einem gläsernen Käfig verkriechen. Wenn wir die Dinge bewegen wollten, mussten wir raus.
Ich hörte, dass jemand mit einem Schlüssel über ein Türschloss kratzte. Gespielte Hilflosigkeit? Gleich darauf wurde eine Tür geöffnet, fiel dumpf klappend wieder ins Schloss.
Ich lauschte in die nachfolgende Stille und stand unvermittelt im Dunkeln. Es war ein Fehler gewesen, den Psychostrahler nicht mitzunehmen, doch ich hatte die Grundstücksverhandlungen ohne faule Tricks über die Bühne bringen wollen. Das war ich mir und der Dritten Macht schuldig.
Schatten huschten heran. Drei, vier Personen mussten es sein. Ich stand mit dem Rücken zur Wand, die Fäuste halb erhoben und bereit, die Angreifer mit wilden Hieben zu Boden zu schicken.
Urplötzlich flammte das Licht wieder auf. Die Schemen zerflossen, entpuppten sich als Dekorationsgegenstände, und ich beschloss, nie wieder Reisschnaps und Whisky durcheinanderzutrinken, denn die Mischung beeinträchtigte das Sehvermögen kolossal.
Sekunden später betrat ich meine Suite: ein fast schon luxuriöses Bad, ein großer Wohnbereich und das Schlafzimmer mit französischem Bett und reich verziertem Deckenspiegel. Die hinter dem Spiegel verborgene Miniaturkamera und die Mikrophone hatte ich dank meiner Ausrüstung rasch entdeckt und unschädlich gemacht. Was aber bestimmt nicht bedeutete, dass keine neuen Wanzen vorhanden waren.
Ein dezenter Duft hing im Raum. Das waren keine Räucherstäbchen. Französisches Parfum, stellte ich überrascht fest.
Und dann sah ich sie – gekleidet in einen Hauch von seidigem Nichts, rot wie die personifizierte Verführung. Ein Sektkühler stand auf der Ablage neben dem Bett, dazu zwei Gläser.
»Suzy, Sie ...«
»Komm«, hauchte ihr Mund. »Darauf habe ich lange gewartet.« Sie streifte einen Träger über die Schulter und entblößte ein weiteres Stück makelloser Haut.
»Vermutlich haben Sie sich im Zimmer geirrt.« Meine Stimme sollte abweisend klingen, sie tat es nicht. Deutlich spürte ich das Vibrieren, die Erregung, die sich meiner bemächtigte. Von Miriam hatte ich nichts mehr gehört; die einzige Frau, die ständig in meiner Nähe lebte, hieß Thora und hatte, ganz im Gegensatz zu der Chinesin, auf mich die Wirkung einer kalten Dusche. Irgendwo tief in meinem Unterbewusstsein nagte jedoch die erschreckende Feststellung, dass ich die Arkonidin möglicherweise ganz attraktiv fand, es mir nur nicht eingestehen wollte; der Alkohol verdrehte die Tatsachen.
Der zweite Träger rutschte über den Arm.
Bully, du Idiot, greif zu!, schoss es mir durch den Sinn. Du bist Diplomat, und das gehört zum Geschäft.
»Zeichnen die Kameras schon auf, Miss Marei?«, fragte ich stattdessen verärgert. »Was gedenken Ihre Auftraggeber mit dem Filmmaterial zu erpressen?«
Sekundenlang ließ ihr Porzellangesicht Enttäuschung erkennen, als hätte sie sich wirklich auf die Nacht mit mir gefreut. Dann öffnete sie mit schnellen Handgriffen den Champagner und schenkte ein.
»Kommen Sie, Mr. Bull! Trinken wir auf alles, was das Leben lebenswert macht.«
Was hätte ich dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. So wie John Marshall und einige der anderen Männer und Frauen, deren besondere geistige Fähigkeiten zur Gründung des Mutantenkorps geführt hatten. Ihre Unterstützung konnte gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sooft ich darüber nachdachte, erschien es mir, als hätte das Schicksal in Person zu unseren Gunsten eingegriffen, doch die Wurzeln des Geschehens reichten zurück bis in jene Zeit, als die erste Atombombe über Hiroshima abgeworfen worden war und die Epoche der Massenvernichtungswaffen begründet hatte, zugleich aber auch der Forschung bis hin zu den kleinsten Bausteinen der Materie, die der Entwicklung der Menschheit auch ohne das Zusammentreffen mit den Arkoniden auf dem Mond die Richtung in den Weltraum gewiesen hätte.
Mit dem verführerischsten Lächeln, seit Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis gepflückt hatte, hielt Suzy mir ein Glas entgegen. »Diese Nacht gehört uns beiden«, flüsterte sie.
Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Suzy Marei war mehr als eine Sünde wert. Aber ich traute dem Frieden nicht. Als Modell hätte die Frau im Westen eine Blitzkarriere hinlegen und sich dumm und dämlich verdienen können; dass sie ausgerechnet auf mich wartete, konnte nur einen knallharten politischen Hintergrund haben.
»Was erhoffen Sie sich von dieser Farce?«, fragte ich zögernd, immer noch das Glas ignorierend. »In Wahrheit halten Sie mich doch für einen typisch amerikanischen Holzfäller, der die Feinheiten Ihrer Kultur niemals begreifen wird. Was bietet die Partei dafür, dass Sie mit mir ins Bett steigen? Beförderung, ungehinderte Auslandsreisen, ein Stück Land?«
Ihr Lächeln veränderte sich. Ich glaubte eine Mischung aus Ärger und Verwirrung zu erkennen, hatte aber einige Probleme damit, meinen Blick wirklich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Ich schwitzte. Jemand musste die verdammte Heizung angestellt haben.
Sanft glitten Suzys Finger über meinen Nacken, ihr Parfum hüllte mich in eine Wolke verführerischer Düfte, und mir brach endgültig der Schweiß aus allen Poren.
Ich war auch nur ein Mensch und weiß Gott kein Eunuch. Dass ich seit Monaten keine Frau angefasst hatte, war nicht gerade auf meinen eisernen Willen zurückzuführen, sondern auf einen Mangel an Gelegenheiten. Was hatte die Chinesin verbrochen, dass ich sie derart kalt abblitzen ließ? Ich war stets bereit zu einem kleinen Wagnis, und im Grunde suchten wir alle nach menschlicher Wärme und dem Gefühl der Geborgenheit.
»Wer hat Sie beauftragt ...?«
Zwei Finger legten sich auf meine Lippen. »Sprich jetzt nicht davon, Mr. Bull. Das würde den Zauber zwischen uns zerstören.«
Sie reichte mir ein Glas, der Hauch von Seide glitt endgültig zu Boden.
Ich hätte mich ohrfeigen können für das, was ich jetzt tat, aber ich konnte nicht anders. Ich trank den Champagner in einem Zug und ging zurück zur Tür. »Ich bin in Peking, um über den Kauf eines nahezu wertlosen Wüstenareals zu verhandeln«, erinnerte ich sie. »Was mich behindern könnte, muss hintanstehen. Weder Konfuzius noch Rockefeller haben den Spruch geprägt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Aber ich lebe nun mal danach. Vielleicht, Miss Marei, sehen wir uns unter anderen Umständen wieder.«
»Wo gehen Sie hin? Mr. Bull ...?«
Auf gewisse Weise floh ich vor mir selbst. Vor allem versuchte ich mir einzureden, ich sei ein Riesenrindvieh. Leider hinderte mich das nicht daran, mit dem Aufzug nach unten zu fahren. Die Bar war verlassen und dunkel, ich suchte mir eine gemütliche Sitzecke, legte die Beine hoch und war kurz darauf eingeschlafen.
Seltsamerweise träumte ich nicht von bildhübschen Chinesinnen, sondern von John Marshall, den ich um seine Fähigkeit des Gedankenlesens beneidete. Bis vor kurzem war er Angestellter der Zentralbank in Brisbane gewesen, bis seine besondere Fähigkeit bei einem Überfall publik geworden war. Marshall hatte Alarm ausgelöst, als zwei bewaffnete Bankräuber noch in der Reihe der Kunden gestanden hatten, und die Polizei war frühzeitig genug eingetroffen, um Schlimmeres zu verhindern. Schon in der Schule, so hatte er mir erzählt, hatte er stets alle Antworten gewusst, damals aber eher instinktiv, ohne sich seiner besonderen Begabung wirklich bewusst zu sein.
Ich wachte auf, als eine Putzkolonne anmarschierte. Draußen dämmerte erst der Morgen, ein wolkenverhangenes, trübes Grau hing über der Metropole. Keiner der dienstbaren Geister bekam mich zu Gesicht, als ich mich dezent über das Treppenhaus zurückzog.
Meine Suite war verlassen, das Bett scheinbar unberührt. Die Orchideenblüte auf dem Kopfkissen begann bereits zu welken. Ich nahm mir Zeit, mich nach Wanzen oder Kameras umzusehen, fand jedoch absolut nichts.
Dass ich nur zwei Stunden Schlaf abbekommen hatte, warf mich nicht um. In der Hinsicht war ich einiges gewohnt. Abwechselnd heiß und kalt geduscht, danach zehn Minuten Konzentrationstraining, und ich war fast wieder der alte.
Ein Hoteldiener ließ mich wissen, dass der ursprünglich für elf Uhr angesetzte Termin auf den Nachmittag verschoben worden sei. Keine Begründung, nichts. Mir blieb gar keine andere Wahl, als abzuwarten, Perry Rhodan und ich waren auf das Wohlwollen der Chinesen angewiesen. Wo sonst wären die Voraussetzungen für die Hauptstadt einer geeinten Erde ähnlich günstig gewesen wie in der Wüste Gobi? Keine Region in den Staaten kam dafür in Betracht. Europa war zu dicht besiedelt, die Sahara hatte für meinen Geschmack zuviel Sand und war obendrein mit ihrer Äquatornähe zu heiß.
Über mein arkonidisches Bildfunkgerät, das ich am Handgelenk trug und das nicht größer als eine Armbanduhr war, informierte ich Perry.
»Du brauchst Verstärkung?«, wollte er wissen.
»Quatsch. Ich brauche Geld.«
»Wenn es weiter nichts ist. Halte die Chinesen für eine Weile hin, dann sind zumindest solche Probleme aus der Welt geschafft.«
»Sag das noch mal!« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Die Halsabschneider wollen nur läppische zehn Milliarden Dollar, das sind mehr als 60 Dollar für den Quadratmeter Felswüste. Fünf Cent wären schon überbezahlt.«
Perrys Lachen klang mir in den Ohren. »Ich denke, das bekommen wir auf die Reihe«, behauptete er großspurig. »Der britische Innenminister ist zur Begnadigung von Homer G. Adams bereit. Na ja, ein klein wenig Nachhilfe durch arkonidische Psychotechnik war erforderlich.«
»Adams?« Ganz folgenlos schien die Nacht doch nicht an mir vorübergegangen zu sein. Offensichtlich hörte ich schlecht. Der Name Adams war mir jedenfalls nicht geläufig.
»Homer Gershwin Adams«, erläuterte Perry in schulmeisterlichem Tonfall. »Der wohl erfolgreichste Börsenspekulant und Finanzmakler überhaupt. Er muss ein Genie sein.«
»Das wage ich anzuzweifeln. Sagtest du nicht eben, er sitzt im Knast? Mann, Perry, haben wir es nötig, so tief nach unten zu steigen?«
»Zwanzig Jahre wegen illegaler Transaktionen. Adams ist kein Krimineller, er hatte schlichtweg Pech.«
»Wortklauberei.« Ich konnte nicht anders, ich musste hell auflachen. »Aber niemand soll von mir behaupten, ich wäre ein Gegner der Resozialisierung. Also, was ist mit diesem Adams?«
»Viele Berichte über ihn schreiben ihm ein fotografisches Gedächtnis zu. Es sieht so aus, als würde er nie auch nur eine Kleinigkeit vergessen. Adams ist ein kleiner, verwachsener Mann mit schütterem Haar und zu groß wirkendem Schädel ...«
»... also völlig unauffällig«, platzte ich heraus. »Und wenn er wirklich nichts vergisst, können wir beruhigt davon ausgehen, dass er seinen Fehler kein zweites Mal macht.«
»Dein Sarkasmus ist unangebracht, Dicker. Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?« Durchdringend blickte mich Perry von der winzigen Bildfläche des Funkgeräts her an. »Ich verbürge mich dafür, dass Adams loyal sein wird. Über dich mache ich mir im Moment mehr Sorgen.«
»Vergiss es«, schlug ich vor. »Ich hab's auch schon vergessen.«
»Ein Frauengeschichte?«, argwöhnte er. »Hast du dich von den Chinesen einwickeln lassen?«
»Eben nicht. Aber das ist das erste Mal, dass ich bereue, etwas nicht getan zu haben.«
Zwei steile Falten erschienen auf Perrys Stirn. Er gab sich Mühe, nicht zu amüsiert in die Optik zu blicken. »Das vergisst du schnell, sobald sich die Zeiten für uns normalisieren.«
»Du bist wirklich ein Freund«, konterte ich. »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, mit welchem Blick du Thora manchmal hinterherschaust? Aber das wird die ewig unerfüllte Sehnsucht nach dem Exotischen bleiben.«
Bevor Perry Rhodan darauf reagieren konnte, unterbrach ich die Bildfunkverbindung. Da mir noch Zeit blieb, wollte ich mich auf die neuen Verhandlungen vorbereiten.
Dass Suzy Marei nicht ausgetauscht worden war, überraschte mich, ihr tiefgründiges Lächeln noch viel mehr. Völlig verblüfft war ich, als die Chinesin sich während der Verhandlungen auf meine Seite schlug. Dass wir an diesem Tag zu einem Ergebnis kamen, war überwiegend ihr Verdienst, obwohl auch sieben Milliarden Dollar für Brachland nicht gerade als Butterbrot durchgehen konnten.
»Nichts ist wirklich wertlos, sobald jemand Interesse zeigt«, klärte Wong mich auf. »Kein Kapitalist handelt aus Selbstlosigkeit.«
Ich verneigte mich vor ihm. »... was ich von Ihnen ebenso wenig behaupten kann, Mr. Wong.«
»Das wichtige ist, Mr. Bull, dass keiner sein Gesicht verloren hat«, warf Suzy ein. »Ich freue mich darauf, Sie wieder begrüßen zu dürfen, wenn die Verträge unterschrieben werden.«
»Die Freude ist ganz meinerseits.«
Die sieben Milliarden US-Dollar waren nicht sofort fällig, mir war eine Ratenzahlung von monatlich fünfhundert Millionen Dollar zugestanden worden. Das änderte zwar herzlich wenig an der Tatsache, dass das Geld schlichtweg noch nicht vorhanden war, verschaffte der Dritten Macht aber Zeitgewinn. Homer G. Adams würde beweisen müssen, dass er die Vorschusslorbeeren wirklich verdiente, mit denen Perry ihn bedachte.
Eine Sicherheit hatten die Chinesen verlangt. Wenigstens für die erste Rate. Das war eine Farce. Aber was war das nicht? Die Worte meines Ex-Bankberaters klangen mir wieder in den Ohren. Vielleicht hätte ich doch die Lebensversicherung abschließen sollen ...
Innerhalb kurzer Zeit entwickelten sich die Dinge wie von Perry angekündigt. Homer G. Adams, kurzerhand zum Finanzminister der Dritten Macht ernannt, eröffnete in New York die GCC, die General Cosmic Company Ltd., eine Agentur für betriebliche Rationalisierung und modernste Fertigungsmethoden, die eigentlich nichts anderes tat, als arkonidische Technik bestmöglich zu vermarkten. Er schaffte es, nicht nur den Aktienhandel an der New York Stock Exchange, sondern an nahezu allen bedeutenden Börsenplätzen in den freien Fall zu bringen und mit einem »Taschengeld« von wenigen Millionen US-Dollar ganze Industrien aufzukaufen. Das Schauspiel einer fiktiven Invasion wirkte sich auf die übersensiblen Geld- und Kapitalmärkte verheerend aus.
Zugleich, vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, spielte sich eine wirkliche Invasion ab. Die automatischen Notrufe des auf dem Mond zerstörten Kreuzers hatten die wespenähnlichen Individualverformer angelockt, die typisch menschlichen Urängsten entsprachen, waren sie doch in der Lage, die Körper ihrer Opfer zu übernehmen.
Unser Sieg über die Invasoren machte uns bewusst, wie verletzlich die Erde geworden war. Es stand zu befürchten, dass auch andere Völker aus dem Sternenreich der Arkoniden dem Notruf folgten.
»Das Schicksal musste uns ausgerechnet in den entlegensten Winkel der Galaxis verschlagen, damit wir erkennen, wie schlecht es um das Tai Ark'Tussan wirklich bestellt ist.« In Crests Stimme schwang unüberhörbare Ironie mit. »Wer könnte uns also übelnehmen, dass wir so schnell wie möglich nach Arkon zurückkehren wollen? Andererseits sieht es auch so aus, als hätten wir einen Bundesgenossen gefunden, wie wir uns keinen besseren wünschen können. Die irdische Menschheit wird ihren Weg gehen, davon bin ich inzwischen überzeugt.«
Thora schwieg dazu. Ihr lag nur daran, die irdische Technik rasch auf ein Niveau zu heben, das den Bau eines fernflugtauglichen Raumschiffs erlaubte.
»Ich glaube, sie vergleicht uns nicht mehr mit Kletteraffen«, wandte ich mich an Perry Rhodan. »Aktuell sieht sie in uns selbstbewusste Schoßhunde, in dir ganz besonders.«
»Langsam, Dicker«, mahnte mein Freund. »Du schießt weit übers Ziel hinaus.«
»Meinst du? Tut mir leid, aber ich habe schließlich Augen im Kopf. Wenn ich dir sage, dass bei euch Welten aufeinanderprallen, solltest du mir das glauben.«
Neben mir, in der durchaus geräumigen Kabine des arkonidischen Beibootes, stand eine Schale mit frischem Obst. Fahrig griff ich hinein, zupfte eine Handvoll Trauben ab und begann sie einzeln zu essen.
»Futter dir meinetwegen keinen Kummerspeck an«, sagte Perry. »Thora wähnt sich immer noch so hoch über uns Menschen wie ...« Während ich den Rest der Weintraube aus der Schale nahm, suchte er nach einem passenden Vergleich. »... wie du über Lucy«, vollendete er schließlich.
Ich vergaß zu kauen. Dann spuckte ich Schale und Kerne zielsicher in den Abfallvernichter. »Lucy?« Ich kniff die Brauen zusammen. »Du kannst mir manches nachsagen, Perry, aber lass bitte das Urzeitskelett aus dem Spiel. Ein bisschen mehr Fleisch sollte eine Frau schon auf den Rippen haben.«
»Major Rhodan!«, erklang eine eisige Stimme über die Bordsprechanlage. »Wissen Sie, dass Ihre Artgenossen wieder eine Schweinerei ausgeheckt haben? Ein weiteres primitives Raumschiff wie Ihre STARDUST fliegt den Trabanten an. – Ich erwarte Sie sofort in der Zentrale!«
Ich schnippte mit den Fingern und grinste noch eine Spur breiter, aber auch besorgter. Schoßhund!, formten meine Lippen spöttisch und lautlos.
»Major Rhodan, kommen Sie bitte in die Zentrale!«
Dass Thora sich zu einem milderen Tonfall und einem »Bitte« herabließ, hatte ich nicht erwartet.
»Mach den Mund wieder zu, Dicker!«, sagte Rhodan amüsiert. »Und falls du irgendwann alles Obst vertilgt hast, solltest du nachkommen.«
»Ich lass' dich schon nicht allein, Chef.« Lediglich einen rotbackigen Apfel schnappte ich mir noch.
Zwanzig Minuten später startete die GOOD HOPE, so hatten wir das 60-Meter-Kugelschiff getauft, mit Maximalschub. Es war der größte Beiboottyp der arkonidischen Flotte, aber eben nur mit begrenzter Reichweite. Mit einer Anfangsbeschleunigung von beinahe 500 Gravos peitschten die aus den Ringwulstdüsen austretenden Korpuskularwellen das Schiff in den Raum. Auf den großen Bildschirmen der kreisrunden Zentrale war zu sehen, dass die Erde rasend schnell zurückfiel. Weiße Wolkenbänke hingen über graugrünem Land, ein im Entstehen begriffener Taifun wurde sichtbar, gleich darauf zeichnete sich das dünne, bläulich schimmernde Band der Atmosphäre ab, so verletzlich, wie man es vom Boden aus niemals wahrnahm. Die Erde wurde zum flachgedrückten Ball in der samtenen Schwärze des Weltraums.
Die Instrumente zeigten nach wie vor diesen ungeheuren Andruck, den arkonidische Absorber im gesamten Schiffsbereich bis auf normale Erdschwere kompensierten.
Ich stand schräg hinter Thora und jonglierte gedankenverloren mit dem angebissenen Apfel. Schließlich wandte ich mich an Perry, der im Sessel des Kopiloten Platz genommen hatte. »Wenn mir das vor einem Jahr jemand prophezeit hätte ... Wir sind tatsächlich im Begriff, Jahrtausende technischer Entwicklung aufzuholen. In unserer guten alten STARDUST wären wir bei der Beschleunigung nicht einmal mehr Apfelmus.« Nach dem nächsten Bissen kniff ich ein Auge zu und warf das Kerngehäuse zielsicher in den nächsten Abfallschacht.
»Halbe Distanz zum Mond«, meldete Thora. »Mister Bull, falls Sie und Major Rhodan das Schiff wirklich fliegen wollen, sollten Sie endlich Ihren Platz einnehmen.«
Ich wischte mir die Finger an der Jacke ab. »Auf zum nächsten Dressurakt«, sagte ich. »Das ist für uns Steinzeitwilde noch die leichteste Übung.«