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Horst Roellinghoff lehnte sich zurück, ließ den Single Malt in seinem Glas kreisen und atmete mit einem entspannten Seufzer aus.

Kiran und er saßen im Gästeraum in der ersten Etage des Sheep Flock und warteten auf das Abendessen. Kiran war erst spät im Hotel abgesetzt worden, da er mit Saunders und Wyman noch einige Abläufe geplant hatte. Inzwischen war es elf Uhr, selbst Bolko und die englische Kollegin waren bereits gelandet und unterwegs. Netterweise hatte sich das Management bereit erklärt, dem Team noch Essen zuzubereiten.

Das Sheep Flock war eine wohlüberlegte Mischung aus ländlichem Pub und kleinem Stadthotel. Das Ambiente war das eines ruhigen und entspannten Gasthofs auf dem Land, obwohl man sich mitten in der City von London unweit des Oxford Circus und gleich um die Ecke des Hyde Parks befand. Der Gästeraum war ein in hellem Holz gehaltener, urgemütlicher Wohnzimmer-Pub, die Zimmer des B&Bs bestens ausgestattet, der Service eine Übung in ruhiger Perfektion. Die Küche, das mit Abstand Wichtigste auf Kirans Werteskala, war atemberaubend gut. Jedes klassische Hausmacher- oder Kneipenrezept wurde mit kreativen Ideen abgeändert und mit Produkten von exklusiv liefernden Bauernhöfen und Fischern zubereitet. Neben den klassischen und einigen neuartigen Fleisch- und Fischgerichten gab es so illustre Spezereien wie gegrilltes Makrelencarpaccio oder frittierte Rote-Bete-Feta-Fladen. Kiran liebte intelligente Küche, und selbst Bolko würde seinen rustikalen Hunger hier stillen können.

Kiran hatte Horst Roellinghoff alles über den Fall erzählt. Eine Tradition, die er mit seinem Mentor, einem Vordenker und Veteranen des BKA, lange Zeit vernachlässigt hatte und seit einigen Jahren endlich wieder regelmäßig pflegte. Roellinghoff hatte Kiran seinerzeit in Wiesbaden auf der BKA-Akademie entdeckt und sich der Ausbildung dieses seltsamen Wunderkindes angenommen.

Der junge Kiran war so ganz anders als die harten und überfokussierten Junghabichte, die jedes Jahr antanzten und meinten, die Welt als Doppelnullagenten aus den Angeln heben zu können. Mendelsohn dagegen war ein Denker, prädestiniert für Fallanalyse und Psychologie, und dazu, durch einen glücklichen Zufall in Gestalt eines japanischen Nachbarn, ein Meister des Aikido, das Roellinghoff in Wiesbaden und Quantico mit verschiedensten Nahkampftechniken anreichern ließ.

Nach zwei Jahren als Austauschstudent bei der FBI-Akademie in Quantico mit einem traumatischen Ende dort hatte sich Kiran über Jahre bei der internationalen Einheit in Berlin und als Dozent in der Akademie verkrochen, bis Roellinghoffs Tochter Eleonore, damals Oberstaatsanwältin, ihn zurück in die Ermittlung im Feld bringen konnte. Dort hatte Kiran Bolko kennengelernt, einen bodenständigen Quereinsteiger aus dem Morddezernat Hamburg. Zusammen bildeten die beiden ein kongeniales Team, für das die Benutzung unorthodoxer Methoden eher der Normalfall war.

Kiran leerte seinen Malt ebenfalls. Roellinghoff bestellte Nachschub und nickte einem gehenden Gast zu.

»Netter Laden. Könnte von deinem Stammwirt sein, obwohl das Essen hier erfrischend normal ist. Finde ich irgendwie besser so, aber sag ihm das bloß nicht.«

»Nur, wenn du mir ein paar Dinge verrätst.«

»Mal sehen, warum bin ich wirklich mit nach London gefahren, und wer ist Harvey Forsythe?«

Kiran nickte lächelnd.

»Also erst mal haben wir zwei Urlaub. Wenn du jetzt ermitteln musst, hält mich das nicht von dieser grandiosen Stadt ab. Und dann kann ich dir mal zuschauen, am besten von einem guten alten englischen Club aus. Mit meinem alten Freund Forsythe. Ich habe Harvey 1972 kennengelernt. Er kam als Berater aus England zu uns nach Wiesbaden. Offiziell, weil er dringend Urlaub brauchte. Er war damals verdeckter Ermittler in Nordirland und direkt in die Schießerei am Bloody Sunday verwickelt. Hat einigen Soldaten das Leben gerettet, danach haben sie ihm eine Medaille um den Hals gehängt und ihn zur Kur nach Wiesbaden geschickt. Inoffiziell hatten wir ihn angefragt – wir, das heißt Herold, der damalige Amtschef, einer der wenigen BKAler mit Gehirn und Weitsicht. Die Rote Armee Fraktion hatte zu dem Zeitpunkt genug Banküberfälle durchgezogen und sich Waffen beschafft. Dann haben sie angefangen, Polizisten über den Haufen zu schießen, und wir brauchten dringend Hilfe von jemandem, der mit solchen Leuten Erfahrung hatte. Und Harvey kam zum goldrichtigen Zeitpunkt. Er war gerade mal vier Wochen da und hatte uns in die Grundlagen terroristischer Organisation eingeführt, da begann die Mai-Offensive der RAF.«

»So viel zum Thema Erholung, der arme Kerl.«

»Von wegen. Der brauchte Erholung so dringend wie ich den Zahnarzt. Harvey wollte aus Nordirland weg, weil sie ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatten. Brachte nichts mehr. Also hat er sich bereit erklärt, die Krauts zu unterrichten, wenn er dafür nach London zurückdurfte. Und das war ein guter Deal. Harvey half mir dabei, eine gute Einheit aufzubauen, und beriet mich und meinen Gruppenleiter in Sachen Terrorzellen-Organisation. Er wusste genau, wie diese Irren ticken. Und er war der Meinung, dass die nicht nur bei der Fatah in Jordanien ausgebildet worden waren. Die Taktik der Überfälle und das Geschreibsel in den Pamphleten hatte ihn sehr an die IRA erinnert. Die meisten im Präsidium haben ihm natürlich nicht geglaubt und diese schwachsinnige Aktion Wasserschlag durchgezogen. Aber Herold hat uns machen lassen. Also sind wir eine Weile vorher und währenddessen in Frankfurt unterwegs gewesen. Im Grunde ist es Harvey zu verdanken, dass wir Baader in die Finger bekommen haben. Dieser Sonderling Raspe war uns aufgefallen, und Harvey hat ihn ausfindig gemacht.«

»Hm. Irgendwie muss mir das im Unterricht entgangen sein, als die Betriebshistorie dran war«, kommentierte Kiran ironisch, obwohl er wie immer fasziniert zugehört hatte.

»Sicher, so was kommt garantiert nicht in die Annalen. Ist auch besser so. Harvey hatte genug Ruhm bei der dunklen Bruderschaft. In London haben sie ihn dann zum jüngsten Assistant Commissioner gemacht. Anders als heute waren das bis dato nur Mumien aus dem Weltkrieg gewesen. Und ich durfte neben der Zielfahndung Ausbilder in der Akademie werden. Seitdem sind wir Freunde und treffen uns alle zwei Jahre, immer im Juni.«

»Aha. Nur jetzt habt ihr ein außerordentliches Meeting. Und was das betrifft, hat dir Harvey sicherlich so einiges erzählt. Immerhin ist er der Mentor von Castlemere, der uns hierher beordert hat.«

»Allerdings. Und nicht nur das. Das Ganze war Harveys Idee. Er hat mich in den Highlands angerufen, als du deinen Showdown mit diesem amerikanischen Psychopathen geplant hast.«

In diese elegischen Betrachtungen hinein platzte Bolko, der unbemerkt den Gas-traum betreten und die beiden erspäht hatte.

»Guten Abend, die Herren. Ich störe hoffentlich nicht?«

»Immer«, sagte Kiran, stand auf und umarmte seinen Freund und Partner. Nach-dem Roellinghoff Bolko krachend auf die Schulter gehauen hatte, setzten sie sich.

Bolko nahm einen großen Schluck von dem Bier, dass er wie immer beim Knei-peneintritt im Vorbeigehen mitgenommen hatte. »Ach, London. Pubfood und schaumloses Bier, herrlich. Gwen ist nach Hause gefahren. Komplett fertig, die Gute. Verständlich, heute Morgen unschuldig in die Pathologie gekommen, von der NCA rekrutiert, sofort nach Hamburg und dann nach Berlin verfrachtet worden und per Jet wieder heim. Der Dame schwirrt der Kopf, aber sie ist happy. Und eine sehr gute Bullette.«

Kiran dachte sich ein belustigtes Soso, Gwen. Bolko war zwar ungezwungen und ein sehr kollegialer Mensch, seine flapsige Art aber kam bei weiblichen Kollegen nicht immer und oft erst mit Verspätung an. Mit Verbrüderung oder Lob ging er geschlechtsneutral absolut sparsam um. Dies hier war ein kleines Wunder.

»Ihr habt euch also gleich verstanden, ich bin erstaunt. Und keine schlechten Infos aus Hamburg. Hat uns vorläufig davon überzeugt, dass hier jemand Leute aus dem Verkehr zieht. Wir wissen nur nicht, warum und wie.«

»Auf dem Weg nach Berlin habe ich das mit Gwen diskutiert. Sie hat sich dabei ein bisschen verplappert, es aber mit Fassung getragen. Weil sie halt ehrlich ist, eine harte Lady aus dem Arbeiterviertel. Bei der NCA hat man ihr gesteckt, dass unsere beiden Landsmänner wahrscheinlich nicht die einzigen Opfer mit dieser Todesart sind.«

»Stimmt, sind sie nicht«, sagte Roellinghoff entspannt und betrachtete den kreisenden Whisky in seinem Glas.

Kiran machte eine fragende Handbewegung, die vom Ober fälschlicherweise als Si-gnal dechiffriert wurde, woraufhin eine weitere Runde Malt ankam. Roellinghoff lehnte sich zurück und sah seine beiden Schützlinge an. Er wiederholte für Bolko eine Kurzfassung seiner Verbindung zu Forsythe, dann kam er zu dem Punkt, an dem Bolko unterbrochen hatte.

»Harvey hat mich angerufen, weil er mich um einen Gegengefallen gebeten hat. Diesmal umgekehrt. Wir haben mehr Erfahrung mit organisierten Banden, vor allem, wenn sie mit Diensten und der Politik verstrickt sein könnten. Hier treten sich MI5 und 6 sowie eben die Polizei und jetzt auch noch die NCA gegenseitig auf die Füße. In Deutschland sind wir zwar keinen Deut besser, aber wenigstens nicht ganz so feindlich miteinander.«

Er blickte in zwei Paar hochgezogener Augenbrauen. »Okay, sind wir, aber es ist besser geworden.«

»Sag das dem Vollpfosten vom BND, den sie wegen uns in den Himalaya geschickt haben.«

»Im Ernst, Bolko, das hier könnte eine ziemlich haarige Sache werden. Ich denke einfach, Castlemere wollte euch alle persönlich kennenlernen, in einem Raum haben und etwas von eurer Arbeit gesehen haben, bevor er euch einweiht.«

»Was du jetzt allerdings vorziehen wirst«, warf Kiran ein.

»Soweit ich kann. Harvey hat mich heute nur grob ins Bild gesetzt. Das aber reicht schon fürs Erste. Diese Sache ist ein heißes Eisen und zwar aus mehreren Gründen.«

»Klar, warum einer, wenn’s auch viele sein können?«, meinte Bolko resigniert.

Roellinghoff nickte. »So sind die Zeiten, mein Junge. Das Problem bei der Sache sind erstens die Opfer, die auf den ersten Blick absolut nichts miteinander zu tun haben, und dann die Todesart. Bislang kann sich niemand einen Reim darauf machen, warum diese Leute auf diese Art ermordet worden sein sollen. Bei einigen ist man unsicher, ob es überhaupt Mord war und kein Unfall. Und wenn, wie man diese Art Infarkt erzeugen kann.«

»Und was weiß man?«, fragte Kiran.

»Bei der NCA? Offiziell nichts. Auch nicht bei der Metropolitan Police; der MI5 hat kurz ermittelt und nichts herausgefunden, die haben sich aber auch kaum angestrengt. Und dann war da Salisbury.«

»Oh nein, bitte sag mir, dass das nicht damit zusammenhängt«, sagte Bolko.

»Nein, das glaube ich nicht. Harvey und seine Kontakte auch nicht. Die sind sich alle sicher, dass irgendjemand diesen Russen vergiftet hat, um die Regierung zu provozieren oder ihr einen Grund für ihr Moskau-Bashing zu geben. In beiden Fällen so dilettantisch, dass die Russen mit Sicherheit nicht beteiligt sind. Oder sie gehen mit der Zeit und dem Gegner und tarnen sich jetzt als Idioten. Im Ernst: Das hier kam einfach zur Unzeit, alle waren auf die Skripal-Affäre fixiert. Und dann sind dies hier Todesfälle mit völlig anderen Opfern, anderen Umständen. Und, wie gesagt, oft noch nicht mal als Mord erkennbar.«

»Weißt du Genaueres, wer und wann?«

»Nicht viel. Muss ich auch nicht, das kommt früh genug von dieser Recherchekönigin. Es sind so um die acht Opfer, aber nicht alle verifiziert, also vielleicht weniger. Alle hatten einen Anfall, der entweder so zum Tode führte oder einen tödlichen Unfall ausgelöst hat. Einer ist vor die U-Bahn gefallen.«

»Übel«, sagte Kiran. »Hat dir Forsythe gesagt, was er dahinter vermutet? Und wer sind seine Informanten? Er muss davon ja über sein Netzwerk erfahren haben.«

»Das Netzwerk ist der Bag Club. Da treffen sich alle, die in den Diensten etwas zu sagen haben oder einfach gute Leute sind und sich der Kooperation verschrieben haben. Ihr werdet irgendwann dorthin eingeladen. Wenn das Ganze etwas offizieller ist, ihr also etwas herausgefunden habt. Sonst nicht.«

»Aha, sonst noch was?«, fragte Bolko ironisch.

»Man ist der Meinung, dass irgendeine neue Gruppe sehr verdeckt und professionell agiert. So professionell, dass man eigentlich gar nicht wirklich weiß, wen die wie und warum umbringen. Es kann um Drogen gehen, um Geld, vielleicht auch um eine Art Einfluss. Spionage scheidet aus, dazu sind die Opfer nicht exklusiv oder wichtig genug. Bis jetzt, aber die beiden Deutschen sind eher Profis in ihrem Job, ebenfalls nicht politisch. Das ist das Verwirrende. Offenbar sind das auch sonst ganz normale Menschen, keiner davon mit staatstragenden Geheimnissen betraut.«

»Zum Glück, dann ist der MI5 ja aus dem Spiel. Und wir haben erst mal freie Bahn, weil wir ja nur deutsche Opfer ermitteln«, sagte Kiran.

»Ja und nein. In Whitehall weiß man noch nichts über diese Ermittlung. Castlemere hat sich nur Forsythe und seiner Chefin anvertraut und dann über mich den Kontakt zu Birte Halbach hergestellt. Sobald ihr etwas findet, was die Sache brenzlig macht, wird sich der Wind drehen, und das schnell. Gerade in diesen Tagen, da wir EU-Ausländer in Westminster so einen guten Ruf haben.«

»Hat man bei den Kollegen nicht gemerkt«, meinte Kiran.

»Sicher. Die sind ja auch normal. Außerdem dreht sich so langsam die Stimmung auch im Lande. Aber in der Regierung ist man gezwungenermaßen noch anti-europäisch. Solange ihr also keine Briten durch London jagt, dürfte alles in Ordnung sein.«

»Na toll. Sonst noch ein Tipp, den uns dein Freund Harvey geben kann?«, fragte Bolko.

»Das reicht erst mal. Geht einfach raus und macht euer Ding. Wie ich euch kenne, lauft ihr spätestens in ein paar Tagen dem ersten Killer über den Weg, dann wissen wir mehr. Seid nur vorsichtig mit Lebensmitteln und Türklinken.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

Roellinghoff schüttelte den Kopf, allerdings ohne dabei zu lächeln.

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