Читать книгу Rayan - Im Licht der Rache - Indira Jackson - Страница 18
Ende April 2016 - Zarifa: Oberhalb des großen Tals - Ein Held aus alten Sagen
ОглавлениеCarina sah nachdenklich auf das friedlich zu ihren Füßen liegende Tal von Zarifa. Sie hatte kurz nach Sonnenaufgang den schmalen Weg am Wasserfall erklommen, und sich nahe der Stelle, an der das Wasser aus dem Fels kam, einen gemütlichen Sitzplatz auf dem Stein gesucht. Da ihr Bauch aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft schon überdeutlich gerundet war, war ihr der teilweise steile Anstieg schwer gefallen. Trotzdem hatte sie sich langsam Stück für Stück weiter voran gearbeitet. An einigen Stellen war sie über Hanifs Hilfe dankbar gewesen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seine Scheicha zu begleiten. Es war ihr nicht gelungen, ihn davon abzubringen, mit ihr zu gehen. Auch das Argument, sie wolle allein sein, um nachzudenken, hatte ihn nicht umgestimmt. Immerhin hielt er sich nun außer Sicht auf der anderen Seite des Durchgangs auf, sodass sie seine Anwesenheit kaum bemerkte – ganz wie er es ihr versprochen hatte.
Die Deutsche hatte den Weg auf sich genommen, weil sie wusste, dass der Ausblick von hier oben die Mühe wert war. Schon als sie mit Rayan zum ersten Mal diesen wunderschönen Fleck betreten hatte, hatte sie gewusst, dass er zu einer ihrer Lieblingsstellen werden würde. Friedlich fiel das Wasser, das nur zwei Meter von ihr entfernt aus dem Felsen austrat, hinab ins Tal, wo es von einem natürlichen Becken aus Stein aufgefangen wurde, bevor es den Fluss speiste, der sich mäanderförmig bis zum Ausgang des großen Tals schlängelte.
Dass ausgerechnet hier vor noch nicht allzu langer Zeit Menschen gestorben waren, und auch ein Teil der Kampfhandlungen gerade hier am hinteren Zugang zum großen Tal stattgefunden hatte, verdrängte sie energisch aus ihrem Geist. Sie weigerte sich, diesen schönen Ort durch böse Gedanken weiter negativ zu belegen. Auch in Hanifs Gesichtsausdruck hatte sie die gleiche Entschlossenheit gelesen. Für ihn mussten die Erinnerungen noch viel realer sein, da er unmittelbar am Geschehen beteiligt gewesen war. Da Rayan wusste, wie sehr seine Ehefrau an dieser Stelle hing, hatte er seine Männer um besondere Sorgfalt bei der Reinigung gebeten. Tatsächlich erinnerte nichts mehr an die vergangenen Ereignisse: Das Blut war abgewaschen, alle Patronenhülsen aufgesammelt worden. Was sich jedoch nicht verbergen ließ, war diejenige Stelle zu ihrer Linken, an der sich noch vor wenigen Wochen eine kleine Höhle befunden hatte. Diese war von zwei mutigen Tarmanen im Laufe der Auseinandersetzungen mit dem Gegner gesprengt worden. Samt der Feinde, die sie als Schlupfloch verwendet hatten, um von dort aus dem Hinterhalt ihre Stammesgenossen zu töten. Beide tarmanischen Krieger hatten dabei den Tod gefunden. Natürlich hatte man die Leichen geborgen und selbst das herabgestürzte Gestein war zum großen Teil aus dem am Talboden befindlichen Garten entfernt worden. Wo dies aufgrund der Größe nicht möglich war, hatte man die Brocken geschmackvoll in die Beete integriert. Der Talboden sah somit tadellos aus und verriet nichts mehr von den blutigen Begebenheiten. Jedoch klaffte oben am Rand der Steilwand die neu entstandene Öffnung wie eine mahnende Wunde.
Carina war schon mehrere Male wieder hier oben gewesen. Mittlerweile gelang es ihr ganz gut, sich wieder uneingeschränkt an der Schönheit der Natur zu erfreuen. Nun wollte sie hier in Ruhe ihre Gefühle erforschen. Sie wollte nachdenken über den 18. April, der das Ende der kämpferischen Auseinandersetzungen markiert und auf drastische Art und Weise die Ruhe und Gelassenheit zurück ins Tal gebracht hatte.
Entgegen aller Regeln hatte Rayan ihr nahegelegt, der Zeremonie nicht beizuwohnen. Doch Carina war klar gewesen, dass er ihr dieses Angebot nur gemacht hatte, um sie zu schonen. Als Frau des Anführers war es ihre Pflicht, dem grausigen Schauspiel beizuwohnen. Mutig hatte sie also an der Seite von Hanif und Jassim gestanden und mit aufrechter Haltung nach außen hin ihre Unterstützung ausgedrückt. Eisern hatte sie sich gezwungen, sich ihr Entsetzen ob der grausamen Szenen nicht anmerken zu lassen. Ihre Stammesbrüder dankten ihr ihre Solidarität. Auch vorher waren die Menschen aus Zarifa freundlich zu ihr gewesen und hatten die Scheicha geschätzt, sogar geliebt. Von Anfang an hatten sie sie offen empfangen. Nun jedoch den Abschluss des Kapitels aus Leid, Kummer und Blutvergießen gemeinsam zu erleben, hatte sie vollends zu einer der ihren gemacht.
Diesen positiven Aspekt führte sich die Deutsche immer wieder vor Augen, doch half es ihr wenig, die hässlichen Bilder zu vergessen. Die ersten Nächte sah sie im Traum wieder und wieder ihren Mann vor sich, wie er mit eiskaltem Blick ausholte, und den Feinden die Köpfe abschlug. Die Tatsache, dass es keineswegs Melonen waren, die daraufhin über den Stein des Versammlungsplatzes gerollt waren, sondern Teile eines Körpers, hatten ihr Innerstes zusammengekrampft. Schon mehrfach hatte sie erlebt, auf welch extreme Weise sich ihr sonst so liebevoller Ehemann mühelos und oft innerhalb Sekunden in den Anführer ohne Gnade verwandelte. Doch sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie diejenige war, die sich damit würde abfinden müssen, denn einen Mann, wie den König der Tarmanen, änderte man nicht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich inzwischen einigermaßen an die Regeln des Stammes gewöhnt. Sie verstand nun besser, warum die drastischen Strafen als notwendig erachtet wurden. Die raue Bergwelt, die das große Tal umgab und vor allem die sich weithin darum herum erstreckende Wüste, waren erbarmungslose Habitate, die keinen Fehler verziehen. Ständige Achtsamkeit war daher essentiell. Insofern hatten sich also die Tarmanen lediglich an ihre Umgebung angepasst. Carina rief sich das Bild von Rayan vor Augen, als er unmittelbar vor den Exekutionen vor sein Volk getreten war. Trotz des flauen Gefühls in ihrem Magen angesichts der unvermeidlich kommenden Brutalitäten war sie stolz auf ihn gewesen. In diesem Moment war ihr eines klar geworden: Ihr Leben würde nicht leichter werden. Auch zukünftig würde sie immer wieder aufs Neue den Drahtseilakt zwischen den beiden Gesichtern ihres Mannes meistern müssen.