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Springplaces achter Frühling

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Als die Schule nicht den erhofften Erfolg zeigte und mein Vater den Grund dafür in der mangelnden Kontrolle sah, zogen wir um. Von Cedar Shoals in die Wälder zwischen Springplace und Head of Coosa, eine der aufstrebenden Cherokee-Gemeinden. Geographische Nähe als Zeichen des Vertrauens, dachte mein Vater. Ein Vertrauen, das er zeitlebens nie erlangte. Er war auf Reisen, und ich blieb zurück in den Wäldern am Conasauga River. Hier beginnen meine Erinnerungen. Angst als erste.

Die Cherokeedörfer waren seit Kurzem durch befestigte Trassen miteinander verbunden. Die eine führte von Cedar Shoals, dem späteren Athens, in Georgia nach Red Clay im Nordwesten des Cherokeelandes. Sie kreuzte einen zweiten Weg, der aus Head of Coosa im Südwesten kam und nordöstlich ins Pleasent Valley weiterlief. Im Zentrum der Wege: Springplace.

Mein hölzernes Gefängnis lag eine Meile von der Trasse nach Head of Coosa entfernt, über einen Trampelpfad zu erreichen. Die Hütte stand unter einer alten Platane auf einer Lichtung, an der in einer Senke ein Bach vorbeilief. Er versorgte uns mit Trinkwasser, bevor er im nahen Conasauga River mündete. Obwohl die Hütte von der Größe eher ein Blockhaus war, aus dicken Stämmen gebaut, mit drei Räumen, von denen einer mit einem gemauerten Kamin im Winter gut geheizt werden konnte, hinderte das die Einsamkeit nicht daran, von draußen hereinzukommen. Im weiten Umkreis bloß Bäume, Sträucher und unendlich viele Tiere. Die Monster der Nächte, sowie der Tage. Jedoch waren es nicht nur die großen Tiere, Bären, Wölfe und Bisons, die mich ängstigten. Die wenigen Menschen, die vorüberzogen, taten es nicht minder. Mal Cherokee auf der Jagd, die zwar nie bis ans Haus herkamen, trotzdem immerzu durch meine Albträume streiften. Angst ist ein Gefühl, das mit der Realität selten im Einklang steht. Ab und zu sah ich die Jäger auf der anderen Seite des Baches vorbeiziehen, durch das Dickicht schleichen. Fern, ohne Blick zu mir. Muskulös und narbig. Derart mit von Kämpfen gezeichneten Körpern, dass sie hätten lächeln können und doch grimmig und bedrohlich wirkten. Manche von ihnen mit Tätowierungen, die bis zum kahlen Schädel reichen konnten. Und das Silber der Ringe umschloss die Ohren, als würden riesige Metallmuscheln aus ihren Köpfen wachsen. Die Cherokeejäger waren meine leibhaftige Albtraumvorstellung von Todesgefahren. Kaum hörte ich die Hufschläge von Pferden, rannte ich ins Haus und versteckte mich in der dunkelsten Ecke. Aus Angst. Aus Angst vor dem direkten Kontakt, ohne jemals Kontakt gehabt zu haben.

Wie die Cherokee war auch die zweite Gattung Mensch, die auf pelzbepackten Pferden und Eseln an der Hütte vorbeizog, auf der Jagd. Nach Tieren, nach Fellen, nach Gewinn. Sie erlegten die Beute nicht, um ihre Familien zu ernähren und zu kleiden. Jedenfalls selten zu dem Zweck. Abstand hielten sie ebenso wenig. Manche konnten wir bloß mit Schüssen aus der Flinte vertreiben. Wir? Ja, sicher. Wäre ich allein dort aufgewachsen, hätte ich vermutlich nicht überlebt. Nicht mein Vater war bei mir, sondern Alice, eine junge Frau, die mich aufzog. Er habe sie günstig in Athens erworben, behauptete er. Zwei Gefangene in einer Waldhütte. Für mich gab es Hoffnung, für sie keine Chance. Ich hatte Angst, und Alice beschützte mich. Obwohl ich der Sohn desjenigen war, der ihr Leben zerstörte, kümmerte sie sich um mich, als wäre ich ihr eigenes Kind. Sie war eine schmale, gleichzeitig kräftige Person mit dunkler Haut und rabenschwarzen Haaren. Der Rücken ihrer breiten Nase wies einen Knick auf, als hätte sie sich beim Wachsen überlegt, doch näher am Mund bleiben zu wollen. Die Nase hatte keinen freien Willen, genauso wenig wie Alice. Aber davon wusste ich damals noch nichts. Sie war da, und mehr interessierte nicht. In ihrer Nähe fühlte ich mich gegen die feindliche Welt außerhalb der Hütte gefeit, beschützt vor der Abgeschiedenheit mit den wilden Tieren, den aufdringlichen Trappern und den unheimlichen Cherokee. Heute weiß ich, dass die Cherokee weniger zu fürchten waren als die Pelzjäger, und die meisten wilden Tiere mir weniger nah kamen als wir ihnen. Als Kind sah die Wirklichkeit noch anders aus. Ob ich Schutz brauchte oder nicht, war nicht die Frage, denn ich hatte ihn. Durch Alice. Sie hielt die Gefahren fern, mit Vaters Flinte, der Flinte mit dem blutgemaserten Schaft. Alice war da für mich. Bis sie eines Tages, kurz bevor ich in die Schule nach Springplace geschickt wurde, plötzlich verschwand.

Mein Vater erklärte knapp, er habe sie gehen lassen, jetzt da ich alt genug sei, um auf eigenen Beinen zu stehen. Es sei ihm erlaubt, sie gehen zu lassen, versicherte er, zu ihrem Wohl und Schutz. Gehen lassen. Mein blindes ängstliches Vertrauen ließ mich an seine Worte glauben. Sie gehen lassen, welch’ wohliges Versprechen. Alles, was außerhalb des düsteren Waldes lag, konnte nur besser sein, so dachte ich. Erst Jahre später traf ich sie wieder, im Süden bei den Muskogee-Creek während einer Stammesversammlung. Während die Stammesräte um das offene Feuer standen und verhandelten, wanderte ich durch das Dorf. Dort entdeckte ich Alice. Um sie herum liefen vier Kinder, allesamt glücklich, wie mir schien. Bis sie mich sah und erkannte. Schrecken und Furcht sprachen aus ihren Augen, als ich näher an sie heranging. Ich sprang begeistert auf sie zu. Glückliche Erinnerungen leiteten mich, machten mich blind. Ich überrollte sie mit Fragen. Demonstrativ verstellte sie mir die Sicht auf ihre Familie, als wehre sie eine Gefahr ab. So wie sie sich einst schützend vor mich gestellt hatte, wenn die Pelzjäger an die Tür gehämmert hatten. Jetzt war ich der Fremde, die Gefahr, der Pelzjäger. Hätte ich nicht ihren ältesten Sohn gesehen, ich hätte an eine Verwechslung geglaubt. Er schaute neugierig an ihrem Rücken vorbei, sah mich direkt an. Aus den blauen Augen meines Vaters. Wie ein Spiegelbild meines eigenen sechsjährigen Ichs im dunklen Bach der Zeit. Kein Zweifel, sie war es, Alice, und der Junge war …! Ich entschuldigte mich und rannte weg. Wie in der Vergangenheit vor den Jägern. Erst in sicherer Entfernung drehte ich mich noch einmal zu ihr um und bekam ein letztes Mal das beschützende Lächeln meiner Kindheit zu sehen. Hier galt es meinem Bruder und seinen Geschwistern.

Als sie damals verschwand, fühlte ich mich im Stich gelassen. Tränen und Geschrei. Bis zum ersten Schultag in Springplace. Mein Vater kaufte mir ein Pony als Wiedergutmachung für Alice und damit ich zur Schule reiten und allen zeigen konnte, wie großzügig und vertrauenswürdig er wäre. Die Welt eines Kindes dreht sich unbarmherzig. Brutal und wunderschön. Vergangen ist alles Vergangene. Wäre die Welt doch immer eine Kinderwelt. In Springplace lernte ich Freunde kennen. Und Alice verschwand im Dunkel der Vergangenheit.

Der fremde Cherokee. Freundschaft schreibt Geschichte

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