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Der Lynmore Expat Country & Golf Club lag still in der Mittagssonne. Obwohl viele teure Autos auf dem Parkplatz standen und daher auch viele Mitglieder auf dem Golfplatz unterwegs sein mussten, ging eine allumfassende Ruhe von der Anlage aus. Der Luxus war direkt spürbar, auch wegen der Stille.

Bolko und Caulfield saßen auf der Terrasse, die auf ein weites Golf-Areal blickte. Sie hatten bereits einen Termin mit dem Präsidenten des Clubs hinter sich und warteten auf den Vertreter der deutschen Gemeinde. Der Countryclub war eine Institution für die reicheren unter den Gastarbeitern und den noch reicheren Einwanderern. Hier waren auch Rolf Anstetter und Familie Mitglieder geworden, um schneller Fuß zu fassen, und weil der mondäne Club ebenfalls in Hertfordshire lag, keine zehn Minuten vom Haus der Anstetters in Hadley Wood entfernt.

Während sie bei einem Kaffee warteten, ließ Bolko Blicke und Gedanken schweifen. Wie so oft, wenn es ins Ausland ging, fühlte er sich beschwingt, inspiriert und war gleichzeitig von Berufs wegen in höchster Wachsamkeit. Seine Wahrnehmung wurde intensiver, begann das gesamte Umfeld unter die Lupe zu nehmen. Ein Zustand, den er jedes Mal aufs Neue genoss.

Am Morgen hatte die erste Besprechung des englisch-deutschen Teams stattgefunden. Man hatte keine neuen, sondern eher die Erkenntnisse des Vortags ausgetauscht und sich noch einmal miteinander als Gruppe bekannt gemacht. Per Videokonferenz waren auch Birte Halbach und die beiden durch Deutschland fahrenden Kommissare Moretti und Motte zugeschaltet gewesen. Das Ganze hatte einen ziemlichen Drive, wie Castlemere belustigt angemerkt hatte.

Castlemere hatte als Leiter der Aktion den Vorsitz übernommen, noch einmal alle auf die Ermittlung eingeschworen und die Aufgaben verteilt. Jane Wyman hatte bereits am Vorabend Informationen zusammengetragen und Termine gemacht, sodass die Ermittler an diesem Morgen gleich starten konnten. Man war übereingekommen, die Teams so zu belassen, wie sie sich von selbst gebildet hatten, und erst am Nachmittag einige Deutsche von Deutschen befragen zu lassen.

So waren Kiran und Saunders unterwegs nach Cambridge, um dort den Chef von Rolf Anstetter bei Wind-Labs zu befragen, während Bolko und Caulfield sich mit dem Countryclub der Anstetters und dort neben dem Präsidenten mit einem Vertreter der deutschen Gemeinde befassen wollten. Am Nachmittag wollte man sich dann treffen und gemeinsam die Finanzfirma von Rolf Kramer aufsuchen.

Der Präsident des Countryclubs hatte sie bereits auf der Terrasse erwartet und war äußerst zuvorkommend gewesen, sowohl in der Bewirtung als auch im Gespräch. Das mochte ein Teil des Ambientes und der Exklusivität sein, andererseits geschah dies wohl auch aus einer entschuldigenden Höflichkeit heraus, denn über die Familie Anstetter gab es nicht viel zu berichten. Golf war kein Sport, für den sich der Ingenieur interessiert hatte, Frau und Kinder waren eher in der Pool-Anlage aufzufinden gewesen. Einzig der Gastronomiebereich hatte Anstetter ab und an als Treffpunkt für Verabredungen mit Sportsfreunden oder Bekannten seiner Frau gedient. Aufgefallen war jedoch keines der Treffen, zumindest nicht dem Präsidenten, der zu den durchschnittlich gut situierten Mitgliedern offenbar eine gepflegte Distanz einhielt. Man hatte sich ein paarmal im Rahmen der Clubveranstaltungen unterhalten, das Ganze mehr als belanglos. Insofern war dem Präsidenten nichts aufgefallen, obwohl Bolko das unbestimmte Gefühl hatte, dass er im gegenteiligen Fall ebenso wenig erzählt hätte.

So warteten sie auf den zweiten Gesprächspartner und genossen die frische Luft und die sanft geschwungene Grünanlage. Eine Bewegung ließ Bolko aufblicken,

»Herr Blohm, Ms. Caulfield? Norbert Mosberg, sehr erfreut.« Caulfield schüttelte die angebotene Hand, während Bolko den Mann in Augenschein nahm und ihn dann eben-falls begrüßte.

Mosberg war in den Vierzigern und trug eine Art hellbraun karierten Freizeitanzug, wie ihn in Deutschland sonst nur Hipster trugen. Leider gehörte er auch zu jenen Men-schen, die anstatt eines langen Barts die Wiederkehr des Schnurrbarts offenbar sehnlichst erwartet hatten. Eine kleine und strahlende Goldkette im offenen Kragen ließen Bolko vermuten, dass dieser Mann kein Manager, sondern eher eine Art Verkäufer war.

»Ich bin der Spokesman der hiesigen deutschen Gemeinde. Klingt aufregender, als es ist. Aber wir kümmern uns um unsere Landsleute. Entsetzlich, das mit Rolf. Was ist denn nur passiert?« Mosberg sprach aus Höflichkeit gegenüber Caulfield englisch, sein Akzent nur minimal hörbar beim leicht überbetonten R.

»Herr Anstetter ist vorgestern einem Infarkt erlegen«, sagte Bolko.

»Und da kommt die deutsche Polizei? Ich dachte, so was passiert nur bei Kriminalfällen.«

»Wir stellen seine private und berufliche Situation sowie die Umstände seines Todes fest, danach geht alles seinen normalen Gang«, sagte Caulfield. »Unsere deutschen Kollegen übernehmen den deutschen Part bei der Sache.«

»Herr Mosberg«, übernahm Bolko, »was können Sie uns über Rolf Anstetter sagen? Wie eingebettet war er hier innerhalb des Clubs, wie ging es ihm in den letzten Wochen?«

Mosberg nickte ernst, während er konzentriert auf seinen Kaffee blickte. »Rolf war ein ruhiger Mensch. Sehr genau und zielgerichtet. Hatte nur zwei Dinge im Kopf, seine Forschung und seinen Ausdauersport. Das waren leider keine Themen für diesen Club hier. Er kam aber regelmäßig mit der Familie, die Kinder hatten hier ein paar Freunde. Er hat meistens an seinem Laptop gesessen. Auf den Feiern war er anwesend und eigentlich ganz nett, aber eben sehr trocken. Unterhaltungen gingen nie lange.«

»Hat sich das in letzter Zeit geändert?«

»Doch, jetzt wo Sie fragen, ja. Er war gestresst. Und wirkte nicht mehr so auf den Punkt, nicht mehr so streberhaft. Eher unter Strom.«

»Wie meinen Sie das, was hat sich geändert?«, fragte Caulfield.

»Na ja, er war halt ein ziemlicher Langweiler. Redete nur von seinem Job. Und wenn er mal vom Sport erzählt hat, ging es auch nur um sein Geländerad. In den letzten Wochen nichts mehr davon. Er redete nicht mehr. Und wenn, dann war er zerstreut. Hörte mitten im Satz auf zu reden. Ich glaube, er hatte Angst.«

»Hat er gesagt, wovor?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich denke, er hat sich mit komischen Menschen eingelassen. Er fragte mich mal, ob mir im oder vor dem Club fremde Leute aufgefallen wären. Ich bitte Sie, das hier ist ein Countryclub vor den Toren Londons, woher soll ich wissen, wer hier alles verkehrt? Vorletzte Woche wollte er dann auf einmal eine Versicherung.«

»Von Ihnen? Was denn für eine Versicherung?«

»Eine Lebensversicherung natürlich. Ach so, ich verkaufe Versicherungen, müssen Sie wissen. Speziell für Ausländer, EU und den Rest auch. Gesundheit, Leben, Alter, Haus, Sicherheit, Haftpflicht und Reise. Alles, was es vom Staat nicht gibt und was der Mensch zum Leben braucht.« Er reichte Caulfield seine Karte, die er während des Herunterbetens der Werbebotschaft gezückt hatte.

»Und Anstetter wollte also eine Lebensversicherung. Haben Sie die abgeschlossen für ihn?«

»Leider nein. Ich hatte alle Papiere fertig, das war vor einer Woche. Er wollte sich melden. Dann kam die Nachricht von seinem Tod. Wissen Sie, was genau passiert ist?«

»Wissen wir«, sagte Bolko. »Haben Sie ihn hier mit irgendjemandem gesehen, der nicht zum Club oder den deutschen Auswanderern gehört? Oder jemand von der Arbeit?«

»Nein. Halt, warten Sie, auf dem Parkplatz stand er mit einem jungen Mann. Der sah gar nicht gut aus. So ein Szenetyp. Gute Klamotten, aber irgendwie schmierig.«

Bolko gelang es gerade noch, seinen Kommentar in einem Husten zu verbergen. Caulfield kam ihm zu Hilfe.

»Können Sie den Mann beschreiben?«

»Ach Gott, das ist mehrere Wochen her.« Er dachte nach. »Die Haare waren strähnig, unrasiert. Aber das Sakko sah gut aus. Deshalb ist er mir aufgefallen. Er sah aus wie ein Gassenjunge, der ein Designerteil geklaut hat. Mehr weiß ich nicht, sie standen hinter Rolfs Wagen und haben sich gestritten. Sehr untypisch für Rolf.«

»Sie meinen also, Anstetter hatte Probleme, die mit seinem Lebenswandel zu tun hatten?«

»Ja, vielleicht. Ich meine, er war eigentlich überhaupt kein Typ dafür. Aber etwas hat ihn aus der Bahn geworfen. Und gezittert hat er auch am Ende, wenn ich so darüber nachdenke. So ein bisschen, als ob er eine Art Doping genommen hätte.«

»Sie meinen, sein Zustand war körperlich bedingt, wie von einer Droge oder dem Entzug einer Droge?«, hakte Caulfield nach.

Mosberg nickte.

»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«, fragte Bolko.

Mosberg schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kann mich in der deutschen Community umhören. Obwohl die Anstetters da nicht wirklich verkehrten. Seine Frau hin und wieder, aber so richtig eng befreundet waren die mit keinem.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Gut, hier ist meine Karte, rufen Sie mich bitte an, sobald Sie mit Ihren Landsleuten gesprochen haben«, sagte Caulfield und stand auf. Die anderen taten es ihr nach, Mos-berg verabschiedete sich und winkte ihnen im Weggehen noch einmal zu.

»Versicherungen«, sagte Bolko. »Das oder Gebrauchtwagen, war irgendwie klar. Siehst du, Gwen, auch in Deutschland gibt es solche Typen. Und viel schlimmer gekleidet als eure Variante.«

Gwen boxte ihn in die Seite und schob ihn Richtung Ausgang.

*

Kiran und Saunders stiegen aus dem Wagen und betrachteten das Firmengebäude der Wind-Labs. Wie zu erwarten war das Ganze eine Lektion in futuristischer Architektur. Rechteckige Blöcke waren in verschiedenen Winkeln ineinandergeschoben worden und bildeten eine Art aufgeplatzten Riesenwürfel, der auf der Rückseite in eine halbrunde, längliche Halle überging. Das musste der Windkanal sein. Die gesamte Anlage war auf einen künstlichen Hügel gesetzt worden, sodass man aus den Büros in die Ferne und auf die Universitätsstadt Cambridge blickte.

Im Gebäude dominierten Metall, Stein und Holz, die Möbel waren leuchtend orange und eher im Design der Sechzigerjahre gehalten. Kiran gefielen die Kombination und das offene, lichtdurchflutete Prinzip. Umso erstaunter war er dann, als ihnen ein eher mürrischer Mann in einem schlecht sitzenden Hemd gegenübertrat und sich als Hornby, CEO von Wind-Labs, vorstellte. Er nickte Kiran zu und übersah Saunders’ ausgestreckte Hand, dann ging er ihnen voraus in sein Büro, wo er Platz nahm und sie anblickte.

»Ich habe fünfzehn Minuten, Gentlemen, mehr geht nicht. Also müssen wir uns beeilen.«

»Mehr wird auch nicht nötig sein, es geht um nichts Wichtiges«, antwortete Saun-ders, während er sich hinsetzte. Hornbys Mundwinkel zuckten verärgert, offenbar kam Sarkasmus bei ihm genauso wenig an wie jegliche andere Form mangelnden Respekts.

»Mr. Hornby, ich komme vom Bundeskriminalamt und ermittle zusammen mit meinem Kollegen Saunders vom NCA«, begann Kiran. »Wir wüssten gerne, wie es Rolf Anstetter so ergangen ist in den letzten Wochen vor seinem Tod. Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Ich wüsste nicht, wie. Anstetter war ein sehr guter Entwickler. Er hat sauber und korrekt gearbeitet, war verlässlich. Sein Tod ist ein Verlust für uns.« Hornby verzog be-dauernd den Mund, die Augen blieben kalt. Die Bedeutung der Worte verschwand, bevor der Satz verklungen war.

»Hat Herr Anstetter nichts verlauten lassen in der Firma? Probleme oder Komplikationen in einem Projekt?«

»Es gab keine Probleme. Und wenn, könnte ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Wir entwickeln zukunftsweisende Modellformen, von der Idee bis hin zur fertigen Lösung, neue Werkstoffe, Patente. Das alles für Auftraggeber von Industrie bis hin zum Militär. Unser Datenmaterial ist so sensibel wie unsere Kunden. Beides übersteigt Ihre Besoldungsgruppe, würde ich sagen.«

»Und das lief alles perfekt? Keine Probleme, die Herrn Anstetter belastet haben könnten?«, fragte Kiran.

»Habe ich eben gesagt. Anstetter war sehr belastbar und arbeitete gut. Sehr professionell. Konnte man auch erwarten, da er von Airbus und Porsche kam. Seine Projekte bleiben jetzt erst mal liegen. Sehr ärgerlich, das alles.«

»Vor allem für ihn«, erwiderte Saunders in immer noch neutralem Tonfall. »Wir müssen nur sichergehen, dass wir alle Informationen über Herrn Anstetter zusammentragen, um uns ein komplettes Bild zu machen, Mr. Hornby.«

»Das sollten Sie jetzt haben. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, unsere Zeit ist abgelaufen, ich habe noch ein Meeting. Meine Sekretärin wird Sie hinausbegleiten.« Hornby stand auf.

»Ihre Sekretärin wird das Meeting verschieben, Mr. Hornby. Wir sind noch nicht fertig, also setzen Sie sich wieder hin.« Saunders klang keineswegs bedrohlich, sondern völlig ruhig. Das wirkte auf Hornby direkter als jede amtliche Autorität, wie Kiran belustigt feststellte.

»Wie bitte? Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie …«

»Wir wissen, dass Ihre Firma ein ernsthaftes Problem hat, Mr. Hornby«, unterbrach Kiran in ebenso entspanntem Tonfall. »Laut unseren Kollegen von der Wirtschaftsabteilung mussten Sie unlängst aus einem Pitch-Verfahren aussteigen, bei dem es um Forschungssubventionen für ein komplett elektrisches Sportwagenmodell ging.«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Nun, wenn wir feststellen sollten, dass Rolf Anstetter, der, wie Sie sagten, von der Firma Porsche zu Ihnen gestoßen ist und von daher mit Sicherheit Leiter dieses Projekts war, aus irgendeinem Grund unter Druck gesetzt worden ist und das mit seinem Tod zu tun hat, dann geht uns das sehr wohl etwas an«, antwortete Saunders.

Hornby schwieg und schien sich zu sammeln. »Wir haben dem Konsortium ein Forschungsmodell präsentiert und den Pitch verloren. Das ist für uns nicht akzeptabel, aber auch nichts Ungewöhnliches«, kam es ungnädig von der anderen Seite des Schreib-tischs.

Kiran beugte sich vor und setzte nach. Das Briefing von Jane Wyman war umfassend gewesen, sie hatten noch mehr Munition. »Mr. Hornby, ist es nicht so, dass Ihr Kontrahent ein einfacheres Modell präsentiert hat, das inhaltlich aber gleichwertig und vom Arbeitsaufwand her weitaus günstiger war als das von Ihrer Firma?«

»Was? Woher …«

»Unsere Leute sind der Meinung, dass ein solcher Gegenentwurf nur möglich ist, wenn die Konkurrenz an Informationen aus Ihrem Haus gekommen ist. Und jetzt fragen wir uns, ob Sie Rolf Anstetter dafür verantwortlich gemacht haben«, ergänzte Saunders, dem die Sache ganz offensichtlich Spaß zu machen begann.

»Natürlich habe ich ihn verantwortlich gemacht. Niemand weiß, wie das möglich war, Anstetter hatte auch keine Ahnung. War mir egal, es konnte einfach nicht sein. So was ist hier noch nie passiert. Und dann ausgerechnet einem Deutschen! Ihr seid doch sonst so akribisch. Ist vielleicht wirklich an der Zeit, dass wir wieder englisch werden«, erwiderte Hornby patzig in Kirans Richtung. Der konterte umgehend.

»Anstetter stand unter enormem Stress, psychisch und unter Umständen auch physisch. Wir wissen, dass man ihn in dieser Firma unter Druck gesetzt hat. Und Sie wollen mir erzählen, das alles hatte keine Bedeutung hinsichtlich seines Todes? Ihnen ist doch klar, dass wir hier mit einem ganzen Team aus der Wirtschafts- und der IT-Abteilung anrücken, wenn Sie uns weiterhin einen derartigen Blödsinn erzählen?«

Hornby starrte Kiran mit offenem Mund an. Schließlich fing er sich. Er sprach leise und angespannt. Auch sein innerer Druck war wohl immens. »Im Netzwerk der Branchenkenner wird gemunkelt, dass es eine Informationspreisgabe gegen Geld gegeben hat, aber niemand weiß, wer daran beteiligt war. Wir haben unser gesamtes internes System überprüft, aber kein Team-Mitglied konnte überführt werden. Das gesamte Netzwerk, alle Computer, alle Handys, alles gecheckt. Und niemand hat Zugang zu Daten von außerhalb, haben wir alles überprüft, es gab keine Datenspur nach draußen, nichts. Irgendwas musste ich aber tun, also stand Anstetter als Teamleiter am Ende im alleinigen Fokus der Ermittlungen. Nach dem endgültigen Verlust des Pitchs haben wir ihn vorübergehend von der Arbeit beurlaubt.«

»Was hat er auf die Anschuldigungen erwidert?«

»Sie abgestritten, was sonst? Und ich hätte ihm das auch gerne geglaubt.«

»Aber?«

»Er war anders. Seine Arbeit hat ihm sehr viel bedeutet, er hatte nie irgendwas darauf kommen lassen. Aber etwas hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat sich zwar gegen unsere Vermutungen gewehrt, aber er wirkte nicht überzeugend.«

»Und warum sollte er Ihrer Meinung nach dann Ihr Vertrauen missbraucht haben?«

»Keine Ahnung, warum machen Leute so was? Weil sie Geld brauchen, weil sie unter Druck stehen.«

»Und das war bei Anstetter der Fall?«

»Nicht finanziell, kann ich mir nicht vorstellen, sein Gehalt war astronomisch. Es war was anderes. Er war mental am Ende. Nicht mehr belastbar. Vielleicht hat er deshalb einen Fehler gemacht. Aber was hilft das, passiert ist passiert.«

»Richtig. Und jetzt ist er tot«, fügte Saunders an und stand auf. »Wir melden uns, sobald wir weitere Fragen haben.«

»Ich habe Ihnen alles …«

»Auf Wiedersehen, Mr. Hornby.« Saunders ging zur Bürotür, dann drehte er sich noch einmal um und deutete mit dem Zeigefinger auf den Mann.

»Sie sollten sich warm anziehen. Ob Ihre Firma vielleicht immer noch ein Leck hat oder Sie einfach nur ein mieser Chef sind, etwas hier drin stinkt, Mr. Hornby, und noch ist es kein Leichengeruch. Irgendwann wird sich herumsprechen, wie Sie mit Ihren Leuten umgehen, und dann wird es schwer sein, Spezialisten zu finden. Vor allem, wenn die Verbindungen zum Kontinent gekappt werden. Und dann sind Sie und Ihr Laden bald vielleicht nicht mehr die erste Wahl an den Futtertrögen. Schönen Tag.«

Auf dem Parkplatz steckte sich Saunders eine Zigarette an und grinste Kiran entschuldigend an.

»Sorry, ich musste mal meinen Brexit-Frust loswerden. Da kommt mir ein Fatzke wie der gerade recht. Gehen wir ein Bier trinken?«

Sie fuhren in die Innenstadt von Cambridge. Die kleinen und gemütlich aussehenden Backsteinhäuser und die bunten, belebten Einkaufsstraßen schufen jene Atmosphäre des gemütlichen Beieinanders, die Kiran an diesem Land so mochte. Ein Stadtleben, das sich nicht einer Moderne beugte, sondern immer lebendig und natürlich sein würde, bestimmt von Vielfalt, nicht von seelenlosen Fassaden grosser Einkaufsketten. Wie in Holland auch – und in Deutschland nur noch auf dem Land – hatte ein Ortskern hier eine Bedeutung.

Der Pub, in dem sie schließlich landeten, trug den passenden Namen The Last Resort. John Lennon sang wie durch eine Nebelwand Free as a Bird. Der Geruch von gepflegtem altem Holz, Bier und Pub-Food, gemischt mit dieser Beatles-Reminiszenz, versetzte Kiran zurück in seine Kindheit, als das Leben im alten Frankfurt noch in der alten Einkaufsstraße pulsiert hatte.

»Wunderschönes Lied, auch wenn die Fab-Four im Original nie so abgemischt waren«, meinte Kiran schließlich.

»Stimmt«, sagte Saunders. »Das hier ist von Jeff Lynne produziert, Mr. ELO. Und Spezi von George Harrison. Der Sound ist Beatles in den Neunzigern. Ein bisschen zu clean, aber trotzdem wunderschön, gerade der Backgroundgesang. Die Eingefleischten hassen es, aber ich hab’s schön gefunden, dass noch mal eine Nummer rauskam.«

Kiran nickte beifällig. »Respekt. Aber als Engländer bist du ja quasi verpflichtet, ein Beatles-Experte zu sein. Mein Vater hat die Jungs in Hamburg live gesehen.«

Saunders trank einen Schluck und legte den Kopf schief. »Es ist schon verrückt. Wir reden hier seit mehr als zwei Jahren von nichts anderem als davon, wie böse die andere Seite ist, dass uns alle am Zeug flicken und in den Abgrund stoßen wollen, und kaum einer merkt, dass wir alle zusammengehören, alle Europäer sind.«

»Du meinst Typen wie den Boss von Wind-Labs«, sagte Kiran.

Saunders nickte. »Wahrscheinlich denkt er, dass die Kunden dann per Order der Regierung automatisch bei ihm antanzen. Abgesehen von Empire-Zombies und Rassisten ist das die einzige Gruppe, die von diesem Schwachsinn zu profitieren glaubt.«

»Du siehst das offensichtlich anders.«

»Davon kannst du ausgehen. Die EU ist ein bescheuerter Haufen Bürokraten und realitätsferner Erbsenzähler. Aber Europa muss zusammenstehen, egal wie. Vielleicht mal ohne all diese dämlichen Reglementierungen, aber auch ohne egoistische Rosinenpickerei von Großtuern wie uns. Wir brauchen einander. Gerade jetzt, wo in den USA ein Irrer am Ruder ist.«

»Amen«, sagte Kiran und meinte es auch so. Saunders war aber noch nicht fertig.

»Andauernd schlagen sich alle nur die Köpfe ein, vor allem hier. Und das Schlimmste ist, keiner hat recht, keiner hat eine wirklich gute Idee. Alles, was die Leute umtreibt, ist Negativität, Frust, Antipathie und Hass. Ich bin’s so was von müde …« Saun-ders schüttelte den Kopf und leerte sein Pint, um das Glas sogleich in Richtung Zapfhahn hochzuhalten.

»Das sind wohl viele bei euch. Und doch ist die Diskussion sehr einseitig«, meinte Kiran. »Was mich wundert, ist nicht so sehr, wie es so weit kommen konnte, das weiß ja inzwischen jeder. Aber warum akzeptiert ein ganzes Volk eine so rückständige Idee? Versteh mich nicht falsch, viele Kritikpunkte an Europa sind vollkommen richtig, und das sehen viele in Deutschland nicht anders. Aber von außen ändert man nichts, im Gegenteil. Wieso erkennen das so wenige?«

»Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, ich denke wie du. Warum wir Briten das so sehen, ist einfach. Für uns war alles jenseits des Kanals immer der Kontinent, nicht wir, nicht die Insel. Ausland. Bis zum Weltkrieg waren alle jenseits der Grenze eine andere Menschenform für uns und damit automatisch weniger wert, nicht glaubwürdig, unterlegen, suspekt, nicht vom Empire kommend und damit unterentwickelt oder einfach nur qualitativ schlecht – in einem Wort: Ausländer. Das ist in unseren Genen eingebrannt, hat sich während der EU-Zeit auch nicht grundlegend geändert und ist jetzt mit dieser verfluchten Volksabstimmung wieder durchgebrochen.«

»Und nicht zu Unrecht«, kam es von der Seite.

Sie blickten sich um. Neben ihnen stand ein alter bärbeißiger Typ, gedrungen, mit rötlichem Gesicht und Pranken statt Händen, aber glasklaren Augen.

»Ich bin kein EU-Freund, ich habe für den Brexit gestimmt. Und wisst ihr wieso?«

Sie schüttelten die Köpfe.

»Weil wir nichts mehr in der Hand haben. Weil wir von der Politik vernichtet werden. Kein Mittelstand, keine ehrliche Arbeit, nichts mehr, nur noch Supermärkte. Und alles wird von Brüssel und den Amis gelenkt. Und wisst ihr, was sich jetzt ändern wird?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Nichts, gar nichts wird sich ändern, weil unsere Politiker hier genau solche Abzocker sind. Aber wir können wieder denen in den Arsch treten, die den Mist anrichten. Diese Adresse kennen wir, und wir können da hinlaufen, zu den Reichen an der Themse unten. Zumindest haben wir das geglaubt.«

»Und?«, fragte Kiran, »jetzt nicht mehr?«

»Ja und nein. Ja, diese EU ist schlecht. Sie unterjocht alle Länder, vernichtet das Handwerk, weil sie alles reglementiert und alles an riesige Konzerne verscherbelt. Sie vernichtet alle, Bauern, Fischer, Handwerker, alle, die ihr Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen.«

»Aber das macht eure Regierung hier doch genauso. Und unsere auch«, warf Kiran ein.

»Na klar. Die werden alle von Lobbyisten bezahlt und gesteuert. Aber wie sollen wir gegen so was von hier aus angehen in Europa? Wenn wir hier die Schnauze voll haben, stürmen wir die Downing Street und der Premierminister wird geteert und gefedert. Mit wem sollen wir das denn jenseits vom Kanal machen?«

»Ich dachte, die Sache ist eher Angst vor Überfremdung und Massen von Einwanderern?«, fragte Kiran.

»Klar! Ist sie auch!«, rief der Mann und ließ die Faust auf den Tresen krachen. »Was habt ihr, Pints? Eine Runde!« Er setzte sich auf den freien Hocker und streckte die Pranke aus und schüttelte Kiran und Saunders die Hand.

»Trevor. Du bist ein Kraut? Hab ich nicht gehört, klingst mehr wie ein Yankee. Nichts für ungut. England muss raus aus der EU. Nicht weil es sinnvoll ist oder unsere Jungs ein Mami-Problem haben mit eurer Chefin in Berlin. Sondern weil wir das so entschieden haben.« Er blickte in Kirans fragendes Gesicht, Saunders nickte nur still in sein Bier.

Trevor grinste und ließ eine Reihe unregelmäßiger Zähne in unterschiedlichen Verwesungsstadien aufblitzen. »Wir haben schon einen Haufen dämlicher Fehlentscheidungen getroffen. Und uns den Arsch wegdiskutiert. Aber wenn die Marschrichtung vorgegeben war, dann war das so, und wir haben es durchgezogen. So ist das immer gelaufen in England, so läuft es heute. Ich sage euch, viele wollen gar nicht mehr raus aus der EU. Aber sie gehen, weil das so entschieden wurde.«

»Und genau das ist doch der Schwachsinn«, sagte Saunders. »Ich meine, wenn wir in unserer britischen Mentalität jahrhundertelang so gedacht haben, gut und schön. Aber man kann doch mal lernen, sich ändern, modernisieren. Mit diesem Herdentrieb rennen wir alle ins Unglück. Egal, wie beschissen eine globalisierte EU ist, aber die Alternative heißt Depression. England fährt doch an die Wand, so wie das gerade läuft.«

»Ja, genau das heißt es. Und vielleicht muss es so weit kommen, damit sich was ändert.« Trevor leerte das noch halb volle Pint in einem langen Zug.

»Die Geschichte lehrt uns, dass einer Depression zumeist Krieg folgt. Erst stirbt die Wirtschaft, dann frisst der Hunger die Ethik auf, es fließt Blut, das Land greift ein anderes an und reorganisiert sich über Waffenproduktion. Und der Bevölkerungsüberschuss wird an der Front abgebaut«, wandte Kiran ein.

»Kluge Worte, Jungchen. Vielleicht passiert das ja auch schon längst. Vielleicht sind die Leute, die bei euch und in Osteuropa marschieren und bei uns die Schwarzen und die Pakhis jagen, nur die Ersten, die wissen, was die Stunde geschlagen hat. Und erzählt mir bloß nicht, ihr denkt, alles sei bunt und schön auf der Multikulti-Spielwiese.«

»Ah, der eigentliche Brexit-Grund«, seufzte Saunders. »Raus mit den Immigranten.«

»Mit denen, die nichts taugen, auf jeden Fall«, sagte Trevor mit Nachdruck. »Aber wer sagt, wer das ist? Und wer sagt, dass wir das nicht schon lange haben kommen se-hen?«

Kiran nickte. »Die Folgen der Kolonialisierung.«

»Ganz genau«, sagte Saunders. »Wir Briten haben hundertfünfzig Jahre, ach was, über ein halbes Jahrtausend die Welt ausgebeutet und Kulturen zersetzt. Und zum Schluss sind wir den Yankees im Mittleren Osten hinterhergedackelt und haben das Gleiche noch mal gemacht. Erst im Iran, dann im Irak und Afghanistan. Jetzt haben wir die Migranten aus dem Commonwealth und die Isis-Kämpfer, die sich unter die Flüchtlinge aus Syrien und dem Libanon mischen. Britannia rules the waves, dass ich nicht lache.«

»Und genau deshalb machen wir dicht«, sagte Trevor. »Wir haben’s verbockt, keine Frage. Aber wir haben das Recht, den Laden dichtzumachen, wenn wir zu viel Bier für zu wenig Kohle ausgeschenkt haben.«

»Gutes Beispiel«, sagte Saunders und bestellte noch eine Runde. Trevor winkte ab, schlug ihm auf die Schulter und empfahl sich.

Kiran blickte ihm hinterher. »Vielleicht ist es tatsächlich so einfach. Das Blatt ist ausgereizt, jetzt werden die Schotten dicht gemacht. Erst Mist bauen, dann die Panik bekommen und auf den Schleudersitz drücken. Und diejenigen, die Deutschland den Deutschen oder Refugees Not Welcome skandieren, werden auch in der ausländerfreien Zone die Tabellenletzten und arbeitslos sein.«

»Exakt«, ergänzte Saunders. »Das ist der Moment der Depression, wenn Dinge wie Arbeitsdienst und Militär plötzlich wieder modern werden. Lassen wir das einfach und bereden den Fall.«

»Ich fürchte, das tun wir schon die ganze Zeit«, sagte Kiran.

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