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Das Coloring-Book

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Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der große Bedeutung auf die inneren Werte gelegt wurde. Das soll nun nicht heißen, dass Gefühle für Äußerlichkeiten nicht zugelassen waren, aber an erster Stelle stand bei uns das Buch, selbst dann noch, als das Fernsehen bereits versuchte, unsere inneren Werte zu beeinflussen. Lesen, so lautete die Devise, sollte uns genau den geistigen Freiraum verschaffen, der uns auf Inhalte und Ideen achten ließ, die andere Medien nur oberflächlich behandelten. Und irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, diese Tradition fortzusetzen. Bei meinen Kindern war es mir irgendwie gelungen, ihnen beizubringen, gute Kinderbücher zu erkennen und zu lieben.

Und nun ist mein Enkel an der Reihe. Ich mache mich mit Mäxchen auf den Weg in die Stadt. Die Buchhandlung quillt über von Büchern: Bücher für Erwachsene, Bücher für Jugendliche, Kochbücher und Bücher für Kinder aller Altersklassen. Mäxchen steuert, fernsehgeschädigt, sofort auf die Themenecke »Moderne Utopien und Fantastische Geschichten« zu. Ich habe Mühe, ihn in die altersgerechte Abteilung zu locken. Es gibt dort die zauberhaftesten Kinderbücher. Doch was er sich zielsicher aussucht, ist ein Riesenmalbuch, gezeichnet von Andy Warhol, dem berühmt-berüchtigten amerikanischen Künstler. Die vielen Tiere, die liebe Sonne, die zauberhaften Blumenwiesen und last but not least die vielen »nackichten« Engelchen mit fantasievollen Hüten haben es ihm angetan.

»Sieh mal«, ich gebe noch nicht auf, »wie wäre es denn mit den Geschichten von Felix oder das Dackelbuch? Und dann die schönen Märchen?«

»Nee.« Er will Andy Warhol haben.

»Na gut«, gebe ich mich geschlagen, »dann kaufen wir noch bunte Stifte dazu, und du kannst die vielen Bilder anmalen.«

Doch Mäxchen ist gegen Stifte. »Für Anmalen ist das Buch doch viiiel zu schade, ich mal nämlich immer drüber.«

»Ja, wozu brauchst du denn dann ein Buch ohne Text?«, frage ich ihn entgeistert.

»Damit du mir die Geschichten erzählst«, kommt es zurück.

Einerseits ist es hin und wieder schon ein Kreuz, wenn man mit Schreiben seine Brötchen verdienen muss, aber andererseits bin ich natürlich mächtig geschmeichelt, dass mein Enkel mehr auf meine Fantasie setzt als auf fertige Geschichten anderer Kollegen.

Als wir abends im Bett liegen, stellen wir uns das Riesen-Coloring-Book – »das is’ nämlich englisch«, sagt Max – hochkant auf den Bauch und erzählen uns gegenseitig die schönsten Geschichten über die liebe Sonne, die auf das Sweet Kid, die Calcutta Lizards und den Water Buffalo fällt. Bei der Cobra, der eine kleine Grille ein Lied auf ihrer Minigeige vorspielt, singen Mäxchen und ich gemeinsam: »Heppie börsti tuju, heppie börsti tuju …«, wegen das eben ein englisches Buch ist. Danach überlegen wir, warum ein dicker, angezogener Engel dem Kid auf dem Bauch sitzt und mit einem Palmenblatt wedelt, während dieses in einer Wiese schlummert: »Damit es keinen Sonnenbrand kriegt!«, gibt Mäxchen sich selbst die Antwort in Erinnerung an die schmerzvollen Erfahrungen der letzten Ferien am Meer. Wir lassen uns von der Markassa serpent Blumen schenken, finden, dass der Jolly goat einen Bart hat wie Felix und hoffen, dass der Alligator lizard das »nackichte« Engelchen mit Hut in seiner Schnauze nicht frisst, sondern nur mit ihm spielt. Er sieht dabei eigentlich ungemein freundlich aus. Das letzte Bild auf der Rückseite ist als einziges farbig. »Guck mal, wie hübsch«, sage ich, »Alligator lizard in Blau.« Und Mäxchen antwortet schlicht: »Der is’ besoffen. Der hat bestümmt zu viel Bier getrunken.«

Fledermäuse und andere Leute

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