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Morgen war es anders

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Der Frühling ging, der Sommer kam, dann der Herbst, der Winter und der Frühling. Die Jahre zogen ins Land, überall. Auch im Land der Cherokee, das immer mehr zu meinem eigenen Land, zu meiner Heimat wurde. Täglich traf ich mich mit Gallegina und John, nicht nur in Springplace. Die Nächte, die ich zuhause bei Vater verbrachte, wurden seltener. Seine Art des Lebens wurde mir im gleichen Maße fremder, wie mir ihre vertrauter wurde. Aus Freundschaft wuchs eine Art Verwandtschaft. Sogar als Gallegina auf Byhans Anraten und der geschätzt hundertsten Lektüre der Bibel beschloss, sich fortan nach König David zu benennen, hielt die Freundschaft Johns und meinem Spott stand. Das höhnische King David nahm er genauso gelassen hin wie die Tatsache, dass wir ihn, als wir des Witzes überdrüssig waren, wieder Gallegina nannten. Wie alle anderen. Nach dem Tag in Etowah, meiner Rückkehr zu John und Gallegina, wurden meine Besuche bei Sequoyah wieder seltener. Gelegentlich ritten wir zusammen zu ihm, warfen Zapfen auf sein Dach und gegen die Hütte. Da niemand mehr die Tür von innen aufriss, versuchten wir auch nicht, hineinzugehen. Die Hütte im Wald war zum langweiligsten Ort geworden, den es nicht aufzusuchen lohnte. Sequoyahs Tochter Galihali hingegen trafen wir häufiger. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wie es dazu kam. Irgendwann, sie muss etwa acht oder neun gewesen sein, zog sie mit uns durch die Wälder und Dörfer. Es muss in der Zeit begonnen haben, als sie in Springplace zur Schule geschickt wurde. Obwohl sie ein Mädchen war, störte sie uns nicht. Manchmal tauchte sie nach der Schule zwischen uns auf und blieb für den Rest des Tages bei uns. Nicht täglich, aber oft. Genauso wie Galleginas kleiner Bruder Degataga. Wir waren unser eigener Stamm. Was mir zunehmend gefiel. Im Stammesland tat sich zu der Zeit viel. In den Dörfern, Städten und Wäldern. Es waren nicht die Veränderungen, die den Zusammenhalt bedrohten, nicht die neuen Techniken, nicht der Handel, nicht die neu erbauten Schulen, von denen die meisten ohnehin nie eröffnet wurden. Es war eine andere Gefahr, die über die Trassen in das Land zog.

Die Schule in Etowah wurde fertiggestellt, doch unterrichtet wurde dort nie. Es fehlte an Lehrern und Schülern. Es gab Wichtigeres zu tun. Ebenfalls in Springplace waren die Neuen die Ersten gewesen, die ausblieben. Spätestens zur nächsten Ernte.

Das Leben ging weiter. Bei den Sitzungen des National-Komitees in den folgenden Jahren setzten sich meist die Reformer durch, die von The Ridge angeführt wurden. Aber die Traditionalisten verloren dadurch nicht an Zuspruch, sondern gewannen durch die Dispute oftmals an Ansehen. Manche Entscheidungen des Komitees wurden sogar von beiden Parteien getragen, wenn auch manchmal aus unterschiedlichen Gründen. Bei den benachbarten Creek war es zu Unruhen gekommen, die bald zu Scharmützeln und blutigen Schlachten führten. Eine große Gruppe Red-Stick-Krieger unter Häuptling Lamochattee und Menawa rief zum Aufstand auf. Sie erhielten Hilfe von britischen Militär-Einheiten. Daraufhin marschierten US-Soldaten in das Creek-Land ein. Sowohl die Red-Sticks, die befreundeten Muskogee-Creek als auch die US-Regierung baten die Cherokee um Unterstützung. Allen versagten sie es. Das National-Komitee beschloss, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Neutralität zur Selbsterhaltung. Die Gefahr war zu groß, dass sich der kriegerische Konflikt aufs eigene Land ausbreitete. Wegen der Verbundenheit mit den Red-Sticks stimmten einige gegen das Ansinnen von Muskogee und USA. Die anderen stimmten dagegen, weil ihre Stimme ebenfalls gegen die Unterstützer der Red-Sticks in den eigenen Reihen verstanden werden konnte.

Der Zustrom von weißen Siedlern im Stammesgebiet der Cherokee stieg im gleichen Maß wie die Ablehnung gegen die Siedler. Das Verhalten mancher Siedler verursachte neuen Hass. Die Landgier der Eindringlinge vermengt mit Alkohol bestätigte den Argwohn und die Wut. Um Ruhe und Frieden zu wahren, beauftragte der Stammesrat die Lighthorse-Patrole, die Störenfriede vom Land der Cherokee zu entfernen. Im Namen des Obersten Häuptlings sprach John Ross mit Colonel Meigs. Sie planten zu der Zeit, gemeinsam einen Fährbetrieb über den Tennessee River und einen Handelsposten westlich von Red Clay zu eröffnen. Die Nachricht von der Ausweisung seiner Landsleute wegen ihres Verhaltens im Land der Cherokee schluckte der Colonel. Widerwillig. Er gab John Ross die Schuld an der Entscheidung des Stammesrates, zeterte, meckerte und fügte sich schlussendlich, weil er die lohnenden Handelsbeziehungen zu ihm nicht gefährden wollte. The Ridge und die Lighthorse-Patrole nahmen die unerwünschten Einwanderer fest und geleiteten sie über die Grenze. Bei Uneinsichtigen teils mit Gewalt. Mit der Drohung, das Land der Cherokee nie wieder zu betreten, sofern ihnen an ihrem Leben etwas liege. Für den Frieden und die Einheit des Stammes und für die Zustimmung im National-Komitee und Stammesrat zeigten der Beschluss und die Durchführung Wirkung.

Nach dem letzten Gefecht des Shawnee Tecumseh fehlte von ihm jede Spur. Es gab Gerüchte, aber niemand wusste, wo er sich aufhielt oder ob er noch lebte. Mit ihm verlor der Ghostdance-Aufstand ihren wichtigsten Anführer. Die politische Macht der Traditionalisten schwand ebenfalls unter den Cherokee. Doch gleichzeitig näherte sich das Ende von Black Fox schleichend. Er zog sich zurück, langsam, er wirkte kränklich. Als er unter rätselhaften Umständen verstarb und sein Vorgänger Pathkiller als Oberster Häuptling zurück ins Amt kehrte, zeigte niemand Interesse an der Aufklärung der Todesumstände. Der Oberste Häuptling war tot, und der neue führte seinen Stamm nun doch in den Krieg gegen die Red-Sticks. Angeführt von Generalmajor Andrew Jackson an der Seite der USA. Es war keineswegs ein freiwilliger Entschluss, sondern die Abwägung zur Verhinderung von Schlimmerem.

Die Auswirkungen des Red-Stick-Krieges waren auch im Land der Cherokee sicht- und spürbar. Ein bedrohlicher Tribut an den Fortschritt. Über die festen Trassen durch das Stammesgebiet transportierten die Planwagen Waren in die Städte der Cherokee und aus diesen nach Georgia und Tennessee. Für den Wohlstand zuträglich und für General Jacksons Truppen ein sicherer Weg. Niemand wagte, es ihm zu verwehren. Zur Versorgung, für den Nachschub und zuweilen zum Rückzug marschierten die Verbände durch das Land der Cherokee in das Gebiet der Creek hinein und heraus. Und je verlustreicher der Einsatz wurde, desto ungehemmter verhielten sich die Truppen auf ihrem Weg. Die Indianer hätten es verdient, und einen Unterschied zwischen Creek, Shawnee und Cherokee sahen nur wenige Soldaten. Eine Rothaut blieb eine Rothaut, blieb eine Gefahr und blieb ihr Feind. Anfänglich waren es bloß wenige Viehdiebstähle, bald brannten die ersten Höfe der Cherokee. Nur zwei Möglichkeiten sahen die Häuptlinge des National-Komitees und Stammesrats, um die Bedrohung durch den Nachbar-Krieg vom Stamm abzuwenden. Beide bedeuteten, selbst einen Krieg zu führen. Entweder die Lighthorse-Patrole würden Jacksons Soldaten bei ihren Taten stellen und verhaften, was unweigerlich zum Kampf mit den US-Verbänden führen würde. Oder sie schickten die eigenen Krieger gemeinsam mit Jacksons Armee in die Schlacht gegen die Red-Sticks, um den Krieg dort möglichst rasch zu beenden. Es gab keinen anderen Ausweg, um den Frieden im Stamm zu wahren oder zurückzugewinnen. Ansonsten drohte ein Aufstand gegen die US-Truppen im eigenen Land. Was niemand riskieren wollte. Dann würden sie lieber für die befreundeten Muskogee-Creek kämpfen. Die Zeichen standen auf Krieg. Folglich bereiteten Pathkiller, The Ridge und John Ross ihre Krieger auf das Unvermeidliche vor. Tsali glaubte für die falsche Seite zu kämpfen, war aber trotzdem dabei. Für den Stamm, für die Cherokee. Gulkalaski und Corn Tassel holten ebenfalls die Bogen, Köcher, Pfeile, Büchsen und Pulverhörner hervor, um endlich ›Klarheit zu schaffen‹, wie sie sagten. Sogar Sequoyah weckte der Ruf aus seiner Apathie. Er verließ seine Klause, weil anderes nun dringlicher war.

Bis heute habe ich niemals in einem Krieg gekämpft, weder als Soldat noch als Krieger. Keine Schlacht habe ich ausgefochten, nicht mit Messer, Bogen oder Büchse. Ich wäre mitmarschiert, wenn ich gerufen worden wäre, doch hat mich das Schicksal der späten Geburt davor verschont. Nicht nur die Gefahr getötet zu werden, bereitet mir Angst, sondern ebenso das Töten selbst. Das Heldenhafte, wovon die Heimkehrer oftmals reden, will mir meist nur als Selbstschutz erscheinen. Wenn ich an das denke, was der Krieg aus den Menschen, die ihn überlebten, gemacht hatte, wie er in ihren Seelen gewütet hatte, schätze ich mich ausnahmsweise mal für mein Schicksal dankbar, einfach zu jung gewesen zu sein.

»Das hätten wir gleich machen sollen, die elendigen Rotröcke vertreiben«, schnarrte Gulkalaski, als der Aufruf zur Schlacht gegen die Red-Sticks und Engländer durch den Stamm ging. Genauso wie es jeder von ihm erwartete. Er schulterte sein Gewehr und ritt mit den anderen davon. Tatsächlich trat die erhoffte Wirkung ein. Die Plünderungen im Stammesgebiet ließen nach, die Soldaten achteten das Recht der Verbündeten. Nicht alle, aber die meisten. Und die Unverbesserlichen konnten nun wegen ihres Verhaltens bei der alliierten US-Armee angezeigt werden. Außerdem gab es noch weitere Vorteile für die Cherokee wegen des Kriegseinsatzes. Die Truppen zogen weiterhin durch das Land, doch jetzt zahlten sie für die Versorgung der Soldaten. Der Nachschub wurde zu einem lukrativen Handelsgeschäft. Viele Cherokee transportierten die notwendigen Waren von Georgia und Tennessee zu den Schlachtfeldern, um sie dort zu veräußern.

In meinem Leben veränderte sich wenig, außer dass ich den Weg nach Hause noch seltener einschlug. Vater hielt sich vermehrt daheim auf. Je nach Jahreszeit saß er entweder drinnen und trank oder eben draußen unter der Platane. Da er selbst nicht in den Krieg zog, aber der Umstand des Krieges seine Landkauf-Geschäftsmöglichkeiten zum Erliegen brachte, weil er Order aus Washington bekam, keine Versuche zu unternehmen, wartete er das Ende der Schlachten ab. Hatte er bereits zuvor eine Menge getrunken, war er jetzt ein richtiger Säufer. Für mich ein Grund mehr, von ihm fernzubleiben.

Gallegina und John schwärmten in der Zeit vom Heldenmut ihrer Väter und berichteten von den ruhmreichen Kämpfen der beiden, in denen diese jeweils mindestens ein Dutzend der tapfersten Red-Sticks oder Engländer mit bloßen Händen, Mann gegen Mann, niedergerungen hätten. Was hätte ich für solch einen Vater gegeben? Für einen kämpfenden Helden, keinen saufenden Händler. Legenden wie sie wollte ich erspinnen, um im Schatten des Respekts für den Vater Anerkennung bei den Freunden zu erlangen. Doch alle wussten, dass meiner zuhause saß und trank. Kein guter Anfang für eine ruhmreiche Geschichte. Also lauschte ich sehnsüchtig denen der anderen. Dass der Krieg vor allem in Berichten von Ruhm handelt, vor Ort mit Angst, Elend und instinktivem, meist schrecklichem Handeln einhergeht, ahnte ich nicht, hätte ich damals wohl auch nicht geglaubt. Es war Sequoyah, der mich irgendwann über die Wahrheit des Krieges, des traumatischen Gemetzels, aufklärte. Die Veränderungen in den Gesichtern der Heimkehrer sah ich und deutete sie falsch. Als Erschöpfung aus Heldenmut.

Für uns war die Zeit, in denen die Krieger als Soldaten gegen die Red-Sticks kämpften, ein wundervoller Traum. Freiheit von den Eltern. Plötzlich waren wir die Großen, fast Krieger und Häuptlinge, also John und Gallegina waren es. Unsere Hilfe war wichtig für das Leben und Überleben der Familien und Dörfer. Wir waren die ältesten der jüngsten Generation, die nicht als Krieger für den Stamm kämpften. Viele der Aufgaben der Älteren mussten nun von uns erledigt werden. Sogar von mir, denn ich gehörte zu John und Gallegina. Plötzlich hatten wir das Sagen, oder glaubten es zu haben. Wenn ich mit den Freunden unterwegs war, gehörte ich zu ihnen, fühlte mich fast erwachsen. Gut, da waren noch ihre Mütter, aber die waren froh, dass sie Aufgaben abgeben konnten. John kümmerte sich um die Farm von The Ridge, was die Sklaven wegen seiner Jugend noch weniger mochten, als wenn sein Vater dies tat. Gallegina ging mit seinem jüngeren Bruder Degataga auf die Jagd, wobei der erfolgreicher war. Ich half mal bei dem einen, mal bei dem anderen aus. Oftmals in Begleitung von Galihali, was mich gleichermaßen freute wie irritierte. In der seltenen gemeinsamen Freizeit ersannen wir unseren eigenen Red-Stick-Krieg. Nur ein Spiel. Unbedarft und harmlos. Degataga verkörperte stets einen Red-Stick, was ihm nie gefiel. Die beleidigte Wut wegen der zugewiesenen Rolle kam der Darstellung des Feindes hingegen zugute. Er musste Galihali, eine Cherokee, überfallen. Wir bekämpften den feigen Red-Stick, bis Degataga frustriert und beleidigt aufgab und floh. Zur echten Mutter. Was für ein ruhmreicher Sieg. Was für eine tolle Zeit.

Es ist beschämend, sicherlich, aber wir waren Heranwachsende, die ihre Sicht des Erwachsenen-Daseins spielten. Heldenhaft und ohne Verluste oder Mitleid. Die Welt drehte sich um uns und handelte ausschließlich von uns selbst. Im Guten wie im Bösen, von unserer Vorstellung der Wirklichkeit. Jeder Krieg war ein harmloses Scharmützel mit tödlichem Ausgang, ein famoses Spiel. Von den Plünderungen, den Zerstörungen und den Massakern sahen wir nichts. Oder wollten sie nicht sehen. Wenn die Soldaten gegen ihren Befehl die Cherokeehöfe überfielen, Vieh und Ernten raubten, halfen wir, die Gebäude wieder aufzubauen, errichteten Zäune, gruben die Böden um und säten. Auch das: Alles bloß ein Spiel.

In den Kampfpausen, wenn die Krieger heimkehrten, eilten wir neugierig los, um das Neueste zu erfahren. Mit Andauern der Schlachten sank die Menge an blutigen, gern heldenhaften und bisweilen sogar aufrichtigen Berichten. Auch Sequoyah zog sich in den Kampfpausen in seine Hütte zurück und versank wie zuvor in seinen Schriftarbeiten. Unerreichbar.

»Schrift …«, erklärte er abwesend und brüchig, als ich ihn einmal bei seiner Arbeit in der Hütte unterbrach. »Schrift ist wichtiger als … im Krieg, vor allem da … Boten und Verträge, alles fest und trotzdem beweglich … Blätter ohne Blut … Genug davon … ich … die Schrift …!« So verschwand er wieder zurück in seiner Welt.

Der Krieg hatte Freundschaften getötet und andere geschaffen. Der große, narbige Krieger mit dem entstellten Gesicht, Tsali, saß nun häufiger bei Sequoyah in der Hütte. Während der über seinen Schriftzeichen brütete, schnitzte Tsali Holzskulpturen, die für mich keine Ähnlichkeit mit irgendetwas aufwiesen, was ich jemals gesehen hatte. Erschreckend und auf bizarre Weise schön. Ohne einen Bezug zur Realität, die ich kannte, oder zu einer, die ich kennen wollte. Sequoyah habe ihm das Leben gerettet, behauptete Tsali, was der wie alles ohne Kommentar beließ. Tsali blieb bei ihm sitzen. Über Sequoyas obsessive Schriftidee verlor er nie ein Wort. Er unterstützte das Vorhaben des Freundes. Schweigsam schnitzend. War er vor dem Red-Stick-Aufstand ein Furcht einflößender und zugleich einnehmend humorvoller Mensch gewesen, schien es nun, als wären die beiden Seiten seines Wesen für immer verschwunden. Der polternd-lachende Krieger war vernarbt wie sein Antlitz. Die Narben waren sichtbar, aber hatten an Bedrohung verloren. Die Schlachten gingen weiter, und viele Krieger kehrten nie zurück.

Der Einzige, der niemals verstummte, war Gulkalaski. Gewaltige Geschichten hatte er zu erzählen. Er gab allen Rotröcken die Schmach hundertfach zurück, die sein Vater vor langer Zeit im Unabhängigkeitskrieg an ihrer Seite hatte erleiden müssen. Da waren ›jämmerliche Rotröcke‹, die er mit bloßen Händen erwürgt habe, während sie ihm nur in den großen Zeh geschossen hätten. Acht, die er mit einem einzigen Schuss erledigte, und sieben, die er nacheinander mit dem Kriegsbeil erschlug. Unzähligen Red-Sticks hätte er allein gegenübergestanden und, darauf war Verlass, er hatte sie alle kühn besiegt. Sie jagten ihm einen Pfeil ins Bein, ein Streifschuss traf ihn am Arm, und eine Messerstichwunde erlitt er an der Schulter. Er war der Einzige, der bis zum Ende von glorreichen Taten berichtete. Taten, die wir gierig hörten, die wir mit ihm erleben wollten. Wir liebten seine Geschichten und spielten sie detailgetreu nach, genau wie er sie erzählt hatte.

»Umstellt hatten sie ihn, diesen General Jackson, und wenn wir nicht gekommen wären, hätten sie ihn sicher …« Gulkalaski fabulierte, Tsali und Sequoyah schwiegen, und wir lauschten gespannt. Gulkalaski war in jener Zeit unser großer Krieger, unser Held. Von Tsali und Sequoyah erfuhr ich später von den Feldern voller Leichen, deren Knochen beim Vormarsch unter den Rädern der Kanonen knackten wie tote Äste. Von den entstellten Körpern der Nachbarn, Freunde und Verwandte, die eingesammelt und rasch verscharrt werden mussten, bevor die Hyänen sie vom Kampfplatz holten. Und von den Soldaten, die ihre gefallenen Gegner zum Sold und Beweis ihres Sieges verstümmelten. Mal die Kopfhaut, mal die Ohren, mal den Skalp schnitten sie ihnen ab. Meistens die Nasen. »Entlohnt wurden die Soldaten pro Nase«, brummte Tsali und schnitzte weiter an der düsteren Gestalt in seiner Hand. Ich sah auf das fehlende Ohr, über das sein roter Haarschopf fiel, und fragte mich, ob die Währungen des Krieges von Schlacht zu Schlacht wechselten. Der unbekümmerte Gedanke eines Jungen, der die schreckliche Wahrheit nie erlebt und nie gesehen hatte.

Wieder ein neues Jahr. Nach den kalten Frühjahrsmonden kam es zur entscheidenden Schlacht am Tohopeka, am Horseshoe Bend. Die Kanonen feuerten den ganzen Morgen auf das Lager der Red-Sticks, hieß es, ohne militärischen Erfolg. Erst nachdem sie direkt angriffen, wurden die Red-Sticks endgültig geschlagen. Vernichtend. Mit ihnen die Engländer. Die Nachricht vom Sieg erreichte uns Kinder in Springplace. Während des Unterrichts flog die Tür auf, John Ross sprang herein und verkündete die gute Botschaft. Gut für die Sieger. Die Kapitulation der Red-Stick-Creek stünde nahe, behauptete Ross. Die Cherokee-Krieger der Schlacht am Tohopeka seien zurück in Head of Coosa, um ihren Triumph zu feiern. Gallegina und John stürmten wie all die anderen Kinder an Ross vorbei, um sich auf den Weg zu ihren hoffentlich überlebenden Vätern zu machen. Ich folgte ihnen. Vermutlich saß mein Vater in der Hütte auf der Lichtung nahe dem Bach, der zum Conasauga River führte, und trank.

Über hundert Pferde standen in Head of Coosa vor dem großen Haus von Johns Eltern. Ihr Atem warf kleine Nebelfähnchen in die Luft. Bis auf das Schnaufen der Pferde war es still im Ort. Als sei die Welt eingefroren. Erst mit unserer Ankunft kehrte das Leben zurück. Mit erwartungsvollen und neugierigen Schreien. Voll Hoffnung und Angst. Das Trampeln der Hufe und das Rufen der Namen von Vätern und Verwandten. Aus der Esse des weißen Hauses von The Ridge zog eine Rauchfahne gen Himmel und zeigte uns, wo alle waren. Wir sprangen von den Ponys und rannten hinein. The Ridge, Pathkiller, Sequoyah, White Path, Tsali, Rattling Ground, Gulkalaski, The Glass, Oowatie, Corn Tassel und alle anderen waren im Saal der Ridges versammelt. Tabakgeruch füllte süßlich jede Ecke aus. Es war heiß und bedrückend. Beklemmend. Sie hatten gesiegt, hieß es, trotzdem standen die Krieger dort, als hätten sie verloren. Vernichtend geschlagen. Dabei hatte der Stamm Jagdgründe im Süden dazugewonnen, wie ich später bei einem Treffen, einer Verhandlung wegen der Nutzung dieser Jagdgründe, mit den Creek erfuhr. Bei dem Treffen, wo ich Alice und meinem Halbbruder begegnete. Die Muskogee-Creek waren befreundete Nachbarn gewesen, einst, vor dem Krieg. Aber die verletzte Freundschaft war nicht der Grund für die bedrückende Schweigsamkeit. Erneut war es Gulkalaski, der die Stille zerstörte. Er trat auf uns zu, schwadronierte von seinen Heldentaten und denen der anderen. Den Inhalt seiner Worte hörte ich nicht, ich sah bloß die Gesichter der Krieger. Sequoyah hockte zusammengesunken und mit geschientem Bein an der Feuerstelle.

»Sequoyah«, rief ich sorgenvoll und lief zum Freund, der mich bekümmert anlächelte. »Was ist mit deinem Bein?«

»Ach das, da hab ich Glück gehabt«, antwortete er, was mich im Angesicht der Bandagen nicht überzeugte. »Die Kugel hätte mein Herz treffen können, stattdessen durchlöcherte sie mein ohnehin kaputtes Bein. Ob ich nun wegen einer Kugel oder wegen meines Schweinefußes hinken muss: Wo ist der Unterschied?« Er lachte bitter auf, niemand lachte mit ihm. Blaue Dunstwolken stiegen zur Decke.

»Was ist los?«, fragten John und Gallegina gleichzeitig. Sie starrten ihre Väter an. Die pafften weiter an ihren Pfeifen.

»Habt ihr doch verloren?« Eine erschreckende Frage, doch so naheliegend.

»Doch, doch, die Red-Sticks sind geschlagen.« The Ridge sah mit versteinerter Miene auf, was uns jedoch nicht vom Jubeln abhielt. »Kein Grund zum Feiern, schweigt!« Unser Jubeln erstarb.

»The Ridge, bitte, nicht«, intervenierte John Ross ruhig und nachdrücklich. »Sie sind noch zu jung.« Pathkiller pflichtete ihm bei. Wir waren empört.

»Ab heute Major Ridge. Wir tragen unsere Nasen noch in unserem Gesicht. Wenn es so bleiben soll, müssen wir möglichst schnell lernen, wie sie zu denken. Deren Feindschaft überlebt kein Cherokee. Wir müssen ihre Freunde werden, bleiben, und zur Not so sein wie sie. Die haben mich zum Major ernannt, also bin ich ab heute Major Ridge.«

»The Ridge«, mischte sich nun Sequoyah ein, als er unsere verstörten Blicke sah. »Also gut, von mir aus, Major Ridge. Aber Ross hat Recht, das ist nichts für …« Er wies auf uns, als wären wir Kleinkinder, die bei der geringsten Berührung zusammenbrachen und greinten. Was sollte das? Unsere Empörung wuchs zur Wut heran.

»Sie sind unsere Zukunft«, entgegnete Major Ridge unbeirrt, was uns freute und gleichzeitig verwirrte. »Alt genug. Es ist notwendig, dass sie wissen, warum wir Entscheidungen treffen müssen, die auch sie betreffen werden.«

»Aber Mattheus, der ist, der weiß …« Was hatte das alles zu bedeuten? Mattheus? Nicht mehr Adahy? Warum schloss mich mein alter Freund plötzlich aus der Gemeinschaft der Cherokee aus?

»Ach«, knurrte Tsali dazwischen. »Adahy erfährt es ohnehin spätestens morgen von den anderen beiden.« Ich lächelte Tsali dankbar an, was jedoch nicht lange anhielt. »Außerdem soll er ruhig hören, von was für Bestien er abstammt.«

»He, was soll das heißen?«, brüllte ich wütend.

»Das heißt«, rief Gulkalaski aufgekratzt dazwischen, »dass der Krieg bald zu Ende ist. Häuptling Menawa ist geschlagen, und Jackson wird uns ewig dankbar sein. Uns und mir! Denn ich habe, als ein Red-Stick sich auf die Sandbank am Tohopeka an ihn heranschlich, … zack.« Er durchhieb mit dem Arm die Luft, als ob er ein Kriegsbeil trüge. Die Krieger verdrehten genervt die Augen. »Und danach klopfte er mir dankbar auf die Schulter und versprach: Solange die Sonne scheint und das Gras wächst, soll Freundschaft zwischen uns herrschen. Die Cherokee sollen auf ewig in ihrem Land bleiben, sagte er. Genau so war es.«

»Halt’s Maul, Gulkalaski«, fauchte Johns Vater ungehalten. »Auch du hast die Raben in der Nacht vor der Schlacht über dem Lager gesehen. Auch du hast geweint, als den Creek die Nasen abgeschnitten wurden.«

Wieder die abgeschnittenen Nasen, die Währung der Schlacht, von der Tsali berichtet hatte. An dem Ort zwischen den siegreichen, niedergeschlagenen Kriegern war der Schrecken real, kein unbekümmerter Gedanke mehr. Auch ich spürte ihn im trägen Pfeifendunst des Saales.

»Aber …« Gulkalaski stieg Zornesröte ins Gesicht, er zügelte die Wut jedoch, als er bemerkte, dass ihm niemand zur Seite stand.

»The… Major Ridge hat Recht, halt bitte den Mund«, forderte Pathkiller, und tatsächlich verstummte Gulkalaski. »Es ist wohl besser, die Jungen, und auch Adahy, zu informieren. Hören wir auf, von Heldentaten zu reden, sondern sprechen von den Gefahren, damit wir alle daraus lernen.«

Gulkalaskis Gesichtsausdruck verriet eine andere Meinung, doch er schwieg und knirschte mit den Zähnen. Und sie sprachen von den Siegen, vom mutigen Einsatz der Cherokee, von den Sklaven, die sie den Creek abnahmen, von den getöteten und gefangenen Red-Sticks. Sie berichteten von Toten in den eigenen Reihen, beängstigend sachlich. Der Tod war der treuste Begleiter des Kampfes. Jedoch das Ausmaß war erschreckend neu gewesen. Der Schmerz verband, der Tod zerriss. Von Siegesfeier war keine Spur. Nur Rauch und Stille.

Die Soldaten hatten, so erklärten Tsali und Sequoyah später, nach dem Sieg über Häuptling Menawa die Dörfer der Red-Sticks gestürmt, Frauen und Kinder getötet, erschossen, erdolcht und erwürgt, erschlagen ohne Mitleid, Rücksicht oder Reue. Nicht der Sieg des Krieges hatte die Soldaten angetrieben, sondern ein Blutrausch nach Vergeltung, Vernichtung und Ausrottung des Gegners. Egal, welchen Alters oder Geschlechts. Der Tod war die einzige Währung. In Nasen und Skalps gezählt. Auch ich zählte sie von da an in meinen Träumen. So eindringlich waren ihre Worte. Die Cherokee und Muskogee hätten zwar nicht mitgemacht, aber sie hatten das Massaker auch nicht zu verhindern versucht. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Krieger in Head of Coosa gab den Erzählungen Recht. Gewonnen, tatenlos zugesehen und verloren. Die bedrückende Stille im Saal verband sich später mit weiteren Berichten von Tsali und Sequoyah zu den Albträumen meiner Nächte. Die Lehre, die alle verband: Ein Krieg war gegen diesen Feind unmöglich zu gewinnen, ohne das Leben oder die Seele zu verlieren. Der Glanz des Aufbruchs der Krieger war zu Staub und Blut zerfallen.

»Aber ich habe General Jackson das Leben gerettet«, rief Gulkalaski. Um Begeisterung bemüht, mit belegter Stimme. Ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Wunderbar, Gulkalaski, dafür wird er dir vermutlich ewig dankbar sein«, knurrte Major Ridge mit erdrückender Ironie.

»Es steht ein für alle Mal fest: Wir können in Zukunft nur überleben, wenn wir auf andere Weise Widerstand leisten als die Red-Sticks«, behauptete John Ross. Ohne Widerspruch. »Wir müssen andere Waffen benutzen, um als Cherokee unser Land zu verteidigen. Friedliche. Unser Schicksal liegt nicht nur in der Hand des Großen Geists, sondern auch in unserer eigenen … und in der der Weißen.«

Die stumme Reaktion im Raum konnte vieles bedeuten: Zuspruch, Verständnis, Resignation oder einfach gleichgültige Müdigkeit. Ich sah Gallegina an, der zu John blickte. Der gab eine Geste zurück, gleichzeitig wehmütig-geschlagen und aufbruchbereit. Die Vergangenheit der Cherokee kannte ich nur aus Erzählungen. Eine Welt ohne Einfluss von, ohne Kontakt zu und ohne Handel mit den US-Nachbarn klang ebenso fern wie die Anekdoten meines Vaters über die Heimat des Großvaters jenseits des Ozeans. Und tatsächlich lagen beide Vergangenheiten gleich weit entfernt. Ebenfalls Gallegina und John kannten einzig die Welt, in der wir zusammen lebten. Und die veränderte sich von Tag zu Tag in entgegengesetzter Richtung zu den alten Geschichten und Mythen. Sich dagegen zu wehren, führe zum Tod, zum Tod des ganzen Stammes, behauptete John Ross. Die Red-Sticks seien der letzte und verzweifelte Beweis gewesen. Eine Möglichkeit der Rückkehr ins alte Leben gab es nicht. Und was bedeutete das für mich? Ich wusste es nicht. War ich Teil der Entscheidung? Zu wem gehörte ich?

Viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb mir nicht. In das Schweigen der Krieger traten Johns und Galleginas Mütter die Stiege vom Obergeschoss hinab. Begleitet wurden sie von einer weiteren Frau, einer schlanken mit pechschwarzen, glatten Haaren und riesigen dunkelbraunen Augen. Das Außergewöhnliche ihrer Erscheinung fiel sogar mir auf. Alle drehten sich nach ihr um. Doch merkwürdiger als das Verhalten der Krieger war das von Sequoyah. Kaum stieg die Frau zu uns hinab, sprang er auf und humpelte ihr entgegen. Mit weit geöffneten Armen. Er drückte sie an sich und drehte sie den anderen im Raum zu. Eine Bewegung, um sie allseits vorzustellen. Als ob sie seine neue Frau sei? Wie konnte das sein? Wo kam sie her? Wie und wo hatte er sie kennengelernt? Auf dem Schlachtfeld? Während er in Trance in seiner Hütte über Holztäfelchen brütete? Beides schien unmöglich. Wer war sie?

»Das ist meine neue Frau, Sally!«

Der fremde Cherokee. Freundschaft schreibt Geschichte

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