Читать книгу Am Ende der Sehnsucht - Ingeborg Arvola - Страница 13
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ОглавлениеIch glaubte, wir würden nach Hause fahren. Endlich würde ich nach Hause kommen. Ich glaubte, vor uns läge das Korellhaus. Ein Ort, genauso schön wie in meinen Träumen. Ich sah es vor mir, während wir rannten, und jedesmal, wenn ich die Augen hob zu Korell oder auf den Weg vor uns, erwartete ich, es zu sehen. Vielleicht schon hinter der nächsten Kurve.
Das Korellhaus, träumte ich. Ein ganz altes, steinernes Haus, mit Fensterbögen und einem geschwungenen Dach, den Keller voller alter Schätze. Skelette zum Trocknen aufgehängt in Schränken, die in den letzten hundert Jahren niemand mehr geöffnet hat. Das Korellhaus ist furchteinflößend mit geheimen Gängen ohne Anfang und Ende. Und wunderbar! Gefüllt bis an den Rand mit jeder Menge Mütter. Sie sitzen gemütlich in den Sesseln und schauen aus den hohen Fenstern. Ihre weichen Finger mit den Ringen betasten behutsam die schweren Vorhangstoffe. So muß das sein, denke ich.
Aber in den Träumen stehe ich draußen davor. Ich sitze auf der Steintreppe vor der Tür im warmen Wind, nippe am Saft, mit dem Korell immer kommt. Die Tür ist aus breiten, alten Bohlen gemacht und kann Rammböcken und Brecheisen widerstehen. Sie hat eine einfache Klinke. Kein Schlüsselloch, keine Schlüssel. Weder Türklingel noch Türklopfer. Die Tür läßt sich nur öffnen, wenn man ein geheimes Wort flüstert. Das Wort erfährt nur der, der es stark genug zu wissen wünscht. Wenn es mir gelingt, einen Wunsch zu finden, der stark genug ist, wird Korell es mir sagen. Dann werden wir beide am Rand des Gartens stehen, zum Haus hinaufschauen, mit Sonne im Haar werden wir die Köpfe ein wenig senken, und ich werde hingerissen seufzen wegen der Farben des Fensterglases. Im Haus gibt es nur buntes Glas, Bildmosaike in gelben, roten und blauen Mustern. Korell wird das Haar zurückstreichen, sich mit biegsamem Rücken mir zuneigen und wie ein Vogel am Wassersaum auf einem Bein balancieren. Ich werde ihre Nase an meiner Wange spüren und ihre Stimme im Ohr hören. Dann wird sie mir das Geheimwort zuflüstern. Das ist ein Wort, das ich beinahe von allein hätte erraten können.
Die Mütter stehen hinter den Gardinen und schauen hinaus, sehen uns in der Sonne hinter dem Zaun. Eine von ihnen wird überrascht ausrufen, sogleich wird ihr eine Hand auf den Mund gelegt. Rasche Worte werden gewechselt, Schranktüren geöffnet, denn jetzt kommen sie, wird jemand sagen, während hastig Weißbrotscheiben bestrichen und hinausgestellt werden, und das Tischtuch, groß und weiß wie ein ganzer Winter, wird energisch geschüttelt. Ein glänzender Krug mit Saft. Wenn ich will, kann ich eine Wolldecke nehmen und ein Loch zwischen den Tischbeinen graben. Dort kann ich einschlummern, nicht erwachen, bis jemand über meinem Kopf ein Lied singt.
Die breite Tür ist der Rücken zur Steintreppe, uralt und konserviert von Sonne und Salz. Der Wind, der immer ums Korellhaus weht, singt im Takt mit der See, bringt gleichzeitig eine dünne Schicht Salz zur Treppe. Wenn der Saft zu süß geworden ist, leckt man einfach einmal mit der Zunge über die Lippen.
Ich sitze mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Steintreppe, die Arme fest darum geschlungen. Die Stufen sind von all den Füßen und Schuhen, die darübergetrottet sind, glattgeschliffen, von den trampelnden Absätzen der Stiefeletten, dem Stolpern über Schnürsenkel, die niemand geknotet hat.
Ich weiß nicht, wo das Korellhaus ist, glaube aber, daß wir dorthin sollen. Ich denke, Korell saß auf genau der Steintreppe, als ich so groß war wie eine Erbse und mit Fingern wie Kaulquappenschwänze von innen gegen sie stieß. Deshalb kenne ich die Treppe und den Wind, obwohl ich noch nie hier gewesen bin. Ich träume weiter vom zurückhaltenden Brummen der Fliegen über Blüten, vom Wind, der bläst und bläst, warm. Ich träume. Wir laufen. Auch wenn ich erledigt bin und meine Beine lahm, stelle ich keine Fragen. Ich bin erfüllt von einem großen, glänzenden: Endlich da. Auf dieses hier habe ich mein Leben lang gewartet. Denke nicht daran, daß es ein kurzes Leben ist, das sich irren kann. Später, wenn ich nicht mehr kann, fliegt Korell mit mir. Sie schlägt mit den Flügeln, die von grauen und roten Federn bedeckt sind. Ich phantasiere erschöpft, und Korell hält mich. Zusammen mit meiner Mutter schwebe ich glücklich über einem Abgrund. So ist Korell, und ich kann in Ruhe fabulieren. Solange ihre Klauen mich festhalten, solange sie sich nicht entscheiden loszulassen. Ich hege keinen Zweifel, daß sie loslassen können. Durch die Wolken, die Kälte, das Gleiten. Weiter hinunter in den Abgrund, über den Abhang, und zurück in mein Bett unter dem Fenster. Dann gackere ich glücklich, auch wenn mir der Mund von dem langen Laufschritt weh tut. Wird sie meiner überdrüssig, läßt sie mich gehen. Weine ich, wird sie meiner überdrüssig. Ist sie meiner erst überdrüssig, werde ich sie nie wiedersehen. Ich lache aufrichtig. Korell fliegt weiter Richtung Finnmark. Das wird eine lange Reise. Tagsüber fliegen wir, laufen wir. In den Nächten zerbrechen wir Herzen.
Der erste Mann wohnt ganz oben an einer Treppe. Ich bin so erschöpft, daß ich gehorsam in einem dunklen Zimmer hinter einer Tür einschlafe. Der Mann sah froh aus. Es gelingt mir zu hören, wie er liebe liebe liebe murmelt, ehe ich einschlafe.
Als ich aufwache, ist es immer noch dunkel. Etwas stimmt nicht. Als ich endlich Mut gefaßt habe und aus der Tür geschlüpft bin, erhasche ich noch einen Blick auf Korells Schal die Treppe hinab. Ich schreie nicht. Stürze nur hinter ihr her, ohne Kleider, klammere mich an das Ende des Schals, als hätte Seide die Kraft eines Ankers.
»Oh, Kleines.« Korell schüttelt die Haare und den Kopf und faßt sich an den Mund.
Ich kann sie nicht ansehen. Die Angst nimmt immer noch zu. Natürlich war da etwas im Schwange, das nicht stimmte. Ich begreife, was beinahe passiert wäre, und danke einer klammen Hand ums Herz, daß ich rechtzeitig aufgewacht bin. Ich höre Korells Atem. Am allerliebsten will ich in ihren Armen liegen, wenn wir weiterfliegen, aber mein Kopf wendet sich mit steifem Nacken ab. Ich höre sie sagen, sie habe mich vergessen, während meine Augen trocken auf das Fenster neben der schmutzigen Treppe starren. Das ist ein bleigefaßtes Fenster. Das Korellhaus hat solche Fenster. Aber dieses ist häßlich. Kaputt und schmutzig.
»Das sollst du nicht«, fauche ich und schlage zu.
Korell schreckt zusammen, und ihr Körper umfaßt mich. Er wiegt mich. Ich spüre Küsse in dem steifen Nacken. Ich spüre, daß es ohne Kleider kalt ist. Gemeinsam schlüpfen wir hinein und erobern meine Kleider zurück. Ich habe immer noch Probleme mit den Augen. Die wollen nicht sehen, was ich mache. Sie wollen Korell nicht sehen, sehen nur das schmutzige bunte Fenster. Korell zieht mich mit flinken Fingern an. Rasch sind wir draußen im Dunklen und verschwinden eine Straße entlang. Ich spüre, daß die Dunkelheit riesig ist, aber wir sind zu zweit, und ich spüre den Magen, der sagt, er sei hungrig.
»Laß uns etwas zu essen finden«, flüstert Korell.
Sie ist erleichtert, von dem Haus mit der Treppe und dem Mann weg zu sein. Sie liest meine Gedanken, denke ich froh, sie liest wirklich Gedanken. Korell sagt, sie wird mich nicht wieder vergessen. Sie wirft das Haar zurück, meine Augen fangen wieder an zu sehen. Sehen, wie phantastisch sie ist. Korell sagt, wenn wir jeden Tag zusammengewesen wären, würde sie mich nie vergessen haben. Ich nicke. Ich bekomme einen Ring. Der ist von dem Mann, flüstert Korell und lacht so lange, daß ihre Füße zu tanzen anfangen. Ich werde angesteckt. Lache mit.
Ich erinnere mich eigentlich nicht an die einzelnen Männer. Ich erinnere mich nur an die Menge. Nach der ersten Nacht habe ich Angst, einzuschlafen. Ich nehme die schlechte Angewohnheit an, mich an Korell festzuhalten. Die ganze Zeit. Da schüttelt sie sich los. Ist immer stärker. Ich versuche es trotzdem. Halte fest. Nur wenn sie mich im Dunkel hinlegt und ich schlafen soll, biegt sie meine Finger nicht auf. Sie streichelt mich leicht, ich bekomme ihren Seidenschal zum Trost und als Pfand. Akzeptiere ihn und lasse sie widerwillig los. Korell kann so leicht verschwinden. Ich glaube, Korell taucht ihre Federn in das Herzblut der Männer, während ich im Dunkel hinter einer Tür liege. Das ängstigt mich. Ich fange an, sie nachzuzählen. Die Hand über meiner Die Ringe. Die Haut unter dem Hemd. Das Haar und den Kopf. Den Kopf und den Schal. Dünn. Den Rücken hinunter. Gelegentlich den anderen Arm. Beide Beine. Den ganzen Körper. Ganz Korell. Gar nicht häßlich oder schrecklich, denke ich. Sage, ich habe das Fenster vergessen. Das war kein Glasfenster. Konnte es nicht sein, denn buntes Glas ist schön, das gibt es nur im Korellhaus. Ich zähle und überprüfe, und mir fehlt nur ein Notizblock, von außen billiges Blau, innen kleine Daten. Der Stift, mit dem ich kritzeln könnte, schaut aus der Tasche heraus. Alles, was ich benötige, um eine Korell festzuhalten. Sie läßt sich nichts anmerken, wenn ich an einer ihrer roten Federn zupfe, um zu sehen, ob die Farbe echt ist. Der Seidenschal leistet mir nachts Gesellschaft. Ich nuckele die Ecke naß. Echter Schal aus echter Seide. Ich bekomme ihn, um zu schlafen. Das kann ich nicht, auch nicht mit der nassen Seide zwischen den Fingern. Meine großen Augen bringen Korell dazu, den Kopf zu schütteln, ehe sie diese Türen zwischen den Männern und mir schließt. Ich höre Musik und Lachen. Streichhölzer werden angezündet, Flaschen gluckern. Ich seufze erleichtert, nicht draußen zu sein. Denn ich bin nicht draußen. Der Mann ist es, der draußen ist. Ich schlafe nicht ein. Er tut das. Natürlich. Das eine oder andere Mal schläft er ein mit Rotweinblasen in den Mundwinkeln und Flecken von Asche auf den Hosenbeinen. Ich bin wach und warte, könnte ruhig einschlafen, denn nach dem ersten Mann taucht Korell immer auf. Sie packt mich, küßt mich, trägt mich ein Stück. Hält mich. Wenn wir so gehen, kann das unmöglich gefährlich sein. Sie grinst breit. Ihre Zähne glänzen im Dunkel.
»So ein Dummkopf«, keucht sie und setzt mich ab.
Da merke ich, daß er mausetot ist, keinen Pfifferling wert, ein Oberidiot. Das Herz herausgerissen wie die Innereien eines alten Weckers, aus dem Hemd baumelnd, an einer Spiralfeder schwingend, Freude, selige Freude. Ich merke noch die Feuchtigkeit über der Haut von den hastigen Küssen. Meine Wangen pochen.
»Ja«, sage ich, »ja. Dummkopf«, sage ich.
Und lache. Wir lachen. Vielleicht fallen wir um, es ist immer noch dunkel. So lachen wir nur noch ausgelassener. Denn wir sprengen Herzen mit Pulver und gehen weiter in die Nacht. Nach Norden.
Sie sitzen in Nachtclubs, Cafés, unter Büschen. Liegen in Betten oder Häusern mit gebeugten Knien in einem feuchten Treppenhaus, Versagen im Nacken unter dem Kopf, der schläft. Sie bleiben übrig, wenn wir weiterziehen. Korell ist hier. Ihre Hand über meiner. Die Ringe. Die Haut unter dem Hemd. Den Arm hinauf. Das Haar und der Kopf. Der Kopf und der Schal. Dünn. Den Rücken hinunter. Gelegentlich der andere Arm. Beide Beine. Der ganze Körper. Der ganze Körper und das Gesicht. Die Augen und alles. Komplett. Die Männer sind es, die zurückgelassen werden. Wir ziehen weiter. Ich bekomme unverdiente Küsse. Korell benutzt die Ausflüge auf dunklen Straßen, um mit meiner Mutter zu verschmelzen. Sie liegen nicht länger in Schichten. Sie sind eher wie zwei Füße in zwei Schuhen. Eine an meiner Seite und eine in Reserve. Hin und wieder kann ich das sehen, wenn Korell mir Wärme in die Augen bläst und mich ansieht. Korells Hände sind braun, als ob sie aus dem Wald käme. Eine Hand formt sie zur Schale, die sie mit Wärme von den Augen füllt und über meinen Kopf gießt, damit ich nicht friere, wenn es bald kalt wird. Wir gehen weiter. Schritt für Schritt. Korell, meine Mutter, gehen die Füße. Korell, meine Mutter, Korell, meine Mutter, im Takt mit dem Körper. Nordwärts.
Vielleicht war ich nicht ganz schuldlos daran, daß es ging, wie es ging. Ich verschlang sie mit Haut und Haaren. Spürte die Unruhe lange, ehe wir zu den Orten mit schneebedeckten Hügeln kamen. Ich machte nichts. Ich hielt sie nur fest. Korell ist nicht so: nicht gewöhnliche Treue oder Hände, die klammern. Ich wußte es, glaubte aber, die Wärme ihrer Augen sei bodenlos wie ein guter Brunnen. Ich klammerte und klammerte. Bekam nie genug von ihr, von ihren Händen. Ich fragte, ob ein Jahr vergangen war? Korell sagte, daß der Schnee noch nicht verschwunden wäre. Kurz. Spitz. Und Dummkopf, das war ich, die nicht spürte, was sie meinte. Ich spürte weder den Schnee noch die Unruhe. Ich sank ein bißchen zusammen und versteckte mich hinter ihrem Rücken. Es sollte kein Schnee kommen. Die weißen Flecken erschreckten mich. Beim Korellhaus war doch Sommer. Korell. Wie gut, daß ich Korell hatte, dachte ich. Wir hatten lange nicht mehr gelacht, und ich suchte den Weg zurück zu den Träumen vom Korellhaus. Beschwor sie herauf. Sie lagen hinter dem Schnee. Nur wer sich getraute, die verhexten kalten Schneeflächen zu überqueren, konnte das Korellhaus finden. Auf der anderen Seite, unter dem Schnee und hinter einem Gebirge, lag der Ort, wo das Korellhaus wuchs. Dorthin sollten wir. Wenn wir nur durch den Schnee kommen. Wenn ich nur durch den Schnee komme, dachte ich und zählte kontrollierend: Ihre Hand über meiner. Die Ringe. Die Haut unter dem Hemd. Der Rücken. Beide Beine. Das Haar. Die Hände.
Reino heißt der Mann, der ein Auto hat. Er fegt Schnee und kratzt Eis. Wir betrachten ihn. Korell betrachtet ihn. Ich friere. Klappere mit den Zähnen und habe Angst, ihr könnten Flügel wachsen, sie könnte davonfliegen. Ich hatte die Augen so lange auf ihren Rücken geheftet, mir scheint schon, ich sähe Flügel. Ich überlege, ob mein Herz mit einer Spiralfeder befestigt ist. Ich weiß, sie wird weggehen, hinüber zu ihm. Immer ist es Korell, die weggeht zu den Männern. Ich glaube, Reino ist noch ein weiterer Mann. Ich weiß noch nicht, daß es dieses Mal anders ist. Vielleicht denke ich nicht klar, denn ich friere, und der Mann hat ein Auto. Ich denke an das Dach des Autos, das Korell daran hindern würde, von mir zu verschwinden. Ich denke an das Autoradio. Und ein Radio, das in einer Küche steht, wo jemand Plätzchen backt und die Fenster voller grüner Pflanzen stehen, die nur in jedem zehnten Jahr blühen, wenn die Nase nach Osten weist und ein Hahn kräht, ehe der Schatten der Sonne die Uhr an der Wand trifft. Langweilige grüne Pflanzen, sagte ich damals und fummelte an den Radioknöpfen herum. Ich hatte ein Bild von einer Sonnenblume, so groß und schlank und gelb. Sonnenblumen, sagte ich, und eine Stimme antwortete, bitte schön, willst du eine Sonnenblume haben? Kannst du sie am Leben halten? Maris Stimme. Ich glaube nicht, daß ich eine Sonnenblume am Leben halten kann. Bekomme Lust zu weinen. Friere.
Korell schüttelt ihre Hand los und rennt über den Platz zu dem eiskratzenden Mann. Ich bekomme etwas in den Hals, der Wind weht in ihrem Haar. Das flattert, und ich bin nicht sicher, ob es Haare sind oder Flügel. Laufe trotzdem nicht. Stehe fröstelnd und sehe, wie Haare wieder zu Haaren werden. Der Hügel ist kreideweiß. Meine Kleider sind gegen die kalte Farbe armselig. Sie sind zu dünn, zu schmutzig, zu wenige. Es kribbelt in den Fingern. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Winter ohne bessere Kleider, warme Wolle, eine Mütze oder zwei überstehen kann. Über die nackten Flächen auf dem Kopf haben sich Lagen von Frost gelegt. Hier ist nichts. Nur Wind und Schnee. Irgendwelche großen Gebäude, die nicht wie Häuser aussehen. Wie wissen wir, wo die Straße von hier wegführt, denke ich. Wenn es in allen Richtungen weiß ist. Korell ist bei dem Mann angekommen. Er unterbricht sich in der Bewegung und schaut verstohlen hinüber zu Korell.
»Neiden?« sagt Korell. Sieht den Mann beschwörend an. Weiß nicht, wie sie fragen soll, um die richtige Antwort zu bekommen.
»Wollt ihr nach Neiden?« fragt Reino.
»Ja«, versucht Korell.
»Wollt ihr mitgenommen werden?«
»Fährst du vielleicht dahin?«
Reino sagt, er sei Schneeräumer in Neiden. Wir können einsteigen. Korell winkt mir. Lächelt, als sie mich in die Wärme des Autos schiebt. Ich darf meinen Kopf an ihren Körper lehnen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Schlafe fast, höre munteres Murmeln. Spüre, daß Korell weiß, wo wir in dieser Eisöde hinsollen. Sie nennt den Namen eines Hofs. Ich hebe den Kopf, um zu fragen, lasse ihn aber zurücksinken. Schlafe schon tief.
Korell will mich nicht halten, schiebt aber meinen Kopf nicht weg. Er darf bei ihr liegenbleiben. Ich träume. Wir sitzen auf der breiten Steintreppe, von der Sonne gewärmt. Sogar Schmetterlinge, ruft Korell. Sie lacht so, wie wir in den Straßengräben gelacht haben, den Kehlkopf dem Horizont zugewandt, Die braunen Hände reichen mir ein Glas Saft. Ich habe einen Löffel und schlürfe die dicke Zuckerschicht. Der Schmetterling singt wie ein Vogel, flötet Melodien, die der Wind weit davonträgt. Korell schüttelt mich. Die Treppe schmilzt unter uns und wird zu Sitzen, von braunen Bezügen bedeckt. Der Löffel ist aus gelbem Plastik und ähnelt einem Eiskratzer. Ich hebe ihn fragend zu Korell hoch.
»Hallo, ›Kleiner Schwan‹«, sagt sie. »Jetzt sind wir da.«
Reino ist schon aus dem Auto ausgestiegen, und Korell müht sich mit der Tür.
»Wo ist die Sonne geblieben?« frage ich.
»Quatsch«, antwortet Korell und verschwindet hinaus.
Reino ist ein großer Mann, aber als er neben Korell die Treppe zum Haus hochgeht, schwankt er. Vom Korell-Anschauen sind die Augen groß geworden. Dummkopf, denke ich. Denn mir fällt ein, daß ich es war, die geschlafen hat. Ich steige aus und sehe das Haus an. Es ist weiß und liegt zusammen mit einigen Wirtschaftsgebäuden ganz einsam da. Es erinnert an einen Hof, mit Scheune und geparktem Schlitten. In der Ferne kann ich noch so ein Haus mit seinen Scheunen sehen. Ein Bauernhof, denke ich und überlege, was Korell damit meinte, wir seien da. Ist dies das Haus des Mannes? Soll er hier schlafen, damit wir weiterziehen können? Hat Korell daran gedacht, wie weit zu gehen es von hier aus sein mag? Selbst das nächste Haus ist ja nur gerade eben noch zu sehen. Unendlich weit. Sollen wir sein Auto nehmen, frage ich mich. Ein Pferd ist auf mich zugekommen. Es prustet in meine Richtung, seine Mähne steht ab.
»Hast du etwas Feines?« fragt es.
»Nein«, antworte ich und sehe mich um.
»Es gibt nicht so viele, die mit mir reden wollen«, sagt das Pferd nach einer Pause. Die Augen sind groß und gutmütig. Es sieht stark aus. Auf der Nase wachsen Haare.
»Weil die Haare auf deinem Kopf abstehen?« frage ich. »Nicht alle finden, daß das schön aussieht.« Ich strecke probeweise eine Hand aus.
»Hast du wirklich nichts Feines?« Die großen Augen blinzeln. In ihnen sind Sterne. Ich schüttele den Kopf. »Drinnen gibt es Waffeln.« Das Pferd schüttelt seine struppige Mähne und schaut auf die Tür, durch die Korell verschwand. Plötzlich werde ich unruhig.
»Ich muß rein«, erkläre ich. Ich glaube nicht, daß Pferde ins Haus kommen dürfen.
»Könntest du. Nachher. Vielleicht eine Waffel?« Mitten durch die behaarten Nüstern bläst das Pferd mir seinen Atem ins Gesicht. Verblüfft bleibe ich stehen und spüre ihm nach. Das ist gut. Ich blase versuchsweise zurück und höre, wie das Pferd leise und zärtlich hinter mir her wiehert, als ich die Treppe hinauflaufe.