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Kiran lief den Bahnsteig entlang und blickte sich erfreut um. King’s Cross Station, hier war er zuletzt als Teenager gewesen. Die alten Bahnsteige mit den hohen runden Glasdächern strahlten immer noch diese Ehrwürdigkeit traditionellen Reisens aus. Der Zugfan in ihm hatte die Reise von Inverness in jeder Hinsicht genossen, obwohl sein Urlaub im Eimer war. Auch Horst Roellinghoff war keinerlei Kummer anzumerken, ganz im Gegenteil. Der alte Herr wirkte eher, als ob die Ferien erst richtig losgingen.

Ein Mann trat auf sie zu und grüßte. »Mr. Mendelsohn? Paul Saunders von der NCA, willkommen in London.«

Kiran blickte in das freundliche Gesicht eines Kollegen etwa im gleichen Alter. Ein schmales Antlitz mit feinen Zügen, die Augen klar und konzentriert. Seine leicht angegrauten Schläfen verliehen ihm etwas Aristokratisches, wozu die junge Stimme jedoch nicht ganz passen wollte. Alles in allem wirkte Saunders wie ein sehr sympathischer Mensch, dem Kiran mit einem guten Gefühl die Hand gab.

»Das ist mein Freund Horst Roellinghoff, ein pensionierter Kollege.«

»Ich weiß«, entgegnete Saunders zu Kirans Verblüffung. »Sehr erfreut, Mr. Roellinghoff, Lord Castlemere lässt ausrichten, dass Sie um acht mit Harvey Forsythe im Bag Club verabredet sind.«

Kiran verstand nur Bahnhof. »Wo?«

»Erkläre ich dir später. Vielen Dank, Mr. Saunders«, antwortete Roellinghoff in per-fektem Oxford-Englisch. »Setzt ihr mich in Kirans B&B ab?«

Saunders wollte die beiden zuerst von einem Bed & Breakfast abbringen, änderte aber seine Meinung, als er vor dem Haus anhielt. Kirans mit Akribie ausgesuchte und jahrelang frequentierte Logis lag in Marylebone. Das Sheep Flock war eine spannende Kombination aus Hotel und Kneipenrestaurant, die sich mit feinem Understatement bescheiden als Bed & Breakfast verkaufte. Roellinghoff verabschiedete sich mit erwartungsvoll strahlenden Augen, und die Fahrt ging weiter nach Süden, durch Westminster und am Embankment entlang. Kiran genoss die vertrauten Sehenswürdigkeiten, dann wandte er sich an seinen englischen Kollegen, mit dem er bislang nur Small Talk gehalten hatte.

»Okay, wer ist Harvey Forsythe und was, bitte, ist der Bag Club?«

Saunders musste lachen. »Ihr alter Herr ist auch so ein Geheimniskrämer? Hat Ihnen auf der langen Zugfahrt nichts erzählt? Na, ich will helfen, wo ich kann. Forsythe ist eine Legende beim Scotland Yard. Dem alten Yard, wohlgemerkt. Hat den Laden durch die schlimmsten Krisen gefahren und in der Sicherheitskatastrophe Ende der Neunziger den Kopf hingehalten, obwohl alle wussten, dass er den eigentlich verantwortlichen Volltrottel aus Whitehall schützte. Hat ihn die anstehende Ritterschaft gekostet. Typisch für die Oberklasse. Alle wissen, dass er denen den Arsch gerettet hat, aber Sir durfte er dann doch nicht werden. Ist ihm aber relativ egal, denn im Bag Club ist er der Grandmaster. Manche sagen, er hat mehr Macht in London als die Freimaurer.«

»Komischer Name, Bag Club«, bemerkte Kiran.

»Ist ein alter Begriff für Uniform, aber auch die Tasche mit den wichtigen Utensilien für die Streife. Cooler Name für den inoffiziellen und damit wichtigsten Gentlemen’s Club für uns Copper. Und im definitiv irrsten Clubgebäude der Stadt untergebracht.«

»Wo denn?«

»Oh nein, die Überraschung verderbe ich Ihnen nicht. Ich bin eher erstaunt, dass Ihr alter Freund so gar kein Wort darüber verloren hat. Wenn er Forsythe kennt, dann ist er ein ziemlich hohes Tier bei euch oder zumindest ein sehr alter Fahrensmann.«

Kiran nickte. »Kein sehr hohes Tier, aber der alteingesessene Löwe. Und mein Mentor.«

»Interessant. Forsythe ist der Mentor und ehemalige Boss von Castlemere. Ich muss sagen, die beiden haben mir einen winzigen Rest an Respekt vor dem Establishment gerettet. Kennen Sie Lord John Castlemere?«

»Ich habe einen herausragenden und extrem lustigen Vortrag von ihm auf der letztjährigen Tagung in Bologna gehört. Kennengelernt haben wir uns nicht, er war von Frauen umringt, bis hin zur Bar.«

»Das sieht ihm ähnlich. Ich nehme an, er hat Sie gebrieft? Und eigentlich können wir doch Kiran und Paul sagen, oder?«

»Auf jeden Fall. Ja, eure Kollegin Wyman hat mir ein sehr feines Memo geschickt. Klingt spannend. Und nicht ganz unkompliziert. Sie meinte, wir würden viel Spaß haben.«

»Ja, aber das hat sie, glaube ich, anders gemeint. Castlemere hat sie ins Briefing gebeten. Bis dahin hätte ich gerne mal deine Einschätzung, gewissermaßen aus der Ferne. Womit haben wir es hier zu tun, was meinst du?«

»Nicht ganz leicht. Zwei Opfer, beide kerngesund und im nächsten Moment per Infarkt gestorben. Beide haben einen hoch dotierten Job, der eine in der Topfinanz, der andere als Ingenieur in einer Windkanalentwicklungsfirma, also in beiden Fällen ist viel Geld im Spiel.«

»Windkanal? Das wusste ich gar nicht.«

»Ist dann wohl frische Info. Eine sehr verschwiegene Designerfirma, entwickeln wohl aerodynamische Oberflächen für große Kunden. In beiden Berufen gibt es also durchaus einen Grund, jemanden anzugehen. Geheimnisverrat durch Geld oder Erpressung. Oder auch Drogen, aber das passt weniger auf das zweite Opfer, einen Familienvater und Ingenieur. Seltsam. Warum hat der Fall bei euch die Warnlampen angehen lassen?«

Saunders zuckte mit den Schultern. »Ernsthaft, keinen Schimmer. Wyman hat ein mieses Gefühl und meistens recht damit. Wir, also die NCA, sind bisher an der Sache nicht oder nur kurz und dann auf einmal nicht mehr dran gewesen. Irgendwas ist da im Busch. Wird also sehr unterhaltsam. Vor allem, weil wir jetzt ein paar Krauts im Team haben. Das macht überall Laune. Ganz besonders bei der Losertruppe in Whitehall, die eure Regierung gerade so richtig gern hat.«

Er zwinkerte Kiran belustigt zu und bog mit Schwung in die Tiefgarage ein.

Kiran grinste zufrieden. Dies hier war auf jeden Fall ein sehr angenehmer Kollege. Keinesfalls ein Deutschenhasser wie beim letzten Mal. In Zeiten des Brexit hätte das noch weniger geholfen. Saunders hätte ein Zwillingsbruder seines Kollegen Bolko Blohm sein können. Der ließ auch keine Gelegenheit zum Lachen anbrennen.

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