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Kapitel 1

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Am liebsten hätte Marie alle Spiegel im Haus mit Tüchern verhängt, na zumindest die beiden größten: den mit dem wunderbaren Mahagonirahmen aus der Gründerzeit in ihrem Schlafzimmer, den ihr ihr vor einigen Jahren verstorbener Mann Martin – nicht aus der Gründerzeit – zum Fünfzigsten geschenkt hatte. Dieser Spiegel warf ihr seit Längerem ganz unverfroren nach dem Duschen das eigene Bild entgegen, so wie Gott sie einmal erschaffen hatte, nur leider mit mehr Bügelfalten, als ihr lieb war. Noch frecher verhielt sich der goldverzierte Spiegel aus Venedig im Treppenaufgang; denn jedes Mal, wenn Marie wie ein junges Mädchen an ihm vorbei die Stufen hinuntersprang, hörte sie ihn vorlaut raunen: „Mach mal halblang, Alte. Du bist doch keine zwanzig mehr.“ Und nun durchbrach sie auch noch in zehn Tagen die Schallmauer zum Fünfundsechzigsten. Eigentlich wollte sie sich an diesem Tage klammheimlich ans Ende der Welt verdrücken, doch Stephen, ihr Sohn, sagte energisch: „Nix da, das kannst du deinen Kindern, Enkeln und dem Rest der Verwandtschaft nicht antun. Dein Ehrentag wird groß gefeiert, mit Schampus, rotem Teppich und so …“

Und seine Frau Sophie fügte lächelnd hinzu: „Du darfst auch alle deine Freundinnen, die sich im gesamten europäischen Ausland herumtreiben, einladen.“

Tja, so ein Angebot bekam man nicht alle Tage, und es würde ihr vielleicht ein wenig über das Damoklesschwert „Fünfundsechzig“ hinweghelfen, das über ihrem Haupte schwebte, schließlich waren sie und ihre Mädels alle ungefähr im gleichen Alter und in ähnlicher Situation. Biggi, Maries beste Freundin seit dem ersten Schultag, versuchte mittlerweile ihr Haushaltsgeld durch „Bed and Breakfast“, wie es auf Neudeutsch so schön heißt, aufzupeppen, Cécile hielt sich als Malerin über Wasser, denn Kochkurse waren schon lange nicht mehr en vogue, Eleni dachte dank der miserablen wirtschaftlichen Zustände in Griechenland ernsthaft über eine Frühpensionierung nach, Franca betrieb nach einem Jahr Azubidiensten bei Malerfreund Paolo mittlerweile in Rom eine kleine Galerie und Julie lebte seit ihrer Kündigung aus „Altersgründen“ von Hartz IV. Bis auf Julie und Marie sahen sich alle anderen nur sporadisch, manchmal lagen zwei oder drei Jahre zwischen den Treffen, und es kam ihnen dann immer häufiger ein „Mensch, sind wir alt geworden!“ über die Lippen. Das musste endlich aufhören, nur hatte zurzeit noch niemand eine Ahnung wie!

Alle waren gekommen. Sozusagen toute l’Europe. Vor dem eleganten französischen Restaurant in der Kölner Innenstadt war tatsächlich ein schmaler roter Teppich vor dem Eingang ausgerollt, davor eine große Schiefertafel auf Staffelei mit „Herzlichen Glückwunsch, Marie“ und rechts und links davon kleine, mit weißen Tüchern versehene Stehtischchen. Es gab Champagner Rosé und köstliche Häppchen, neudeutsch „Fingerfood“ genannt. Jeder lag jedem im Arm, und zur Abwechslung versicherten sich die Freundinnen diesmal einhellig, dass sie doch ganz passabel in den dritten Frühling schlitterten. Nur eine sieben Jahre ältere Cousine von Marie konnte es sich nicht verkneifen, schadenfroh zu sagen: „Willkommen im Klub der Alten!“

Der Chef des Hauses, ein Freund von Stephen, geleitete die kleine Gesellschaft persönlich in einen extra reservierten Raum. Die Gäste nahmen an der zauberhaft eingedeckten langen Tafel Platz. Gestecke von weißem Flieder und Ranunkelchen verströmten einen frühlingshaften Duft. Der Anblick des Vier-Gänge-Menüs auf den künstlerisch gestalteten Speisekarten schien dem Geburtstagskind einen fröhlichen Anschub für das neue Lebensjahr zu verheißen. André, chef de cuisine, der trotz seines beachtlichen Leibesumfanges die Kunst des Umherschwebens von Gast zu Gast perfekt beherrschte, sang mit vor Begeisterung zitternder Stimme das Lob seines Menüs, wobei er immer wieder seine Fingerspitzen küsste.

„Meine Güte“, sagte Eleni spöttisch, „wenn der so weitermacht, hat er bald Blasen an den Lippen.“

„Wir wissen alle, dass du gut zu Fuß bist mit deinem Mundwerk“, zischelte Franca, „aber vermassel bloß nicht Maries Feier damit.“

Eleni grinste und mit einem „Bon appétit!“ entschwebte der begnadete Koch dann Richtung Küche. Ein geselliges Schweigen ließ sich im Raum nieder, während sich alle mit gebührender Aufmerksamkeit den Köstlichkeiten vor ihnen widmeten. Dazu gab es je nach Gang einen vollmundigen Rotwein und einen sanften Weißen, und zum Espresso, Cappuccino und Co. wurde eine gute Auswahl an Digestifs der Grande Nation gereicht. An diesem Geburtstag aß und trank Marie für ihre Ehre und die Ehre einer zukünftigen Seniorin, die sich selbst noch für jung genug hielt, um das letzte Drittel ihres Lebens mit etwas Neuem zu beginnen, was immer das auch sein würde. Und während bald alle durcheinanderschwatzten, von Platz zu Platz wechselten, um nach vielen Jahren sich mit den alten Freunden auszutauschen, legte plötzlich Stephen seinen Arm um sie: „Alles Liebe für dich, Mariechen. War doch eine gute Idee mit dem Fest.“

„Ach“, antwortete diese beschwipst, „das war der schönste Fünfundsechzigste, den ich je gefeiert habe. Und dafür danke ich dir und Sophie ganz besonders herzlich, mein Sohn.“

Lange nach Mitternacht begann man daran zu denken, allmählich heimwärts aufzubrechen. Biggi, Cécile, Eleni, Franca und Julie nahmen gemeinsam ein Maxitaxi mit Marie, denn vier von ihnen würden noch ein bis zwei Tage bei ihr wohnen, bevor sie wieder in alle Himmelsrichtungen davonflogen – außer Julie, die vor ihrem eigenen Haus abgesetzt wurde, nachdem sie versprochen hatte, am nächsten Morgen pünktlich zum Frühstück bei den anderen wieder auf der Matte zu stehen.

Als Marie ihre zahlreichen Geschenke zusammenraffte und ihr immer wieder irgendetwas zu Boden fiel, rief sie in gespielter Verzweiflung: „Himmel, wo ist der Kavalier, der meine Sachen zum Taxi trägt?!“

Da sagte ihre bereits früher erwähnte, sieben Jahre ältere Cousine spitz: „Merke, ab fünfundsechzig trägt dir kein männliches Wesen mehr auch nur irgendetwas irgendwo hin, geschweige denn zum nur drei Schritt entfernten Taxi.“

Die Lavendelgang Gesamtausgabe

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