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Vergangenes ist vergangen

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Als die Ersten an der brennenden Hütte ankamen, war kaum mehr als ein verkohltes Gerippe übrig. Die Rauchsäule hatte viele angelockt, aus Head of Coosa, Oothcaloga, Ustanali und bis aus Gansagiyi waren sie herbeigeeilt. Zu spät, um das Gebäude aus Holz zu retten. Noch rechtzeitig, um die Flammen daran zu hindern, auf die Bäume in der Umgebung überzugreifen. Wobei eine Gefahr der Ausbreitung auf den Wald östlich des Coosa River kaum bestand. Bei der Errichtung von Hütten wurde zwar immer darauf geachtet, durch Rodung einen sicheren Abstand zum Wald zu halten, die Achtsamkeit der Bewohner hielt jedoch meistens nur, bis der Alltag den Alltag bestimmte. Die Ernte, der Winter, die Aussaat, die Jagd. Irgendwann fiel um die Holz- und Steinhütten das trockene Laub des Herbstes, die Sträucher des zweiten Frühlings und das Gestrüpp des dritten Sommers wurden nur noch nachlässig weggeräumt. Anderes als die Vorsicht wurde schleichend wichtiger, bis wieder Rauch aus den Wipfeln stieg. Der unachtsame Mensch, nicht Blitze, waren das größte Risiko für die Jagdgründe und für die Dörfer. Das Feuer wurde zur Fährnis, wo Feuer genutzt wurde. Da jeder das eigene Handeln, die eigenen Säumnisse kannte, brach reuige Panik aus, sobald unkontrolliert Rauch aufstieg. Die Nachbarn liefen und ritten herbei, in der Hoffnung, dass noch was zu löschen war. So geschah es auch, als Sequoyahs Hütte brannte.

Doch wie erwähnt: Es herrschte eine auffällig geringe Gefahr der Ausbreitung des Feuers. Im Umkreis um die Hütte standen weder Büsche noch Gestrüpp, die Äcker waren ohne Bewuchs, und von Gräsern, die sonst kniehoch jede freie Fläche eroberten, war kein Halm zu sehen. Nur schwarze Erde. Als wäre alles andere ausgerissen, weggeharkt und fortgetragen worden. Wer interessiert hingesehen hätte, dem wäre in sicherer Entfernung ein Holz- und Laubberg aufgefallen, den ganz gewiss kein Igel, Hase oder Wiesel zusammentragen hatte. Sogar die Zäune des Gemüseackers waren entfernt worden. Es brannte einzig und einsam Sequoyahs Hütte. Trotz der vereinten Löschversuche blieben von ihr nicht viel mehr als ein paar verkohlte Balken, Holzpfannen und Asche übrig. Als die Glut an den letzten Resten nagte, war der halbe Stamm versammelt. Sally und Tsali standen neben Sequoyah vor der Ruine. Er hockte auf der Erde, Adahys Bibel in Händen und drückte erschöpft seine Stirn auf den Einband. Sally sah zur abgebrannten Hütte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihre Miene, das nur Tsali wahrnahm. Dem Buch unter der Stirn ihres Mannes warf sie einen kurzen Blick zu, sah zu den letzten Gluten des Feuers, machte eine Bewegung mit der Hand zur Bibel, doch als Sequoyah aufschaute, strich sie ihm bloß über den Kopf. Eine tröstliche Geste ohne Trost. Tsali schwieg, schmunzelte und legte Sequoyah seine Pranke auf die Schulter. Was geschehen war, war kein Rätsel, jedenfalls für niemanden außer Sequoyah. Die meisten zeigten Verständnis für Sally. Um kein Wort über den Brand und die offensichtliche Ursache dessen sagen zu müssen, hielten die Freunde und Nachbarn Abstand zu den dreien und löschten mit Decken und Wasser, was längst erloschen war.

»Meine Schrift, meine Zeichen …« Sequoyah linste über den Buchdeckel auf die verkohlte Ruine.

»Genau, es ist ein Zeichen. Sieh es als Zeichen des Großen Geistes!« Sally warf Tsali einen verschwörerischen Blick zu, den er nicht erwidern wollte. Was war mehr wert? Das Glück der Familie des Freundes oder sein Traum? Tsali konnte und wollte es nicht entscheiden. »Ein Zauber, der alles säubert.« Tsali sah zu dem breiten Streifen bloßer Erde, der sich um die Hütte schlängelte, und schwieg.

»Ein Zauber des Großen Geistes? Allerdings«, gab Sequoyah ihr Recht. Sally nickte selig und umarmte ihn. Tsali ließ die beiden in ihrer Zweisamkeit zurück und ging zu dem dunklen Erdstreifen.

»Wegen der Hütte mach dir keine Sorgen, wir helfen dir, eine neue zu bauen«, bot er an, bückte sich und fuhr mit dem Finger über den Boden. Nass, die Erde war nass. Sally hatte an alles gedacht. Ein anerkennendes Schnauben entfuhr Tsali. Er stand wieder auf und ging zurück zu Sequoyah und seiner Frau.

»Siehst du, es ist alles Fügung. Sogar die Hilfe von Tsali. Der Große Geist hat es so bestimmt«, sprach Sally mit bemüht teilnahmsvoller Stimme, aus der unterdrückte Freude troff.

»Ja, stimmt.« Sequoyah war taub für ihre Schadenfreude und blind für die Wirklichkeit. Sally sah zufrieden auf ihren Mann nieder, als er ihr zustimmte. Ihr Plan ging auf, dachte Tsali.

»Wie ein Zauber: Ich saß drinnen, und es brennt. Gut, dass ich dich mit Ayoka fortgeschickt hatte, um Holz für den Kamin zu sammeln.« Es war sicherlich schwierig gewesen, ihren Mann zum Verlassen der Hütte zu überreden. Der narbige Krieger lächelte anerkennend Sally an, die weitersprach, als wäre es wirklich ein Wunder gewesen. »So kam keiner zu schaden. Auch ich nicht. Weil du mich gerettet hast. Wenn das kein Zeichen war, dann …«

»… hätte der Große Geist bei Sally einen Fehler begangen.« Tsalis sarkastisches Grinsen beantwortete Sally mit giftigen Blicken. Dabei sprach das sarkastische Grinsen weniger von Spott als von Hochachtung. Sally hatte an alles gedacht. Die Tochter mit dem Mann in den Wald zu schicken, war schlau. Noch schlauer war es gewesen, die Dauer des Holzholens so genau zu berechnen, dass die beiden rechtzeitig zurückkehrten, um sie zu retten. Damit Sequoyah es war, der sie rettete. Was sie nun nutzte als Argument gegen seine Schriftbesessenheit. Der Große Geist habe gesprochen, dass es wichtiger sei, auf die Familie zu achten, als törichte Zeichen zu schnitzen. Dass Sally nie in Gefahr gewesen war, sie selbst das Feuer gelegt hatte, es zu keinem Feuer gekommen wäre, wenn Sequoyah zuhause geblieben wäre, das alles verschwand in ihrer Logik der Argumente. Beeindruckt von ihr, wollte Tsali sie gewähren lassen, wenn der Freund tatsächlich vor dem Offensichtlichen die Augen verschlossen hielt. Ihre Blicke auf das Buch in Sequoyahs Händen verrieten, dass sie mit dem Ausgang ihres Plans nicht vollends glücklich war. Der Freund hatte nicht ausschließlich seine Frau gerettet, und in dem Moment zeigte sich, dass Sallys Logik der höheren Mystik von Sequoyah nicht gewachsen war.

»Allerdings. Ohne sie hätte ich keine Gelegenheit für einen Neuanfang bekommen. Die Große Säuberung, wie Sally es genannt hatte«, behauptete Sequoyah und wies mit dem Buch zur Ruine. Nicht nur Tsali ahnte, worauf er anspielte. Die Anstrengungen der Fehlversuche, die Monate des Scheiterns, der Schrecken des Feuers und die rußigen Brandmale hatten sich auf sein Gesicht gelegt, doch von Resignation war keine Spur. Im Gegenteil: Seine Augen leuchteten begeistert. Tsali schmunzelte erwartungsvoll. Sally erschrak.

»Was willst du damit sagen?«, hakte sie nach. »Neuanfang? Der Große Geist hat dir eindeutig … also unmissverständlich … er hat dir Zeichen geschickt, dass … das alles falsch war.« Voller Panik deutete sie anklagend auf die schmorende Ruine, wo die Nachbarn das Gelöschte weiterhin löschten.

»Ja, es war falsch, alles ein Fehler«, bestätigte Sequoyah und schüttelte einsichtig den Kopf. »Alle meine Versuche. Was ich nie erkannt hätte ohne das Feuer. Ohne die große Säuberung. Ohne deine Rettung.«

»Nein!«, schrie Sally auf. Tsali unterdrückte das Lachen mit einem gespielten Hüsteln.

»Aber das war doch das Werk des Großen Geistes?« Wieder wies Sequoyah mit dem Buch auf die ausgebrannten Reste des Hauses und damit auf die vernichteten Zeichen und seine zerstörten Versuche.

»Sicher …« Sally sah flehentlich zu Tsali. Der schaute rasch zu den Löschenden, damit Sally sein Grinsen nicht sah. »Aber …«

»Na also«, schloss Sequoyah zufrieden. »Auf ein Neues!« Er sprang munter auf, drückte sich das Buch unter die Achsel und schritt auf die helfenden Nachbarn und die Ruine seiner vergeblichen Experimente zu. Tsali lachte heiser und folgte ihm.

»Das ist Hexerei«, fauchte Sally zornig hinter ihnen, wurde von ihrem Mann aber nicht mehr gehört. Alle anderen mischten sich nicht ein. Bis auf Galihali, Sequoyahs Tochter aus erster Ehe, die gerade auf die Lichtung ritt.

»Sequoyah, Vater, was ist hier los? Dein Haus? Geht es euch gut? Braucht ihr Hilfe? Ist alles …«, sprudelten ihr die Worte aus dem Mund, als sie sich vom Pony schwang und zum Vater rannte.

»Oh, Galihali, du? Mach dir keine Sorgen«, beschwichtigte Sequoyah in beruhigendem Tonfall. »Ein neuer Anfang braucht ein neues Heim an einem neuen Ort. Vielleicht in den Creek-Jagdgründen, die wir nach dem Red-Stick-Krieg bekamen. Mit Sally und Tsali krieg ich das schon hin.« Von Tsali kam ein zustimmendes Grunzen, von Sally ein Schluchzen.

Das Einzige, an das ich mich vom Brand klar erinnere, sind nicht die ausgebrannten Trümmer der Hütte oder die Löschenden oder Sequoyah und Sally und ihre Reaktionen auf das Feuer. Trotz des Schreckens liegt all das in einem Nebel. Was mir im Gedächtnis geblieben ist, ist das Gesicht von Galihali. Dort stand sie, zwischen allen anderen, wem auch immer. Mit Rußspuren im Gesicht, ähnlich wie zu der Zeit, als wir noch Red-Stick-Krieg mit ihr gespielt hatten. Aus heutiger Sicht nur kurz zuvor. Damals eine Ewigkeit her, in einer weit entfernten Kindheit. Alles war irgendwann anders geworden. Meine Besuche bei Sequoyah waren ausgeblieben, in Springplace saß Galihali vorn, drei Schritte entfernt, am anderen Ende der Welt. Und im vorletzten Sommer war Amayeta mit ihr zu einem Krieger nahe Ward’s Creek gezogen. Galihali war fort, aus meinen Gedanken, als hätte es sie nie gegeben. Plötzlich gab es sie wieder, mehr als je zuvor. Ein Neuanfang, die große Säuberung. Die Kindheit war vorbei und sie umwerfend schön. Noch sehr jung. Aber ich … Es war alles anders.

Mit der Begrüßung »Si-yo, Jungs!« verzauberte sie den Ort, die Zeit und mich. Eine lieblich singende Stimme, fand ich und gab seltsame Grunzgeräusche von mir, wie John später erzählte. Peinlich. Eine Situation, die kurz andauerte und für lange meine letzte Begegnung mit ihr sein würde. Sally zog Sequoyah fort von der Ruine, und Galihali begleitete sie. An das anschließende Geschehen erinnere ich mich nicht mehr. Mein Herz blockierte meinen Kopf, ließ ihn immer wieder um die verlorene Situation kreisen und in mir einzig das Bild von Galihali zurück.

Irgendwann fand ich mich an einem anderen Ort wieder. Inmitten dichter Bäume. Wie aus einem Traum erwacht. Neben Tsali. Vor einem Erdhügel, ähnlich einem Asi, dessen Eingang der hünenhafte Adonisgi gerade verschloss. Stumm sah ich ihm eine Weile zu, versuchte mich zu orientieren, fand aber keinen Anhaltspunkt, wo wir uns befanden. Irgendwo im Wald, und kein Fluss war auszumachen. So wenig wie Hütten oder Häuser. Bloß die leisen Geräusche des Waldes waren zu hören. Warum mauerte Tsali den Lehmhügel zu? Und warum saßen Gallegina und John in diesem und sahen seelenruhig zu, wie der Eingang verschlossen wurde? Tsali klopfte die nächste Schicht Stroh mit klebrigem Lehm im Eingang fest. Warum er es tat, was es mit alldem auf sich hatte, blieb ein Rätsel, für das ich mich überraschend wenig interessierte. Meine Gedanken hingen noch bei Galihali und der verwirrenden Begegnung mit ihr. Peinlich. Ich hatte mich unmöglich benommen. Glaubte ich. So wenig ich mich auch daran erinnerte. Gewiss musste sie mich für einen idiotischen Trottel halten. Tsali stapelte Holz auf das Lehmstrohgemisch. Oben aus der Erdhalbkugel zog Rauch. Mir fiel die verbrannte Hütte ein. Ich sollte Sequoyah meine Hilfe anbieten für den Bau einer neuen, nahm ich mir vor. Vielleicht würde ich bei der Gelegenheit auch Galihali wiedertreffen. Zufällig. Erhofft zufällig. Auf die Weise hätte ich eine Chance, mich Galihali gegenüber von einer besseren Seite zu zeigen. Als ein patenter und hilfreicher junger Mann. Wieso war Tsali hier und nicht bei Sequoyah, um dessen neue Hütte zu errichten? Die Lücke im Eingang schloss sich um eine weitere Schicht aus Lehm, Stroh und Holz. Bald wären die Freunde im Asi eingemauert, wunderte ich mich und sah, wie Galleginas Mund sich bewegte. Einzelne Wörter drangen zu mir durch: »mit«, »zum Mann«, »bleib«, »danach«, »Leben«, »Richmond«, »Connecticut«. Sinn ergab es keinen. Nichts ergab Sinn. Erneut dachte ich an Galihali und dass ich ihr dringend beweisen musste, wie hilfsbereit und patent ich beim Bau von Seqoyahs neuem Heim sein könnte. Mist, momentan hatte ich nicht einmal selbst ein Heim. Wo sollte ich bloß bis zur Abreise nach Richmond leben? Bei Vater war es undenkbar. Bei John und Gallegina, wie mir schien, gleichfalls. Holz auf Stroh mit Lehm. Was hatte das zu bedeuten? Musste ich wirklich nach Richmond zu Wilhelm Wirt? Oder gab es eine Alternative? Ich könnte in Oothcaloga oder Head of Coosa eine Farm anlegen und allen beweisen, wie fähig ich war. Allen und Galihali. Wenn man mich ließe. Ließe man mich? Ich beschloss, den Stammesrat und Major Ridge um Erlaubnis zu fragen. Johns Vater würde mir das eventuell erlauben. Ich spürte, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich schickte durch die verbliebene schmale Öffnung ein zuversichtliches Nicken in den Asi. Zwei, drei Schichten aus Stroh, Lehm und Holz und die beiden würden nicht mehr hinauskommen. Eine Hand langte mir entgegen. Johns Hand. Ich ergriff sie, um meinen Entschluss mitzuteilen. Die Hand zog mich in den Lehmhügel. Sofort begann ich zu berichten. Von meinem Plan, der eigentlich kein Plan war, sondern … Ich wusste es selbst nicht genau. Ich redete, ohne Vorsatz, ohne Plan. Dafür umso freimütiger. Sogar meine Liebe zu Galihali gestand ich. Ihnen. Erst einmal ihnen. Um später …? Damit John ein gutes Wort bei seinem Vater einlegte. Damit ich eine Farm am Ortsrand anlegen durfte … Dann, später, wenn ich Teil der Gemeinschaft von Head of Coosa war, könnte ich eine Familie gründen. Mit Galihali. Da war er, mein Plan. Endlich hatte ich einen, der jedoch von Satz zu Satz weiter im Dunkeln versank. Wie ich. Wie wir. Was mir aufgefallen wäre, wenn … Zu aufgekratzt war ich, endlich einen Ausweg aus meiner Misere gefunden zu haben, eine Perspektive auf eine mögliche Zukunft. Mit Galihali. Eine Zukunft innerhalb der Cherokee. Als Teil des Stammes, Teil dessen, wovon ich seit Springplace träumte. Frei, endlich frei.

»Weiß Amayeta davon? Oder Sequoyah? Zumindest doch Galihali, oder?« Dunkler und dunkler wurde es um mich herum. Galleginas Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Seine Stimme schon. »Ist das nicht alles ein bisschen früh?« Durch ein winziges Loch, das gerade einmal Platz für eine Hand ließ, fiel ein winziger Lichtstrahl in den Lehmhügel. »Sie ist doch noch sehr jung, und außerdem …«

»… sitzt du mit uns hier fest.« Das war John. Das Lachen gehörte ebenfalls zu ihm. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dämmerung. Die Finsternis gab Schemen frei. »Zumindest bis auf Weiteres!«

»Was soll das heißen?«, fauchte ich zurück. Im Schatten sah ich Johns hämisches Grinsen. Eine gewaltige Hand verdunkelte von außen das Loch im Eingang. Tsalis Hand. Eine Holzschale schob er durch die Öffnung.

»Dass du vorerst mit uns hier sitzen wirst«, erklärte John. Der Spalt im Eingang warf wieder einen Lichtschein auf sein Grinsen. Ich hätte draufschlagen mögen.

»Was John damit sagen will, ist …«, versuchte Gallegina, die Stimmung zu retten.

»… dass du aussahst, als ob du mit auf unsere Reise gehen willst«, unterbrach John ihn.

»Was für eine Reise?«, schrie ich, als das Loch im Eingang erneut von einer Schale verdunkelt wurde. Gallegina nahm sie entgegen.

»Eine sehr lange«, behauptete John. »Bis ans Ende deiner Kindheit.« Wenn es etwas gab, was ich noch weniger ausstehen konnte als Menschen, die auf klare Fragen unklare Antworten gaben, waren es solche mit Antworten, von denen sie wussten, dass sie das Gegenüber verwirrten. »So will es das Ritual. Vorher kommst du hier nicht raus.« Jetzt warf ich mich auf ihn. Vergeblich. Er war mir wie immer überlegen.

»Lass ihn, Adahy«, mischte sich Gallegina mit beruhigender Stimme ein. »Es wird noch schwer genug werden. Da solltest du nicht schon am Anfang … Lass ihn.« Tatsächlich ließ ich von ihm ab. Genauso wie John von mir. Eine weitere Schale wurde von Tsalis Hand durch die Öffnung gereicht. »Das hier ist für den Plan nur von Vorteil. Hiernach werden deine Chancen bei Major Ridge, Amayeta und Galihali umso besser sein.« Womit Gallegina mich überzeugte. Für kurze Zeit. Egal, was ich gerade machte, ich ahnte nicht, was im Folgenden auf mich zukommen würde.

»Außerdem ist damit dein Unterkunftsproblem gelöst«, lachte John lauthals. Ich stürzte mich erneut auf ihn.

»Hört auf und trinkt«, stieß Gallegina uns auffordernd mit den Schalen an. Im Dunkeln war nur eine träge Flüssigkeit zu erkennen, die unangenehm bitter roch. Draußen begann Tsali zu singen, sein Schatten tanzte am Loch im Eingang vorbei. Immer und immer wieder. Wir schwiegen, als hätte uns der Gesang die Stimmen genommen. Wir tranken und würgten, weil uns der Sud aus den Schalen die Kehlen verätzte. Jedenfalls fühlte es sich so an. Es war das Ekelhafteste, was ich je zu mir genommen hatte. Stille und Gesang. Der dünne Schein, der durch das Loch fiel, Tsalis Verschwinden und Auftauchen im Tanz. Das Licht wurde heller, es wurde rot, es wurde blau, violett, grün und schwarz. Frost durchzog meinen Körper, Hitze brannte auf meiner Haut, Finger griffen nach mir, stießen mich von einem Baum, auf dem ich unvermittelt saß. Ich fiel und fiel und fiel und fiel, und die Freunde fingen mich auf. Galihali. Stöcker schlugen auf mich ein, Blätter umschlossen mich. Stickig war die Luft, ich hörte auf zu atmen. Das Ganze war eine Folter, vor der ich geflohen wäre, wenn meine Beine hätten laufen und ich den engen Lehmbau hätte verlassen können.

Am nächsten Morgen, ich nahm an, dass es der nächste Morgen war, da Licht durch das Loch im Eingang fiel, saßen wir weiter im Erdhügel fest. Der Weg nach draußen blieb zugemauert. Angst befiel mich, befiel uns, und wir beschützten uns gegenseitig vor ihr. Mit Gesprächen, mit Plänen, mit Erinnerungen, mit Gemeinsamkeiten. Gallegina gestand, dass er überlegte, den christlichen Glauben anzunehmen. John schloss es für sich aus, und mir war es egal, welchen Glauben ich hatte. Hauptsache: Alle akzeptierten es. Mich.

Irgendwann schob Tsalis riesige Hand erst etwas Wasser, dann wieder drei Schalen mit dem Sud durch den Spalt. Er sang und tanzte. Nach kurzem Zögern schluckten wir das Zeug gemeinsam runter. Farben, Hitze, Dunkelheit, Kälte und Hass. Auf meinen Vater, auf die Welt, auf mein Schicksal, auf mich. Ich schlug um mich, traf irgendwas, schlug weiter, wurde gehalten. Jemand warf mich zu Boden. Ich schlief ein, und der Raum begann sich zu drehen. Als ich erwachte, übergab ich mich.

Der nächste Tag, vermutlich, brach an. John war an dem Morgen ungewöhnlich still. Im fahlen Licht, das durch das Loch fiel, erkannte ich, dass eines seiner Augen geschwollen war. Blau, schwarz und rot. Er grinste mich schulterzuckend an, und ich grinste zurück. Der Rücken meiner Nase schmerzte. Wir sprachen weiter: über Wünsche, Träume und Erwartungen. Krieger, Lehrer und Farmer. Als Wanderer die Welt entdecken, von ihr lernen und die eigene Welt verbessern. Als Häuptling mit den Weißen verhandeln, sich mit den Nachbarstämmen in einem Stammesbund zusammenschließen und einen Vertrag vereinbaren, der zum Wohle aller und für alle Ewigkeit gelte. Äcker bestellen. Ein Leben führen ohne Angst.

Es folgten der Gesang und Tanz, das Gebräu und der Horror. Das dritte Mal war das härteste. Düster, bedrohlich, voller Gefahr und Panik. Für uns alle, wie wir beim Erwachen feststellten. Ab diesem Mal sprachen wir jedes Mal über das Erlebte. Es half uns, es beruhigte uns, es gab uns Sicherheit. So waren wir nur während der Trancephasen allein. Tanz, Gesang und Sud. Tag für Tag. Nacht für Nacht des Großen Geistes Spuk. Bald verloren die Zeit an Zählbarkeit, der Raum an Wirklichkeit und die Finsternis an Dunkelheit. Für die Notdurft nutzten wir die Schalen und das Loch im Eingang. Der Gestank war unerträglich. Wir ertrugen ihn. Bald nahm ich ihn nicht mehr wahr. Durst gewann über Hunger, Hunger über Gestank. Ein wenig Wasser, ein Stückchen Maisbrot und immer wieder Schalen mit Kräutersud. Die Erschöpfung machte alles gleich. Machte uns gleich.

Wie lange wir in dem Lehmhügel saßen, weiß ich nicht. Doch als Tsali den Eingang aufbrach, kam ich aus eigener Kraft nicht mehr heraus. Er trug mich wie einen Sack Korn hinaus zu einer Lebenseiche und lehnte mich gegen ihren Stamm. Während Tsali zurück in den Asi kroch, um Gallegina wie mich hinauszutragen, krabbelte John steifbeinig auf allen Vieren aus dem Eingang. Mühsam kämpfte er sich am Rund des Erdhügels hoch, drückte den Rücken durch und zuckte schmerzhaft zusammen, als ob ihn ein Blitz durchfuhr. Er atmete tief durch, schüttelte die Beine, und ein qualvolles Grunzen entfuhr ihm. Als er zu mir wankte, war von der Eleganz der Bewegungen, die ich von ihm kannte, nichts mehr zu sehen. Ich blinzelte. Das Sonnenlicht brannte in den Augen. Tsali schleppte Gallegina zu uns und legte ihn neben mich an den Baum. Aus dem Furcht einflößenden Krieger war ein Vertrauter geworden. Ich blickte zu Tsali hoch. Die Sonne strahlte durch den rot gefärbten Haarschopf, der wie ein Feuerschweif über die Narben, über die Bisonrückennase und über das verbliebene Ohr wehte. Ich übergab mich neben seine Füße.

Der fremde Cherokee. Freundschaft schreibt Geschichte

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