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ОглавлениеKiran rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her.
Sie saßen im Büro von Castlemere, der sich als genauso humorvoll wie eloquent herausstellte. Saunders saß entspannt daneben und versuchte, ernst zu bleiben. Was die Sache für ihn und Kiran ausnehmend verkomplizierte, war Detective Chief Inspector Jane Wyman.
Schwarze Locken umrundeten ein klassisch geschnittenes Gesicht, das Kiran irgendwie an eine Mischung aus der jungen Liz Taylor und Audrey Hepburn erinnerte. Ihre grün leuchtenden Augen schienen ihn zu durchbohren, obwohl ihre Miene konzentriert und neutral wirkte. Die Botschaft war jedoch klar. Nicht gut für die Konzentration.
Er riss sich zusammen, machte eine geistige Entspannungsübung, während er sich Lord John Castlemere zuwandte, der den Fall noch einmal durchgegangen war.
»So viel also zu den bisherigen Fakten. Aus Deutschland werden wir wohl so schnell nichts bekommen, oder was meinen Sie?«
»Müssen wir sehen, ich kann ja am Ende dieses Meetings anrufen. Wissen wir inzwischen etwas mehr über die Opfer als nur Beruf und Angehörige?«
Das war das Stichwort. Jane Wyman lächelte, wandte ihm ihr wundervolles Profil zu und startete die Bildfolge aus ihrer Recherche per Fernbedienung.
»Gut, beginnen wir mit dem jüngsten Opfer, Rolf Anstetter. Leitender Ingenieur bei Wind-Labs Flug- und Fahrzeugentwicklung. Das Labor ist europaweit führend im Design der nächsten Generationen von Außenhüllen, wie gesagt für Flugzeuge und hochpreisige Autos. Teilweise machen sie auch Sachen für das Militär, aber da nichts Ultrageheimes, obwohl sie das oft und gerne behaupten. Anstetter selbst kommt von Airbus und hat davor bei Porsche gearbeitet.«
Wyman hielt inne, dann fuhr sie mit einer entschuldigenden Geste fort: »Laut Fachkreisen im englischen Teil des Internets ist Anstetter ein typisch deutsch ausgebildeter und arbeitender, erfahrener, sehr angesehener und daher hoch gehandelter Forschungs- und Entwicklungsingenieur.«
Kiran nahm den Satz mit einem entspannten Lächeln zur Kenntnis, das ihm einen verwirrenden Augenaufschlag einbrachte. Die beiden anderen dachten sich schmunzelnd ihren Teil, während Kiran auf den Monitor deutete, um beim Thema zu bleiben.
»Bolko und Caulfield befragen ja die Witwe, aber Sie haben sicher etwas über den Privatmann Anstetter im Netz gefunden?«
»Klar. Der war nebenbei tatsächlich Leistungssportler. Auf Facebook sind die meis-ten seiner Sportfotos auf public geschaltet, er war wohl sehr stolz drauf. Oder es war Teil seines Außenbilds. Er ist in diesen Natur-Triathlons mitgefahren. Entsetzlich durchtrainiert. Es gibt Bilder aus aller Welt, wo er rennt, schwimmt und mit dem Moun-tainbike durch Canyons fährt, wo immer ein Stück Natur durchquert werden kann.«
»Mit seiner Frau?«
»Im Sport eher nicht. Vielleicht hat sie ja gefilmt, aber sonst taucht sie nur mit den Kindern auf Urlaubsfotos auf.«
»Aber einen Infarkt aus gesundheitlichen Gründen können wir dann ja wohl wirklich ausschließen«, sagte Saunders.
Castlemere nickte. »Eben. Auch bei trainierten Athleten kann ein unentdeckter Herzfehler auftreten, aber dann hätte der Leichenschneider etwas finden müssen. Und eine zugeführte Substanz wurde zunächst mal ausgeschlossen, im Bericht steht, dass alle gängigen Tests negativ waren. Und genau das ist der Widerspruch. Der Mann ist fit, hat keinen Herzfehler und kriegt aus heiterem Himmel die Mutter aller Infarkte. Wie geht das, wenn nicht durch Einwirkung von außen?«
Kiran nickte. »Es ist unmöglich, nach allen Giften oder Drogen beziehungsweise den Metaboliten davon zu suchen. Ich nehme mal an, Kramer wurde, wenn überhaupt, auch nur nach den üblichen Verdächtigen untersucht.«
»Exakt«, antwortete Wyman. »Letztendlich ist es wohl schneller, wenn wir in den Ermittlungen herausfinden, was diese Infarkte ausgelöst hat. Opfer Nummer zwei, Stefan Kramer, 32 Jahre alt, ledig, Halbwaise, die Mutter lebt in Münster, Westfalen. Vor seinem Tod im Dezember letzten Jahres Analyst bei McPherson & Fudge, der ersten Investmentbank und Finanzberatungsfirma am Platze. Das wäre das Economy Plaza in St. James. Die Kunden sind ausnahmslos von der obersten Ebene des Speckstreifens, House of Lords, Millionäre, Unternehmer, russische Oligarchen. Die Firma ist eine der alteingesessensten, zugleich aber hochmodern im Innern. Kramer hat in Oxford studiert und wurde direkt von der Uni rekrutiert. Er war der Jahrgangsbeste in Wirtschaftsinformatik, und genau das war seine Kunst.«
»Sie hatten gesagt, er war so eine Art Star in der Investmentszene?«, fragte Saunders an Castlemere gewandt.
»Allerdings. Er hat in der Uni eine Software entwickelt und dann bei McPherson fertiggestellt, die aus Live-Datenströmen, also Marktzahlen und Kapitalmarktbewegungen, Tendenzen errechnet hat. Der Clou aber war, dass die Maschine Nachrichten, sowohl Tickernews als auch jegliche Form audiovisueller Kommunikation, analysiert und sie mit diesen Finanzdaten abgeglichen hat. Darauf basierend hat das Ding sogar Pressemeldungen gewichtet und bewertet. Also nicht nur Prognosen erstellt, sondern knallhart analysiert, ob ein CEO Bullshit erzählt oder nicht. Das Ergebnis war eine Art Finanzorakel. Sie haben es lange geheim und sehr vorsichtig benutzt, half aber nichts. In den letzten zwei Jahren hat McPherson das Unternehmenskapital verdreifacht und irgendwann hat sich eben herumgesprochen, woran das lag. Sie wurden zu Propheten. Manche sagen, die Maschine hätte sogar den Brexit vorausgesehen.«
»Ich erinnere mich. Das Ende kam ziemlich abrupt. Irgendwas mit Insiderhandel?«, fragte Kiran.
»Schwachsinn, wenn Sie mich fragen. Ein solches Tool braucht keine Insiderdaten. Und selbst wenn würde ein Genie, das so etwas entwirft, niemals einen so dämlichen Fehler begehen. Trotzdem hat man sich auf Kramer gestürzt. Er hat das Ding ja programmiert.«
»Und das lief, wie immer in England, mit der Präzision eines Scharfrichters und der Geschwindigkeit eines Standgerichts«, flocht Wyman ein, bevor Castlemere weiters-prechen konnte. Sie klickte durch die Schlagzeilen der Regenbogen- und der normalen Presse. »Es fängt am 2. Dezember an: Zuerst die Sensation in Form einer als Frage formulierten Anklage, dann nacheinander den akademischen Hintergrund zerstört, saftige Details von Neidern und Verleumdern aus dem College. Dann haben sie das Privatleben auseinandergenommen, Sex- und Drogen-Eskapaden in seinem Nachtleben, das zugegebenermaßen beeindruckend war. Am Schluss stand er als eine Art exzessives Dauerhigh-Arbeitstier, Blender und Nachtclubmonster da. Und natürlich mit der üblichen Mischpoke halbseidener Kontakte. Damit war er vernichtet.«
»Gab es denn irgendeinen Beweis?«
»Keine Ahnung, die Finanzbehörde hat nicht ermittelt. Und wir auch nicht.«
»Wie bitte? Und warum nicht?«
»Ganz einfach«, antwortete Castlemere. »Niemand hat Anzeige erstattet. Kein Anleger war geschädigt worden, der Vorwurf mit Insiderinformationen nicht erwiesen. Die Software wurde öffentlichkeitswirksam eingestampft.«
»Aber sein Sprung vom Dach der Plaza geschah doch, als die Kollegen von der Wirtschaftsabteilung ihn abholen wollten«, wandte Saunders ein.
»Richtig. Die wollten ihn aber nur befragen, nicht festnehmen. Zu dem Zeitpunkt hatte Kramer ein zweiwöchiges Kesseltreiben hinter sich und war komplett fertig. Seine Kollegen sagten, er wäre herumgelaufen wie ein Zombie. Wir sind hingefahren, er sprang, das war’s. Keine Ermittlungen.«
»All das geschah vor einem Dreivierteljahr. Und alles, was diesen Tod nicht als Selbstmord aussehen lassen könnte und mit dem Tod von Anstetter verbindet, sind die Blutwerte?«
»Das und die Tatsache, dass beide Deutsche und Top-Experten waren.«
»Mehr nicht?«, fragte Kiran.
Saunders blickte unbeteiligt zu Boden. Wyman blickte Kiran direkt in die Augen, Castlemere direkt auf die Themse und schwieg ein Weilchen, bevor er sprach.
»Ich will ehrlich sein, Kiran. Es gibt an dieser Sache ein paar Aspekte, die mir nicht schmecken, mir und ein paar anderen von der NCA, der Metropolitan Police und in einigen höheren Kreisen. Ich fände es aber sehr viel besser, wenn Sie alle erst mal diese beiden Opfer und ihre näheren Todesumstände durchleuchten. Sie, Ihr Kollege Blohm, Saunders, Caulfield und Jane. Kein Wort nach draußen, keine Nebenschauplätze, nur diese beiden Opfer. Dann sehen wir weiter.«
Kiran nickte still vor sich hin. Es lag auf der Hand, was Castlemere wollte. Kein Aufsehen erregen, lautlos agieren und keine schlafenden Hunde wecken.
Die drei hätten ihm allerdings auch einfach sagen können, dass es noch mehr Fälle dieser Art gab.