Читать книгу Am Ende der Sehnsucht - Ingeborg Arvola - Страница 11

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Hatte Korell Angst? frage ich Andreas. Weinte sie im Schlaf, drückte sie ihr Kissen? Vermißte sie ihre Mutter? Andreas zuckt mit den Schultern, lächelt sein Lächeln, erzählt mir etwas anderes, vielleicht ein Märchen, rückt eine Schale Karamelbonbons in die Nähe meiner Finger. Denn Andreas erinnert sich nicht. Erinnert sich an nichts anderes als an die Lehrerinnen aus der Zeit, als er dreizehn war und in die siebte Klasse ging. Die Zeit, als Nikos mit solcher Eile davonzog, daß Korell im Sog mitgerissen wurde. Zog sie los, um nach ihrer Mutter zu suchen? frage ich. Andreas weiß es nicht. Die Umwälzungen bedeuteten für ihn nicht so viel. Die Träume bedeuteten alles. Die Träume von den Lehrerinnen. Die meisten Träume handelten von der Handarbeitslehrerin. Sie bekam ihn dazu, daß er vor den schiefen Blicken der Kameraden aus dem Werkunterricht den Kopf einzog, wenn er den Mädchen in den Handarbeitsraum nachschlich. Ihr BH-Träger, seufzt Andreas, und fängt mit einem absurden Märchen von Heldinnen und Drachen an. Der eine BH-Träger glitt immer über die Schulter. Immer der linke. Sie fuhr mit der Hand unter den Blusenkragen, die Finger fischten nach dem Träger und schoben ihn an seinen Platz. Helfen und trösten. Andreas könnte sterben für den Blusenkragen.

»Heißt die Heldin Korell?« frage ich. Esse Karamelbonbons. »Verschwand sie, um die Drachen wegzujagen?«

»Korell?« antwortet Andreas schwebend. Erinnert sich vage, welche Gläser sie zerbrach. »Nein, die Heldin heißt nicht Korell. Sie heißt ›Kleiner Schwan‹ und ist eine ruhmreiche Drachentöterin mit einer silbernen Rüstung.«

Wäre Andreas nicht vollauf mit den Lehrerinnen, den Träumen und den gesäumten Nähten beschäftigt gewesen, hätte er mitbekommen, daß sein Verhalten auf die Jungen anstößig wirkte, bei den Mädchen aber enormes Interesse weckte. Ein Grund für seine offenkundige Überlegenheit im Nähen war im Tuscheln der Mädchen zu finden, den bezaubernden Blicken, die begeistert über ihn herfielen, und im Ausmaß der Liebesbriefchen, die nach dem Ende der Stunde zusammengeknüllt im Papierkorb landeten.

Andreas selbst fühlte sich morgens leer und verschwendete nie einen Gedanken an die Mädchen oder an Korell. Korell verbrachte unzählige Stunden vor dem lebensgroßen Spiegel auf dem Flur, einem zu erwartenden Busen und Schamhaaren auf der Spur. Andreas sieht keinen Grund, mir das zu erzählen. Sie nackt zu sehen ließ Andreas nicht im mindesten ins Träumen geraten.

»Du findest mich schön«, sagte Korell, als beide den kräftigen Körper vorm Spiegel studierten.

»Nein«, antwortete Andreas, und er vermißte diese Zeit vor dem Spiegel nicht, als sie vorbei war.

Er hatte zu der Zeit einen einzigen Kummer, und das war Maris gewissenhaftes Auftreten als Elternteil. Auch wenn ihre Gedanken ständig um Korell und die Suche nach ihr kreisten, die wieder Gott weiß wo war, war Mari gerührt und froh, wenn die Lehrerinnen sie mit Lob und trockenem Gebäck überhäuften. Andreas war ein solch vorzüglicher junger Mann, wie sie immer wieder betonten. Hätte Andreas nicht solche Angst gehabt, daß diese Frauen sich zusammentun würden, um sein Liebesleben zu enthüllen, hätte ihn die Anrede junger Mann gleichermaßen stolz und selbstbewußt wie übermütig gemacht. Aber er zitterte ein bißchen und bereute alle Blicke, alle Träume. Eines Tages war er kurz davor, ohnmächtig zu werden. Und während er in einer Wolke schwebte und beinahe seine träumende Liebe zu Haß umwandelte, und als er dachte, sein Atem wäre viel zu schwach, um ihn noch länger auf dem Stuhl zu halten, rettete ihn Maris geistesabwesendes Nicken. Sie lächelte und war so dankbar für diesen Sohn, der so ausgezeichnet war und sie jetzt mit seinen tiefen, ehrlichen Augen anstarrte.

»Ich bin so stolz auf dich, Andreas«, beeilte sie sich zu sagen, »du kannst unmöglich begreifen, wie viel mir das bedeutet.«

Und die Lehrerinnen nickten teilnahmsvoll und verständig, denn alle hatten sie von der verschwundenen Tochter gehört: weggelaufen? Vergewaltigt? Oder ermordet?

Im Grunde war es nicht schwierig, dachte Andreas am Abend, während die letzten Reste von Reue und Qual von der Zugluft, die durch die Fensterritzen blies, weggeweht wurden. Dann nannte Mari ihn ihren Sohn. Und als Maris Sohn schlief Andreas ein, und mit seinem neuen Wissen träumte er sich weiter in die Mieder der Lehrerinnen hinein. Die Pubertät hielt ihn fest in ihren Klauen und weihte Andreas ein in ein Leben voll wilder Lügen und feuchter Träume, gesäumt von klebrigen Socken, die gestapelt unten in den Tiefen der Schmutzwäschetonne oder in kommunalen Abfalltonnen endeten.

»Kannst du nicht besser auf deine Socken aufpassen?« rief Mari unglücklich wegen der dauernden Kosten, die die verschwundenen Socken verursachten.

»Hat Korell mich vergessen?« frage ich Andreas. »Kommt sie zurück? Muß ich zuerst den Drachen fangen? Hat der sie gefressen?«

»Dich vergessen?« Andreas schüttelt den Kopf. »Sie liebt dich, meine liebe Kleine. Alle lieben dich, ›Kleiner Schwan‹«, sagt Andreas und tätschelt mir den Kopf. Er war immer schnell dabei mit der Lüge.

Am Ende der Sehnsucht

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