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Neue Welt

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Ich sollte gemeinsam mit den Cherokee Unterricht haben, mit den Söhnen der finsteren Jäger, vor denen ich in den Wäldern so häufig geflohen war. Wie gefährlich würden sie mir werden? Dass sie gefährlich waren, stand außer Frage. Ich hatte ihre Eltern gesehen. Mich vor ihnen versteckt. Jetzt musste ich aus der Deckung. Ohne Schutz, ohne Alice. Ganz allein. Die Herrnhuter Missionare, die mich und die Cherokee unterrichten sollten, würden keine Hilfe sein, das wusste ich. Ihre Besuche bei meinem Vater waren kein gutes Omen gewesen. Sie drangen in meine Welt ein. Ich verabscheute sie und sie mich. Der Sohn von Walter Hildebrand zu sein, schien nicht von Vorteil. Was war, wenn sie Vater von meinem schlechten Betragen berichteten? Ich traute es ihnen zu. Egal, wie ich mich verhalten würde.

Plötzlich war alles anders. Am Ende meines ersten Schultages hatte sich alles verändert. Mein Leben war mein eigenes Leben geworden. Vaters Plänen half das nicht, und mir wurde das von Tag zu Tag gleichgültiger. Die Angst hauste nur noch zuhause.

Den Reaktionen meines Vaters auf Steiners und Byhans Reporte lernte ich, rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Oder ich steckte sie mit Blessuren weg. Springplace war der Beginn einer neuen Zeit.

Manch bessere Zeit beginnt an einem stürmischen Morgen, wie auch mein erster Schultag. Starke Böen waren durch die Nacht gezogen, hatten im Wald gewütet. Morgens blickte ich aus der Tür und wusste, was mich erwarten würde. Ein beschwerlicher und vor allem längerer Ritt nach Springplace. Die Sonne hing hinter den Kronen, färbte die diesigen Ränder der Lichtung in ein goldenes Rot. Darunter lag ein dichter Nebel. Der Frühtau glänzte auf den Blättern der alten Platane neben dem Haus. Ich musste mich sputen. Um die Vorräte aufzustocken, war ich oft im Laden in Springplace gewesen, der Weg war mir vertraut. Nun war der schmale Saumweg an vielen Stellen versperrt. Äste und ganze Bäume lagen auf dem Pfad, was auf der anschließenden Handelsstraße nicht besser wurde. Sie war breiter. So hatte der Sturm der Nacht ungehindert hindurchfegen und noch mehr Zerstörung anrichten können. An einen schnellen Durchritt war nicht zu denken. Im vorsichtigen Slalom um die Hindernisse zügelte ich das vom Vater geschenkte Pony. Schneeball nannte ich es, weil es hell-weiß war, mit Punkten, wie die Klumpen, die ich winters aus dem schmutzigen Schnee vom Boden des Waldes zusammendrückte. Wesentlich langsamer als sonst passierten wir die Strecke durch den Wald. Leise, weit entfernt, hörte ich das Schlagen der Metallglocke. Es war der Ruf zum Gottesdienst. Außerdem das Signal für den Unterricht, wie ich von Vater wusste. Beides fand am selben Ort statt. Diesmal verkündete es meinen Schulbeginn, den ich verspätet erreichen würde. Schneeball anzutreiben, hätte mir nichts eingebracht, sogar wenn ich ein besserer Reiter gewesen wäre. Der Weg ließ es nicht zu.

Irgendwann öffneten sich die Baumreihen der Trasse. Links und rechts dehnten sich mit Brettern eingegrenzte Äcker aus, wo Baumwolle und Bohnen, Mais und anderes Getreide wuchsen. Von Zäunen geschützt vor Schweinen und Rindern, die zwischen den Feldern herumliefen. Die Diamond Hill Plantage. Der milchige Duft reifer Baumwolle hing in der Luft. Sklaven pflückten die aufgeplatzten Wollknospen von den Büschen, warfen sie in Säcke und diese auf Wagen, die von anderen fortgeschoben und durch neue ersetzt wurden. Schwitzend im schwülen Morgen, mit klammen Fingern. Auf den Nachbaräckern mähten Arbeiter mit ausladenden Sensenschwüngen die abgeernteten Maisstiele ab, verschnürten sie zu Bündeln und warfen sie ebenfalls auf wartende Karren. Keiner sah sich nach mir um. Auch ich achtete nicht weiter auf sie. Ich hatte es eilig: Mein erster Tag und der Unterricht hatte angefangen. Ohne mich. Rasch ritt ich voran über den Dorfplatz auf das kleine Schulgebäude zu. Rings um den Platz standen die Hütten der Missionare, Schuppen für die Ernte und das Vieh. In einer Kornmühle drehten zwei Pferde ein Mühlrad. Daneben lag der Handelsposten, in dem wir die Vorräte kauften. Alles im Besitz der Familie Vann. Entfernt war das imposante Anwesen der Plantage zu sehen. Auf den Stufen eines stabil wirkenden Holzhauses mit flachem Anbau neben dem Schulgebäude saßen drei recht junge, auffallend gut gekleidete Männer. Sie beobachteten mein Eintreffen genau.

»Erster Tag, Hildebrand Junior, und schon zu spät. Das wird die Priester gar nicht freuen«, rief einer und lachte. Woher wusste er, wer ich war? Und von meinem ersten Schultag? Es gab keine festen Termine für den Unterrichtsstart der Schüler. Der erste Morgen, an dem man in Springplace erschien, war der erste Schultag. Bei allen anderen. Bei mir nicht. Mein Vater hatte mein Kommen vorher mit Byhan und Steiner abgesprochen. Aber woher wusste dieser Mann davon? Wer war er? Nicht der Schönste der drei, trotzdem der Wortführer der Gruppe. Er war nicht sehr groß, nur das breite Kinn und die Knochen, die sich deutlich unter den Augenbrauen hervorhoben, wirkten kräftig. Sein tiefer Bass und die dunklen Augen gaben ihm jedoch eine sanft-bestimmende Autorität. Die beiden Begleiter lachten wie auf Befehl über den mauen Witz. Mir gaben die Worte ein Gefühl der Zugehörigkeit, obwohl der Spott mich eigentlich hätte verärgern müssen. Es mag merkwürdig klingen, aber gerade weil der Mann mich verhöhnte, fühlte ich mich ihm verbunden. Es war irritierend, dass er mich und den Grund für mein Erscheinen an diesem Ort zu kennen schien, obwohl ich ihm nie zuvor begegnet war. Andererseits zeigte es, dass ich aus irgendeinem Grund wichtig genug war, dass er mein Eintreffen kommentierte. Wenn auch mit Hohn. Spott hieß Wahrnehmung. Anstatt dass mich die Situation einschüchterte, beruhigte sie mich. Er kannte mich. Er war ein Cherokee, unverkennbar. Keiner der tätowierten Jäger, sondern einer, der in Kleidung, Haltung und Selbstsicherheit ebenso gut für die Bank of North America hätte arbeiten können. Und ich war Ziel seiner Aufmerksamkeit. Das war neu für mich, und ich versuchte mein Verhalten anzupassen. Ein Lächeln und ein Nicken, keine Replik. Möglichst gelassen wollte ich erscheinen, als sei ich keineswegs zu spät. Aus unsinniger und mir bis dahin unbekannter Eitelkeit wollte ich bei dem Fremden und seinen Freunden Eindruck schinden. Ich stieg gemächlich vom Pony ab, vertäute Schneeball seelenruhig und schlenderte auf die Tür der Schule zu. Ganz so, als wäre ich der Herr über den Ort und die Situation, die ich betrat. Hätte ich gewusst, was mich im Inneren erwartete, wäre mir die vorgespielte Lockerheit niemals gelungen.

Am Zusammenfluss von Oostanaula und Etowah zum Coosa River war der Morgen verhasst. Zumindest bei einem Menschen. Seit The Ridge für den Sohn beschlossen hatte, dass er fortan John heiße und in Springplace den Unterricht besuche, hieß er so und ging. Nicht gern, nicht ohne Murren, nicht ohne Streit. Allmorgendlich holte ihn Gallegina ab, der im Nachbarort Oothcaloga wohnte. Noch vor Sonnenaufgang. John hatte seinen Vater in Verdacht, dahinterzustecken, damit er wirklich zur Schule ginge. Wenn Gallegina kam und ihn abholte, mussten sich The Ridge oder Johns Mutter nicht darum kümmern. So blieben sie von Diskussionen mit dem Sohn verschont. Früh morgens brach Johns Vater auf, um auf Jagd zu gehen, sich um die Farm zu kümmern oder sich mit den Nachbarhäuptlingen zu treffen. Auch seine Mutter verließ das Haus, noch bevor er aufstand. Sie überließen ihn Galleginas Fürsorge. Die der gewissenhaft übernahm, als ob man ihn dafür belohnte. Als ob? Man? Niemand würde ihm so früh begegnen wollen, das stand für John fest, zumindest nicht ohne dafür entschädigt zu werden. Obwohl es noch stockfinster war, war Gallegina immer hellwach und begeistert. Das nervte John Ridge noch mehr. Er war müde, gereizt und wollte nicht plaudern. Wären sie nicht von Geburt an befreundet gewesen, hätte er die Strecke von Head of Coosa nach Springplace allein zurückgelegt. Schweigend auf dem Rücken seines Ponys. Er wäre vermutlich gar nicht erst hingeritten. Hätte er sich dazu entscheiden können. Jedem anderen hätte er es verweigert, ihn zu begleiten oder abzuholen. Die wache Fröhlichkeit in der Früh war ihm zuwider. Gleichermaßen nervten ihn der Unterricht und die Lehrer. Doch obwohl er seinem Vater lieber bewiesen hätte, wie unsinnig und unnütz die Schulentscheidung gewesen war, lernte er dort sogar etwas. Die englische Sprache hatte ihm seine Mutter Susannah beigebracht, aber dem Geheimnis, sie zu lesen, kam er erst seit Anfang des Sommers näher. Niemals hätte er es zugegeben, aber die Fähigkeit barg ungeahnte Vorteile. Sobald jetzt ein Bote eine Nachricht von Händlern aus Georgia oder von Colonel Meigs brachte, war er es, der sie dem Vater übersetzte und vorlas. Plötzlich gab es zumindest eine Fähigkeit, in der er dem ach so heldenhaften Krieger überlegen war. Was John gefiel. Und seinem Vater gar nicht, was dessen Miene bei den Gelegenheiten verriet. Was John umso mehr genoss. Die kleine Macht über den Vater. Seinen Wissensvorsprung. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass er die Zeit lieber anders verbracht hätte als in der Schule. Er quälte sich jeden Morgen nach Springplace. Mit dem ekelhaft strebsamen, wachen und glücklichen Begleiter an seiner Seite. Sogar nach einem halben Jahr war es John vollkommen unverständlich, wieso sein Cousin so begierig und heiter war. Die Herrnhuter Lehrer behandelten ihn genauso mies wie alle Schüler. Sie machten keine Unterschiede. Egal, ob er der Gelehrsamste, Ruhigste und Klügste unter ihnen war, vor dem jähzornigen Gemüt von Abraham Steiner beschützte es ihn nicht. Gallegina hätte den Unterricht und die Lehrer genauso hassen müssen wie alle anderen. Trotzdem war er auf dem Hinweg nach Springplace immerzu gut gelaunt, während John unentwegt mit dem Schicksal haderte. Im Gegensatz zum Rückweg. Dann war John ausgelassen, weil das Schulelend für den Tag zu Ende war. Und Gallegina war es, der nun Trübsal blies. Das Wesen seines Cousins war ihm ein Rätsel.

Als sie sich an diesem Morgen auf den Weg machten, hatte in der Nacht zuvor ein regenloser Sturm durch den Ort und den Wald bis nach Springplace gefegt. Zwar war John von Gallegina früher abgeholt worden, trotzdem mussten sie sich beeilen, um rechtzeitig in der Schule anzukommen. Johns Vorteil war: Er war der bessere Reiter. Weitaus besser. So viel besser, dass es Gallegina unmöglich wäre, zu reden, sobald er versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Es versprach, ausnahmsweise ein ruhiger Weg zu werden, freute sich John. Frei von Frohgemut. Doch er irrte sich. Gallegina war grauenhaft munter wie immer und trotz des anstrengenden Ritts keineswegs schweigsam. Aber es war nicht der bevorstehende Unterricht und all das, was er gestern vom Vortag erfolgreich nachgelernt hatte, von dem sein Cousin begeistert erzählte, oder vielmehr begeistert hechelte. Sogar Gallegina hätte angesichts der Tortur des Ritts niemals darüber gesprochen. Er hätte geschwiegen, geschwitzt und gestöhnt. Bloß eine Sache konnte ihn in die Lage zum Sprechen, ja, fast zum Plaudern, bringen. Eine Information, die für John neu war. Neuigkeiten belebten den Cousin, gaben ihm ungewohnte Widerstandskräfte. Dafür konnte er aus keiner Neuigkeit ein Geheimnis machen. Sobald Gallegina etwas erfuhr, musste er es anderen mitteilen. Meistens John. Gleichgültig, ob es sich um den neuesten Klatsch oder um ein Gerücht aus dem Stammesleben handelte, die Information musste weitergegeben werden. Zumindest war es diesmal etwas, was ebenfalls Johns Neugier weckte. Neugierig und misstrauisch lauschte er dem hechelnden Rittbericht. Ein neuer Schüler wurde in Springplace erwartet, vermutlich heute. Woher wusste Gallegina das? Von seinem Vater sicher nicht. John war es ein Rätsel, wie sein Cousin an sein Wissen kam. Wäre das Wissen nicht meist durch die Wirklichkeit bestätigt worden, würde er es als Spinnereien abtun. So wie bei Sequoyah. Gallegina lag hingegen mit seinen Prognosen und seinem Wissen gewöhnlich auf niederschmetternde Weise richtig. Den Stammestratsch gab er als Stammestratsch weiter, aber wenn er versicherte, zu wissen, wovon er sprach, war es ratsam, ihm zu glauben. Keine abfällige Bemerkung oder gar Spott lohnte, da beides sehr wahrscheinlich auf den Spottenden zurückfiel. So gern er es getan hätte, gerade zu dieser Tageszeit. Ein neuer Schüler werde am Morgen in Springplace auftauchen, und es handele sich dabei, wie Gallegina verriet, um den Sohn von Walter Hildebrand, Mattheus Hildebrand. Der Sohn des windigen Landhändlers, der seit Jahren versuchte, den Stamm um ihr Land zu bringen? Mattheus, was für ein bescheuerter Name, dachte John Ridge. Der Spross desjenigen, dem er die Scheißschule, die er besuchen musste, zu verdanken hatte. War morgens ohnehin nicht seine gleichmütigste Zeit, verbesserte die Information die Stimmung um keinen Deut. Immerhin gab es jetzt jemanden, dem er die Schuld für alles in Springplace geben und spüren lassen konnte. Ein abfälliges Grinsen huschte über Johns Gesicht, als sie in den Ort ritten. Da erblickte er Joe Vann und Guwisguwi auf den Stufen vor der Hütte neben der Schule sitzen, und das Grinsen verschwand. Blöde Wichtigtuer! Ja, Guwisguwi, du durftest den Namen des tollen mythischen, weißen Vogels weiterhin tragen, während ich nur noch John heiße. Der Anblick des jungen Mannes verärgerte ihn. Ignorier sie einfach, bemühte John sich um Gelassenheit. Lass dich zu keinem Kommentar provozieren, ganz gleich, was sie sagen. Er sah zu Gallegina, dessen Blick von dem gleichen Widerwillen sprach. Sie erreichten ihr Ziel ohne höhnische Bemerkungen der beiden Männer. John atmete erleichtert durch, obwohl es ihn andererseits verdross, das Wortgefecht mit Guwisguwi zu meiden. Mattheus Hildebrand? Was für ein bescheuerter Name! Du wirst dir noch wünschen, als jemand anderer geboren worden zu sein. Erstmals spürte er so etwas wie Vorfreude auf einen Schultag. Bis er in die Hütte trat, wo kein Neuer zu sehen war. Wenig später stürmte Abraham Steiner herein, zeigte jedoch keine Regung ob des fehlenden Schülers. Aggressiv wie gewöhnlich begann er mit dem Unterricht. Johns Laune sank. Entweder war die Information ausnahmsweise falsch gewesen, was er ausschloss, oder für den Sohn von Walter Hildebrand waren die Lehrzeiten und -regeln nur freiwillige Richtlinien. Im Gegensatz zu Schülern wie ihm, Cherokee, die unfreiwillig dieselbe Schule besuchten. Die von den Eltern gezwungen wurden. Was für ein arrogantes Arschloch, stand für John fest. Er bewarf Gallegina in einem unbeobachteten Moment mit einem Fichtenzapfen, den er auf dem Weg durch den Wald für den Wurf auf Mattheus Hildebrand aufgelesen hatte. Es klopfte zaghaft an der Tür.

Der fremde Cherokee. Freundschaft schreibt Geschichte

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