Читать книгу Der fremde Cherokee. Freundschaft schreibt Geschichte - Huug van’t Hoff - Страница 5
Springplace – etwa 30 Jahre zuvor
ОглавлениеDie Missionsschule von Springplace war in einem Blockhaus untergebracht, das mehr ein Verschlag als ein Haus war. Der Unterricht fand zwar nicht täglich, jedoch regelmäßig statt. Die Schüler kamen allerdings weder regelmäßig noch beständig. Sofern sie überhaupt zum Unterricht erschienen. Die Kinder in den Dörfern und auf den Farmen wurden anderweitig gebraucht. Die Überzeugung vom Nutzen, sie zur Schule zu schicken, setzte sich bei nur wenigen Clans und Familien der Cherokee durch. Doch mit der Zeit gewannen manche Häuptlinge die Einsicht, es könnte ihre letzte Möglichkeit zum Überleben im Stammesland sein.
Im Hause von Ganundalegi, dem, der über die Bergketten läuft, den die Nachbarn in Georgia als The Ridge kannten, waren keine Zweifel zu dem Thema erlaubt. Als sein ältester Sohn alt genug war, um am Unterricht teilzunehmen, hatte The Ridge das längst entschieden. Im Entschluss unumstößlich wollte er auf der Ratsversammlung in Ustanali auch die Oberhäupter der anderen Clans von der Notwendigkeit überzeugen, die Kinder den Weg nach Springplace reiten zu lassen. The Ridges Stimme hatte Einfluss im Stammesrat. Er war ein bedrohlich-kräftiger Mann, mit breiten, kämpferischen Schultern und zornigen, fast schwarzen Augen, die unter mächtigen Brauen hervorstarrten und keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit ließen. Sein Auftreten glich dem Körperbau: einschüchternd, gefährlich und resolut. In der Vergangenheit hatte er während der Chickamauga-Gefechte unter dem Namen Nunnehidihi, dem, der alle Feinde auf seinem Weg tötet, gekämpft. Was gleichsam ein gewichtiger Grund war, abzuwägen, ob man ihm widerspräche. Ihm hörte man zu, und er war der Auffassung, dass es sinnvoll sei, die Kinder früh mit dem Unvermeidlichen in Kontakt zu bringen. Mit der englischen Sprache, der englischen Schrift und dem englischen Denken. Um die nächste Generation auf das vorzubereiten, was die meisten seiner sich weigerten zu akzeptieren. Damit die Nachkommen verstünden, was seit etlichen Jahren auf den Stamm eindrang, und lernten, anders als ihre Ahnen, wie mit dem Einfluss, dem Wandel und der Bedrohung umzugehen sei. Man müsse den Feind kennen, seine Waffen und Kultur, für die zukünftige Chance, ihn besiegen zu können, war The Ridges Überzeugung. Vollkommen gleichgültig, ob es sich um Bürger der Vereinigten Staaten oder Engländer handelte, für den Umgang mit ihnen machte es keinen Unterschied. Die Flagge, unter der sie das Land betraten, war für die Gefahr, die von ihnen ausging, bedeutungslos. Man musste wissen, wie sie dachten, lebten und kämpften, um selbst zu überleben.
»Fest steht, wir haben keine Chance, uns mit Waffen gegen sie zu wehren«, behauptete The Ridge auf der Ratsversammlung im Zentrum von Ustanali. Mit einer ausladenden Geste wies er zu den Behausungen im Ort. Auf die Asi, die Lehmhügel für den Winter, auf die sperrigen Holzhütten für den Sommer und auf eines, das luftiger und aufwendiger gezimmert war. Und zuletzt zeigte er mit Nachdruck auf ein Haus, das man sogar aus Stein gemauert hatte. Das des Dorfhäuptlings. »Und mal ehrlich: Der Handel mit ihnen ist auch von Vorteil.«
»Von Vorteil für dich«, donnerte ein Bass, der zu dem Mann, dem die Stimme gehörte, nicht recht passen wollte. John Ross oder Guwisguwi, benannt nach einem mythischen Vogel, war ein recht junger Häuptling, der gekleidet war wie ein Senator in Washington. Von kleiner Statur, schmächtig und mit fahlem Teint. Der größte Teil seiner Familie stammte aus Schottland. Bis auf die Großmutter. Die war eine Cherokee gewesen, und die Mutter und er gehörten daher zum gleichen Clan. Sein breites Kinn, die lange Nase, die vorstehenden Brauenknochen und die spröde, helle Haut verliehen ihm etwas Greifvogelartiges. Die Bewegungen jedoch waren ungelenk. Sofern er als Vogel geboren worden wäre, er hätte gewiss nie fliegen gelernt. Aber sein Greifvogelblick wirkte einnehmend schlau. Niemand konnte sich ihm entziehen. Von den Augen ging ein bedächtiger, magischer Glanz aus, und sein Lachen steckte an. Normalerweise. Diesmal hielten sich die anderen zurück. Gespannt auf die Reaktion von The Ridge. Als auch er lachte, stimmten sie mit ein.
»Wie für dich … Und es kann von Vorteil für uns alle sein. Ich habe mit Colonel Meigs gesprochen …« The Ridge betonte den Namen, als handele es sich um eine ekelhafte Frucht, die zwar keiner gerne aß, die aber sehr nahrhaft war. Was in gewisser Weise auf den Colonel zutraf. Er war der Agent derjenigen, die die Cherokee aus ihren ursprünglichen Jagdgründen vertrieben hatten. Aber im Gegensatz zum Landhändler Walter Hildebrand war Colonel Meigs der Frieden im Stamm etwas wert. Von ihm erhielten sie Pflüge und Pferde für die Äcker. Weshalb sie seine Ratschläge anhörten. »Wenn wir unsere Kinder deren Kram lernen lassen, lassen die uns dafür unseren Kram machen.«
»Ich bezweifle, dass der Kram, der in Springplace gelehrt wird, unseren Kindern bei der Jagd oder auf dem Feld helfen wird«, schnaubte ein kleiner, bäriger Mann neben ihm. Oowatie, sein jüngerer Bruder.
»Aber es kann sicher nicht schaden, wenn sie deren Sprache lernen. So wie ich. Mir hat es geholfen.«
»Du sprichst kaum Englisch, jedenfalls nicht …«
Ein Blick von The Ridge reichte aus, um den Einwand verstummen zu lassen. »Aber meine Frau, Susannah«, sagte er und dehnte die Silben des Namens bedeutungsvoll, »die ist schließlich zur Hälfte eine von denen.« The Ridge deutete mit dem Daumen gen Osten. Dass John Ross in Zeigrichtung stand, verstörte nur ihn selbst. Mehr Protest, als das Gesicht entnervt zu verziehen, wagte er nicht zu äußern.
»Seit wann nennst du sie Susannah und nicht mehr Sehoya?«
Es war Toochelar gewesen, der Sprecher des Stammesrates, der die Frage stellte. The Ridge ignorierte sie und unterband jede weitere Bemerkung mit erhobener Faust. Was wirkte. Niemand widersprach. »Und …«, dehnte er das Wort bedrohlich. »Es ist hilfreich für einen guten und friedlichen Kontakt. Ich behaupte ja gar nicht, dass unsere Kinder alle Shakespeare lesen sollen, sondern …« Was es mit Shakespeare auf sich hatte, oder wer er gewesen war, wusste The Ridge genauso wenig wie die anderen. Aber die langjährige Erfahrung mit den englischen Siedlern hatte ihn gelehrt, dass es sich um jemanden Gewichtiges handeln musste, der für den Alltag keinerlei Hilfe bedeutete. Ein verlegendes Brummen ging durch die Reihen des Rates. »… dass es für uns alle von Nutzen sein wird, wenn unsere Kinder deren Art zu sprechen und zu denken erlernen!«
»Mir wäre lieber, wenn die etwas Anständiges lernen würden. Etwas, womit sie später was anfangen können, anstatt diesen englischen Mist!«, fauchte Oowatie.
»Aber ihren Pflug benutzt du, oder?«, knurrte The Ridge mit gehässiger Ironie. »Dein Korn wird in Wassermühlen gemahlen!«
»Was?« Als er den Spott in den Blicken der anderen bemerkte, machte Oowatie eine abwehrende Geste. »Das ist einfacher und geht schneller. Es wäre blöd, das nicht zu tun. Und ja, ich verkaufe denen aus Georgia auch Teile der Ernte. Na und? … Von mir aus: Es ist nützlich, wenn wir und unsere Kinder mit denen reden können. Aber um deren Sprache zu lernen, brauchen wir nicht ihre Lebensweise zu übernehmen.«
»Ich will auch nicht, dass wir werden wie die. Aber um sie uns langfristig vom Hals zu halten, müssen wir sie verstehen. Ihre Sprache und ihr Denken.«
Unweit des Treffens standen zwei Jungen am Ufer des dicht mit Rivercane-Bambus bewachsenen Coosawattee, der direkt am Ort vorbeifloss. Neben ihnen lagen die Kanus von Ustanali auf der Böschung. Die beiden Jungen waren ungefähr neun Jahre alt. Der eine groß, dünn, trotzdem muskulös, wendig wie eine Wildkatze. Häufige Krankheiten und Verletzungen haben ihn so stark gemacht, behauptete The Ridge gern. Der andere war eher behäbig von der Statur, mit einem gewaltigen Kopf auf mickrigem Leib. Er war nie krank gewesen, dafür steifbeinig und langsam. Von Natur aus Gegensätze und gleichzeitig enge Verwandte und Freunde: Skahtlelohskee und Gallegina, Gelber Vogel und Hirschbock. Sie hatten ihre Eltern zum Treffen des Stammes begleitet, weil dort über ihre Zukunft entschieden wurde. Ein Recht auf Mitsprache besaßen sie nicht. Sie lauschten den Entscheidungen der Erwachsenen und ließen Steine über das Wasser stromabwärts ditschen.
»Jedes Mal das Gleiche!« Schwungvoll ließ Skahtlelohskee einen Stein über den Fluss springen. »Können die sich nicht einmal vertragen?« The Ridge war sein Vater, und den immer wiederkehrenden Disput der erwachsenen Brüder auf dem nahen Dorfplatz hatte er satt. Vor allem wenn es dabei um ihn ging, um seine Zukunft.
»Also ich finde, dein Vater hat recht. Ich würde gern in diese Schule gehen«, erwiderte Gallegina und schnippte einen flachen Kieselstein, der sofort in den seichten Wogen versank.
»Tja, lernen ist für den wichtig, der nichts kann. Wie man sieht«, stichelte Skahtlelohskee mit einem Fingerzeig zu dem Wellenkranz im Fluss, den der Kiesel hinterließ. Der nächste Stein hätte ihn am Kopf getroffen, wenn Gallegina zielsicherer gewesen wäre. Gallegina war der älteste Sohn von Oowatie, der gerade auf dem Dorfplatz seinen Einwand wiederholte.
»Wie gesagt: Für den Handel mag es hilfreich sein, mit denen reden zu können. Aber ihr Denken zu verstehen, klingt für mich gefährlich. Gedanken formen Menschen. Es sind Missionare, die unsere Kinder unterrichten. In deren Schrift, Tradition und Glauben. Brauchen wir das zum Überleben? Das bezweifle ich. Ich schätze eher, dass deren Gedanken zu Zwietracht führen werden. Zwischen denen, die deren Denken lernen, und denen, die unser Denken beibehalten.«
»Was wir Häuptlinge verhindern müssen und werden. Nach uns richtet sich der Stamm. Es liegt in unserer Hand. Dazu haben sie uns erkoren«, entgegnete The Ridge mit genügend Pathos in der Stimme, um den Bruder verstummen und die Häuptlinge stolz zustimmen zu lassen. Zufrieden sah er die Reaktionen in den Gesichtern und kam zurück zu dem, worauf er mit seiner Rede hinausgewollt hatte. »Habt ihr das bei Hicks gesehen, bei Charles Hicks … Habt ihr das?« Gallegina setzte sich auf den Rand eines der Kanus und nickte Skahtlelohskee schmunzelnd zu. Auch er musste grinsen. Jeder wusste, was sein Vater als Nächstes sagen würde. Weil er es bei jeder Ratsversammlung irgendwann ansprach. Die Stille, die auf seine Worte folgte, trug die Erwartung des Rates bis an den Coosawattee. Alle schwiegen, nur Oowatie stöhnte entnervt auf. Als jüngerer Bruder gelang ihm das ungestraft.
»Wo ist Hicks eigentlich?«, fragte da ein Mann mit narbigem Gesicht: Pathkiller, der Oberste Häuptling. Charles Hicks war, weil er schreiben konnte, der Sekretär des Stammesrates. Seine Aufgabe war es, den Schriftverkehr mit den US-Nachbarn und der Regierung in Washington zu organisieren. Er informierte den Stammesrat über alle Neuigkeiten und Nachrichten, die er aus Briefen, Zeitungen und Büchern erhielt. Jenen aus den Staaten der US-Nachbarn. Pathkiller blickte vom Ratssprecher Toochelar zu The Ridge. Obwohl The Ridge es hasste, was allseits bekannt war, beim Reden unterbrochen zu werden, weshalb nur wenige es sich trauten, nahm er die Zwischenfrage vom Obersten Häuptling mit einem gleichgültigen Schulterzucken hin. Pathkiller war auf seiner Seite. Für den Vorschlag. Das war kein Geheimnis. Und dem Obersten Häuptling nicht das Wort zu gewähren, wäre keine kluge Entscheidung gewesen. Egal, wie unwichtig The Ridge der Inhalt der Frage erscheinen mochte, es war ratsamer, einfach still abzuwarten. Die Frage stellte mehr ein Zeichen der Autorität dar, als dass sie von echtem Interesse zeugte.
Pathkillers Vorgänger Black Fox, der im Rat weiterhin viele Verbündete und großen Einfluss besaß, verfolgte das Gespräch aufmerksam aus dem Hintergrund. The Ridge wusste, dass der bloß auf eine geeignete Gelegenheit wartete, seinem Nachfolger zu widersprechen. Oder besser: Mangelnde Übersicht und Führung vorhalten zu können. Um klüger und versierter als Pathkiller dazustehen. Für das eigene Ansehen im Stamm, damit die Wahl zum nächsten Obersten Häuptling wieder anders ausginge. Um sie zu gewinnen. Um zurückzugewinnen, was ihm seiner Meinung nach zustünde. Black Fox lechzte danach, den Ratsmitgliedern zu beweisen, dass er der beste Häuptling war. Diesmal wartete er vergeblich, die Gelegenheit bot sich nicht. Die Bemerkung des Obersten Häuptlings war, obgleich irrelevant, doch berechtigt. All das, worauf The Ridge mit seiner Rede abzielte, entsprach ebenso der Überzeugung von Black Fox. Was Pathkiller wusste, genauso wie The Ridge und alle anderen. Zwar schätzte Black Fox das Lernen der kulturellen Fähigkeiten der US-Nachbarn durchaus nicht als ungefährlich für die Kultur und Tradition des Stammes ein. Trotzdem stellte es vermutlich die einzige Möglichkeit dar, die ihnen blieb. Wie Black Fox dazu stand, war kein Geheimnis. Er selbst war es in seiner Amtszeit als Oberster Häuptling gewesen, der die Voraussetzungen zur, wie Washington es damals nannte, Akkulturation durchgesetzt hatte. Was Black Fox bei der Wahl keineswegs geholfen hatte. Die Sache mit der Schule und dem Lesen-Schreiben-Lernen, auf die The Ridge anspielte, war keine, die für ihn von Vorteil sein könnte. Seit Gründung der Schule hatten die wenigsten Eltern ihre Kinder dorthin geschickt. Das Ansehen der Schule war nicht nur wegen der Herrnhuter Lehrer schlecht. Es war kein Thema, für das sich irgendjemand gewinnen ließ. Alle waren es überdrüssig, bis auf The Ridge. Und Gallegina, dem Sohn von Oowatie. Aber der zählte nicht. Noch nicht. Folglich schwieg Black Fox weiter, womit Pathkiller gerechnet hatte. Genauso wie The Ridge. Die Unterbrechung durch den Obersten Häuptling diente einzig der Demonstration seiner Macht, dass er es sich leisten konnte, The Ridge zu unterbrechen. Mehr nicht. Dass sie ohne Reaktion blieb, störte da nicht. Sie lenkte nicht einmal vom Thema ab. Niemand sagte etwas. Einzig Pathkiller grollte wegen der Abwesenheit von Charles Hicks ein abfällig-missbilligendes Brummen, das die Anwesenden bedachtsam still nachhallen ließen.
Noch bevor die beiden Jungen am Fluss sich neugierig wegen der Stille am Dorfplatz umdrehen konnten, sprach The Ridge weiter. Die Redepause war respektvoll und lang genug gewesen für den Obersten Häuptling. »Keine Ahnung, wovon ich spreche. Richtig? Genau das ist unser Problem.« Gleich die ersten Worte bedachte Oowatie mit einem gedehnten Stöhnen. Was unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass alle vertraut waren mit, ja, alle gelangweilt waren von dem, worauf The Ridge hinauswollte. Doch niemand der anderen hätte es so offen und auf diese Weise ausdrücken dürfen. The Ridge ignorierte es. »Deshalb sind und waren wir denen immerzu unterlegen. Ich spreche von Büchern. Charles ist unser Vermögensverwalter, und das macht er so gut wegen der Bücher.« Verhaltenes Murren. Die vorgebrachte Erkenntnis war keine neue.
»Deshalb plädiere ich dafür, dass wir eine eigene Schrift erfinden. So eine, wie die sie haben. Wir könnten eigene Bücher schreiben, mit unseren Geschichten. Und für unsere Verwaltung könnten wir …« Wild mit den Armen um sich greifend sprach sich ein hagerer Mann in Rage, auf dessen Kopf ein roter Turban zu den Worten wackelte. Es war eine Rage, die bloß ihn allein bewegte. Der Einwurf war keine Überraschung für jene, die regelmäßig bei den Stammestreffen anwesend waren. Belustigt verdrehten sie die Augen. The Ridge klopfte ihm auf die Schulter, um den Redefluss rasch zu unterbrechen.
»Seit Monaten versuchst du eine zu finden. Und wie weit bist du gekommen, Sequoyah?« Als der keine Antwort gab, nickte er selbstgefällig, und alle stimmten mit ein. The Ridge grinste vollmundig, breitete seine Arme aus und reckte sie gen Stammesrat. »Damit zukünftig meine Nachkommen nicht so dämlich dastehen wie du, ihr … und ich«, gestand er gespielt reumütig ein, »schicke ich John auf die Schule in Springplace.«
Erneut Stille. Gallegina sprang verwirrt auf, blickte fragend zu Skahtlelohskee, der ebenso verständnislos mit den Schultern zuckte. Abermals sahen sie zu den Männern im Dorfzentrum, in der Hoffnung, dass sich dort das Rätsel lösen würde. In ihren Gesichtern erkannten die beiden jedoch die gleiche Verwirrung, die sie selbst hatte umschauen lassen. Von welchem John sprach The Ridge?
»Sprichst du von mir? … Warum sollte ich nach Springplace gehen? Ich kann das alles schon. Ich bin nur als Vertreter der Dörfer am Mississippi hier, für die ich seit Kurzem im Auftrag der US …« John Ross’ Greifvogelaugen blinzelten verstört gen Nordwesten, wohin auch sein Finger deutete.
»Nicht du. Mein Sohn!«, brüllte The Ridge und zeigte zu den Jungen am Wasser, woraufhin die sofort hinter den Rivercane-Bambus sprangen und sich wegduckten.
»Ach, Skahtlelohskee. Du willst ihn nach Springplace schicken, richtig?« Ross atmete erleichtert durch, während sich sein Zeigefinger aus Richtung der Mississippi-Siedlungen weg und zu den Jungen hinbewegte.
»Falsch!«, fauchte The Ridge. Skahtlelohskee und Gallegina blieben in ihrer Deckung. »Ab heute heißt er John Ridge. Oder seht ihr das anders?« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Zumindest nicht offen. John Ross schon gar nicht. Nicht einmal Skahtlelohskee. Er riss bloß erstaunt den Mund auf und starrte Gallegina an.
»Ich habe einen neuen Freund«, prustete Gallegina. »John!« Er konnte sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten. Ein halbherziger Hieb seines Cousins reichte aus, um ihn in den Fluss zu werfen. Das war der letzte Hieb von Skahtlelohskee gewesen. Seither hieß er John Ridge. Denn er war der Letzte, der es wagte, seinem Vater, The Ridge, zu widersprechen.
Es war mein Vater Walter Hildebrand gewesen, der die Schule erbauen ließ. Einige Jahre zuvor hatte er den inoffiziellen Auftrag erhalten, Lebensraum für die nachrückenden Siedler zu beschaffen. Vom damals Stellvertretenden Präsidenten Thomas Jefferson. Inoffiziell, weil den Appalachen-Stämmen, nachdem ihre Bevölkerung durch Kriege und Krankheiten dezimiert worden war und sie ihr Land in Virginia und North-Carolina verließen, ein freies Leben in den westlicheren Gebieten garantiert worden war. In Sichtweite der Great Smoky Mountains sollten sie bis in alle Ewigkeit leben dürfen. Eine Garantie, die unmöglich lange zu halten war. Täglich legten an den Hafenmolen Schiffe aus Europa an und entluden menschliche Fracht. Massen an neuen Siedlern strandeten in den Städten der Ostküste. Auf der Suche nach dem Glück in der neuen Welt, das ihnen die alte vorenthalten hatte. Kriegen, Tod, Hunger und Elend entkommend, forderten sie das verheißungsvolle Versprechen des amerikanischen Kontinents ein. Weites Land und grenzenlose Chancen. Um das wahr werden zu lassen, bekam Vater den Auftrag. Die Appalachen-Stämme in den zugesicherten Territorien hielt Thomas Jefferson zwar für so klug und geschickt wie seinesgleichen, jedoch bevölkerten sie ungemein große Gebiete, die sie niemals vollständig bewirtschaften könnten. So Jeffersons Ansicht. Land im Überfluss, das die USA dringend benötigten. Außerdem näherte sich eine Gefahr aus dem Westen. Spanier und Franzosen. Von Jahr zu Jahr rückten sie dichter an den Mississippi heran. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn erreichen, überschreiten und an beiden Ufern besiedeln würden. Mit ihren eigenen Siedlern aus der Alten Welt. All die einheimischen Stämme waren zu schlecht ausgerüstet, um sie auf Dauer aufzuhalten. Und der Mississippi wäre bloß die nächste Station auf dem Weg in die angelsächsischen Staaten. Obendrein eigneten sich die gewaltigen Flächen zur zukünftigen Sicherung der Versorgung der stetig wachsenden, jungen Nation. Noch ein weiterer Faktor, der gegen diese Land-Garantie sprach. Drei drohende Krisen, für die Thomas Jefferson eine Lösung sah, so vermute ich. Die Verzweiflung und Hoffnung der eigenen Siedler aus Europa würden sie ebenso zuverlässig zum Äußersten treiben wie die französischen und spanischen Glücksritter jenseits des Mississippi. Sie würden ihr neu besiedeltes Land verteidigen. Bis zum Tod. Dem ersten Siedler gehörte das Land. Es ihm wieder zu nehmen, war schwieriger als das Besiedeln. Genau das war das Problem: Thomas Jefferson brauchte erst einmal den Zugang zum Land. Den Siedlern konnte er eine unkontrollierte und unvermeidlich blutige Eroberung unmöglich überlassen. Obgleich die Stämme zu schwach waren zur langfristigen Abwehr der Franzosen und Spanier, besagten die Erfahrungen aus der Vergangenheit, dass sie ihr Land selten kampflos abgaben. Und das hätte Krieg bedeutet, zur Verteidigung der neuen Dörfer und Städte in den Gebieten der Appalachen-Stämme, gegen eine Vielzahl an Stämmen. Auf schier unüberschaubar riesigen Gebieten. So kurz nach der Gründung und den Befreiungskriegen konnte es sich der Staatenbund nicht leisten, große Soldateneinheiten in einen Krieg zu schicken. Nach meiner Einschätzung aus heutiger Sicht wäre mein Leben wohl vollkommen anders verlaufen, wenn sich George Washingtons Plan einst erfüllt hätte, oder schneller erfüllt hätte. Das, was er Akkulturation nannte. Das Dasein der Stämme an die USA anzugleichen, sie in ihresgleichen zu verwandeln und so ihr Land zu übernehmen. Dass es gerade die Angleichung der Lebensweise, der Staatsform und der Gesetze sein würde, die zum ärgsten Hindernis für die geplante Übernahme der Gebiete führen würde, mochten sich Washington und später Jefferson wohl kaum vorgestellt haben. Sonst hätten vermutlich beide früh anders gehandelt. Als mein Vater ins Spiel kam, versuchten Präsident John Adams, sein Stellvertreter Jefferson, die Senatoren und die Abgeordneten in Philadelphia noch, den Plan ihres ersten Präsidenten umzusetzen. Die Verträge mit den Stämmen mussten über kurz oder lang weichen, möglichst bald, durch Kauf des Landes, neue Verträge oder mittels Eingliederung der Stämme.
Akkulturation, Mischehen-Integration und Abhängigkeit durch Handelsbeziehungen waren die Mittel zur Landübernahme. Ein simpler Plan, kein offizieller. Aber es ist anzunehmen, dass die Senatoren und Abgeordneten im Kongress in Philadelphia vom Inoffiziellen unterrichtet waren. Unterhändler wie mein Vater wurden ausgesandt, um über Landgeschäfte zu verhandeln und Abhängigkeiten zu schaffen. Und Walter Hildebrand wurde zu den Cherokee geschickt.
All das erfuhr ich erst später. Von John Ridge und Gallegina. Da war längst alles entschieden. Vater sollte Jeffersons Plan vorbereiten. In jener Zeit wohnte er noch mit meiner Mutter in Cedar Shoals, dem späteren Athens, in Georgia. Weit entfernt von Springplace und von dem Stammesland der Cherokee. Ich war noch nicht geboren.
Ab dem Sommer 1798 versuchte er, Kontakte zu den Dörfern und Häuptlingen aufzubauen. Was ihm kaum gelang. Nach Ablauf der ersten beiden Jahre stand fest, dass der Aufwand genauso groß wie der Lohn gering war. Erwerben konnte er vor allem Argwohn. Die neuen Agrar-Techniken nutzten die Cherokee. Ihre Farmen wuchsen, Mühlen und Spinnereien entstanden, sie kauften sogar Sklaven, die vermehrt auf den Feldern und in den Ställen für sie arbeiteten. Der Handel mit den Nachbarn in Georgia nahm zu. Das alles war jedoch weniger der Verdienst meines Vaters als der des offiziell zuständigen Cherokee-Agenten. Mein Vater sollte den Landerwerb regeln. Möglichst unter der Hand. Weil Offenheit Gefahr bedeutete. Doch George Washingtons Plan und Thomas Jeffersons Auftrag sollten sich für ihn nicht auszahlen. Misstrauen und Streit bestimmten sein Geschäft.
Erst als er James Vann näher kennenlernte, änderten sich die Vorzeichen. Vann lebte in einem zweigeschossigen Anwesen, aus Stein gemauert, mit Säulen, die bis zum Dach reichten, mitten im Quellgebiet, das die Flüsse der Umgebung mit Frischwasser versorgte. Die Diamond Hill Plantage umfasste enorme Flächen fruchtbaren Ackerbodens, auf dem die Sklaven säten, hegten, die Ernten einbrachten und das Vieh hüteten. Sogar nach den Maßstäben der US-Ostküste war James Vann ein reicher Mann. Neben der Plantage besaß er Kornmühlen, Fähren, Kneipen und Handelsposten, weit über das Cherokeegebiet verteilt. Sein wertvollstes Gut waren jedoch seine Kontakte. Zu den Siedlern in Georgia, in den Carolinas bis nach Virginia. Die Kontakte machten ihn zu einem bedeutenden Mitglied des Stammes und im Stammesrat. In meiner Erinnerung ist er nur ein jähzorniger Säufer. Einer, ohne den mein Vater seinen Auftrag wohl bereits frühzeitig aufgegeben hätte. Ohne die Begegnung mit Vann wäre alles anders verlaufen. Nicht bloß für meinen Vater, sondern ebenso für Vann, die Cherokee und für mich.
Obgleich ich bei Planungsbeginn der Schule noch nicht geboren war, veränderte sie den Lauf meines Lebens. Zu meinem Vor- und Nachteil. Nicht so, wie Vater es beabsichtigt hatte. Sie wurde meine Schule und meine Zukunft, nie seine. Wer jedoch glaubt, ich wäre bereits vom ersten Tag an freiwillig nach Springplace geritten, der irrt. Von Freunden ahnte ich schließlich nichts, von Gefahren umso mehr. Vor dem, was mich da erwarten könnte, hatte ich mehr Angst als vor den Schrecken daheim. Die kannte ich. Die Furcht vor unbekannten Gefahren ist oft größer als die vor der alltäglichen und realen Bedrohung. Die Schule war fremd, dort lauerte das Unbekannte.
Aber ich greife vor. Noch mal zurück zum Anfang: Vater hatte den Auftrag, das vermeintlich ungenutzte Land für die USA zu erwerben. Was ihm nicht recht gelang. Zwar wurden Verträge unterschrieben, zumindest mit einigen der jüngeren Häuptlinge. Doch die führten weniger zur Abtretung von Jagdgründen als zu teils tödlichen Aufständen. Vor allem eine der Geschichten aus der Zeit behielt ich in Erinnerung: Der Flussdorfhäuptling Doublehead tauschte sein Dorfgebiet gegen das Versprechen auf Ersatzland jenseits des Mississippis ein. Zudem wurde erzählt, dass man ihm 1000 Dollar versprochen hätte, sofern er seine befreundeten Nachbarn vom Verkauf ihres Landes überzeugte. So lauteten die Gerüchte. Die Realität sah für ihn anders aus: Kurz nachdem er den Vertrag unterschrieb, wurde er in einer Kneipe bei Walkers Fährbetrieb von einem kräftigen Krieger namens Ganundalegi getötet. Wie er da noch hieß. Ich lernte ihn später als The Ridge kennen und fürchten. Er war Johns Vater. Die Geschichte von Doublehead hörte ich nicht bloß von John, sondern ebenso im Haus meines Vaters im Streit mit James Vann. Dem gehörte die Kneipe, in der es geschah. Sowohl der Grund als auch der Ort des Todes waren keine Zufälle. Das Verbot von Landverkäufen war für die Cherokee ein göttliches Gesetz. Ein tödliches. Und James Vann wusste zumeist sehr zuverlässig, auf der richtigen Seite des Tresens zu stehen. Bis zu seinem Bündnis mit meinem Vater. Vor meiner Geburt. Wieder eine Geschichte. Abermals eine, die letztlich tödlich endete. Was von all dem wahr ist, weiß ich nicht. Aber vieles scheint plausibel.
»Niemand kann dir das Land verkaufen. Es gehört allen oder vielmehr keinem. Den Geistern der Welt. Jeder kann es nutzen, aber nicht verkaufen. Nicht mal ich«, beteuerte Vann lauthals am Tresen seiner Kneipe. Den einzig anderen Gast hielten beide für zu betrunken und zu wenig englischsprachig, um ihn zu beachten. Dermaßen betrunken, wie sie es selbst waren. Was der Gast anschließend den Häuptlingen von dem Abend berichtete, gehörte zu dem, was James Vann irgendwann zum Verhängnis werden sollte. Für Walter Hildebrands Ansehen war es einerlei.
»Für ein paar Dollar riskiere ich nicht mein Leben. Sofern du das willst, musst du erst einmal die Cherokee ändern.«
»Akkulturation«, habe sich Hildebrand schwerfällig durch die Silben gelallt. »Die Cherokee müssen am Wissen, an der Moral und den Techniken der zivilisierten Welt, der USA, teilhaben, damit …«, interpretierte er aus alkoholträgem Gedächtnis die Worte des einstigen Präsidenten. Keinesfalls uneigennützig.
»… du deinen Auftrag erfüllen kannst«, stimmte ihm James Vann in bleiernem Tonfall zu. »Bildung, Glaube und eure Art des Denkens sind die Wege zum Erfolg.«
Da waren sie sich einig und begründeten in einer Nacht, was nicht nur das Schicksal der Cherokee verändern sollte.
In dem Sommer, in dem die Schule eröffnet wurde, starb Walter Hildebrands Frau im Kindbett. Während er Meilen entfernt die letzten Bretter auf den Dachstuhl seiner Hoffnung zimmerte. Sein Sohn wurde geboren, ohne dass er seine Mutter je kennenlernte. Das kleine Schulhaus wurde südlich der Diamond Hill Plantage mit Material und Arbeitskräften von James Vann fertiggestellt. Walter Hildebrand fand zwei Missionare, die er als Lehrer für geeignet hielt. Für ihre Dienste erhielten sie die Erlaubnis, die Schule gleichsam als Kirche zu nutzen. Abraham Steiner und Gottlieb Byhan kamen aus Salem. Die Familien waren mit den Hildebrands befreundet, seit alle noch auf der anderen Seite des Ozeans gelebt hatten. In Böhmisch-Rixdorf nahe Berlin. Die Herrnhuter Missionare nahmen die angebotene Aufgabe an, denn die ›Wilden‹ zu zivilisieren, gehörte zu ihrer Mission. Mit Protestanten ließ sich gut ins Geschäft kommen, entsprach der Erfahrung von James Vann, weshalb die Wahl der Herrnhuter ihm gelegen kam. Sie bauten rings um das Schulhaus ihre Hütten und gaben dem Ort den hoffnungsfrohen Namen Springplace. Das Quellgebiet von Wasser, Wissen und rechtem Glauben. Strömungen sind oft schwierig zu bändigen, mussten auch sie bald lernen.
An der Schule wurde in englischer Sprache unterrichtet, die wenige Cherokee beherrschten. Es wurde eine Schrift gelehrt, die einzig dazu taugte, diese Sprache und den anderen Glauben zu lernen. Die Schule war eine fremde Schule, und die Reihen im Klassenraum blieben licht besetzt. Nur einige der reichen und mischblütigen Familien ließen ihre Kinder am Unterricht teilnehmen. Die anderen ignorierten das Angebot und brachten den Nachkommen selbst bei, was ihrer Auffassung nach für das Leben wichtig war: jagen, Fischfang und Ackerbau und die gemeinschaftlichen Regeln. Lesen gehörte nicht dazu. Es gab keine Schrift für das Cherokee, und ein Nutzen für das Leben im Stamm war nicht auszumachen. Das Misstrauen gegenüber der Schule, den Lehrern und den Gründern war groß.
Einige Jahre gingen ins Land: Jefferson wurde zum Präsidenten der USA gewählt. Der Senat und das Repräsentantenhaus tagten nun im Kongress in Washington. Mit Georgia wurde ein Abkommen unterschrieben. Für an Nachbarstaaten abgetretene Territorien würden die Cherokee aus Georgia entfernt werden, wurde ihnen zugesagt. Georgia trennte sich von Gebieten des Bundesstaates, und die US-Regierung in Washington arbeitete an Möglichkeiten der Umsetzung ihres Versprechens. Die Stammesmitglieder gaben keinen Boden frei. Sie gingen weniger auf Jagd, dafür nahm der Handel mit Mehl, Korn, Baumwolle und Sklaven zu. Black Fox und Pathkiller traten erneut gegeneinander zur Wahl zum Obersten Häuptling an. Nur wenige Häuptlinge verhandelten mit Walter Hildebrand über den Tausch von Dörfern gegen Gebiete westlich des Mississippis. James Vann wurde tot aufgefunden. Der große Stammesrat trat zusammen. Einigkeit herrschte, dass in der Annäherung an die USA die einzige Chance der Cherokee liege. Krieg hieße ihr aller Ende. Bezüglich der Frage, wie nahe man ihnen kommen dürfe, gab es keine Übereinstimmung. Es war genau der Augenblick auf der Ratsversammlung in Ustanali, an dem The Ridge verkündete, Skahtlelohskee, seinen Sohn, künftig John Ridge zu nennen und nach Springplace zur Schule zu schicken.