Читать книгу Am Ende der Sehnsucht - Ingeborg Arvola - Страница 9
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ОглавлениеIch habe nie mit meiner Mutter zusammengelebt. Vielleicht, weil Korell auch nie mit ihrer zusammenlebte. Als Korells Mutter einen Sohn in die Welt gesetzt hatte und dreizehn Monate später die kleine Korell, hatte sie das Ihre getan, und deshalb ging sie. Sie stammte aus Island und war voll vom Gesang des Meeres, ihre Augen waren von Lava bedeckt, und sie mußte nach Hause, um sie in den unzähligen Quellen dort anzufeuchten. Ich weiß nicht, warum sie die Kinder nicht mit sich nahm. Vielleicht weil sich herausstellte, daß der Mann, der sagte, er liebe sie, der sagte, er würde sie heiraten, schon verheiratet war, verheiratet mit nicht weniger als fünf Kindern. Er war allein nach Norwegen gekommen, um viel Geld zu verdienen und als Millionär zurückzukehren. Vielleicht ist es für isländische Frauen besonders unerträglich, verlassen zu werden – jedenfalls ging sie vorher, und das ist das letzte, was ich von ihr gehört habe. Ich glaube, es ist auch das letzte, was Korell weiß. Korell bekam von der Frau nicht mehr als ihren Namen, aber sie ist nie wie ich gewesen, sie hat nie in der Vergangenheit nach einer Antwort gesucht. Korell läßt die Fragen liegen, wo sie entstehen und macht alleine weiter.
Ihr Vater, auf dem Papier ein griechischer »Gastarbeiter«, saß wieder mit zwei kleinen Kindern da. Zu Hause erwartete ihn eine haßerfüllte Frau, die von seinem Verrat wußte und vor Gott und den Frauen schwor, ihn nie auch nur wieder anzuschauen. Vom Vater hat Korell die unverschämt großen Augen. Ich erkenne sie von den Fotos wieder, die in einem alten Umschlag ganz hinten im ältesten Fotoalbum liegen. Er ist der Mann, dessen Augen schwarz wurden von dem Wunsch, alles wieder gut werden zu lassen. Nikos wünschte nichts mehr, als wieder nach Hause zu kommen, aber er blieb in Norwegen. Bis zum letzten Bild. Mit ihm in der Mitte und den Kindern zu beiden Seiten, Andreas dreizehn und Korell fast zwölf Jahre alt. Er sieht nicht alt aus, gerade mal dreißig, würde ich schätzen, wenn ich es nicht besser wüßte. Die Fotos hat Mari gemacht, die Frau, die mit Nikos und seinen zwei Kindern zusammenlebte.
Sie war es, die all die Bilder machte und sie nachher weggepackt hat. Mari war da, ausnahmslos an jedem Tag von Nikos’ verhängnisvollem, norwegischem Leben. Sie schmierte seinen Kindern die Schulbrote, liebte sie für alles, was sie waren und was ihr Vater nur selten einmal merkte. Mari war ein Opfer der Liebe. Sie konnte nicht anders, sie liebte Nikos.
Wenn du sie damals gesehen hättest, würdest du nicht geglaubt haben, daß sie die Stärke besaß, eine hoffnungslose Liebe zu wählen; so schmal, so zartgliedrig, mit elfenartigen Fingern, von denen Korell mir einmal erzählte, daß sie unsichtbar würden, wenn sie richtig unglücklich war. Mari mag Korell erschreckt haben mit ihren offenen, starken Gefühlen, denn in ihren eigenen Gefühlen fand Korell, wenn sie sie freiließ, nur Angst vor der Einsamkeit. So hielt sie die Gefühle straff, daß sie nur auf Befehle gehorchten, sie schritt neue Wege für sie ab. Stark war Korell nur für sich allein.
Mari erzählte den zwei Kindern oft: Wenn sie nach einem Tag, an dem sie traurig gewesen waren, genau hinschauten, würden sie sehen, wie es Pfirsiche vom Himmel regnete. Mir erzählte sie die gleichen Märchen, und mir war so, als hätte sie sie früher schon erzählt, denn sie flossen so leicht, so überzeugend, und wenn ich mich an sie erinnere, verspüre ich Wehmut. Ich sehe Korell vor mir, als sie klein war, als sie Menschen noch Zugang zu ihren Gefühlen gewährte und merkte, wie weh das tat, und sogar Maris Geschichten fehlte die Kraft zu mehr, als Korells Gemüt zu beruhigen. Ich selbst wurde butterweich, wenn Mari mich auf ihrem kleinen Schoß schaukelte. Ich weinte an den traurigen Stellen und lachte glücklich, wenn alles gut ausging. Ich tat Mari unrecht, das wußte ich wohl, wenn ich annahm, daß diese Geschichten noch besser wären, wenn Korell sie erzählt hätte, und noch schöner, wenn es ihr Schoß wäre, auf dem ich sitzen würde.
Mari war Nikos gegenüber loyal bis zuletzt, und ich habe sie nie ein böses Wort über ihn sagen hören. Alle Wut, die sie je auf ihn oder andere hatte, richtete sie auf die isländische Frau.
»Wenn ich mir vorstellen würde, mit jemandem mal ein ernstes Wörtchen zu reden, dann mit dieser Hexe«, konnte sie sagen, wenn Nikos mehrere Tage lang verschwunden war. »Wenn jemand alles Pech der Welt verdient, dann deine treulose Großmutter«, sagte sie, als ich wieder einmal über Korell, die mich verlassen hatte, weinte. »Hängen sollte sie«, murmelte sie, als es bei mir mit Schule und Freunden völlig schieflief. Als sich Island und Norwegen in irgendeiner Fischereifrage unnachgiebig gegenüberstanden, war sie sicher, daß dieses gerissene Frauenzimmer dahintersteckte, natürlich mit einem ironischen Lächeln.
Mari liebte den undankbaren Nikos in der Zeit, die sie von ihm zugestanden bekam. Eines Tages gab er dem brennenden Wunsch, nach Kreta zurückzugehen, nach, und ließ alles da, was er nicht in einer Hand halten konnte. Als Mari seinen Brief fand, der den Stand der Dinge gleichsam erklären sollte, vergoß sie, knapp dreißig Jahre alt, bittere Tränen. Dann verbrannte sie den Brief und mit ihm alle Fragen. Ihre Enttäuschung fegte sie beiseite mit schlichten Formeln wie: »Hast du meine Brille gesehen, Korell? Ich brauche sie, wenn ich euch das Buch zu Ende vorlesen soll. Habt ihr meinen Geldbeutel gesehen, Kinder, einer von euch müßte gerade mal Süßigkeiten vom Kiosk holen.« Nicht eine Sekunde kam ihr der Gedanke, sie könne Andreas und Korell verlassen. Mari gestand Nikos alles zu, damit er nur die Sehnsucht stillen konnte, die auf den Fotografien in seinen Augen lag.
Trotz Maris standhaftem Festhalten an den Trivialitäten des Alltags entging es Korell nicht, daß sie von Vater und Mutter verlassen worden war, und das, noch ehe sie die Menstruation oder einen Busen bekommen hatte, noch ehe sie überhaupt daran gedacht hatte – wie alle jungen Mädchen es irgendwann tun –, von ihren schrecklichen Eltern wegzulaufen. Nicht lange nach Nikos’ Bußfahrt in sein anderes Leben fischte sie Maris Geld aus der Brieftasche, polierte ihr kindliches Aussehen mit Baumwolle in einem zu großen BH und ungleichmäßigen Kajalstrichen um die Augen heraus, schaute sich lange und gründlich im Spiegel an, ehe sie hinauslief in das prickelnde, wimmelnde Nachtleben, von dem sie nicht mehr wußte, als das, was man sich zu Hause darüber erzählte. Schon so sehr Korell, daß sie sich nicht damit aufhielt, die Haustür vorsichtig hinter sich zu schließen. Sie warf sie siegessicher zu, lief die Treppe hinunter und weg war sie. Da war sie nicht älter als zwölf Jahre. Trotz umfassender Suchaktionen und Nachforschungen vergingen sechs Jahre, ehe Mari Korell wiedersah. An dem Tag, an dem sie mit mir auf dem Arm erschien.
Zielstrebig stapfte sie die Straße entlang, barfuß und ganz selbstverständlich, niemand würde geglaubt haben, daß sie noch nie zuvor hier gewesen war. In ihrer Haltung lag etwas Majestätisches, das offene Haar wirkte in der Sonnenglut zu warm, ein kleines Baby saugte an einer der bloßen Brüste, ein paar kaputte Sandalen trug sie in der anderen Hand. Keiner der Vorbeifahrenden hielt sie für eine schlampige Aussteigerin. Sie fuhren vorsichtiger, drehten den Kopf nach ihr um und zwinkerten der jungen Frau mit Kind und in den Nacken geworfenem Kopf zu, der Frau die eher den Sonnenstrahlen als den Straßennamen folgte.
Mari hatte in der Zwischenzeit geheiratet. Der Mann hieß Karl-Edvart und war ein vielbeschäftigter Geschäftsmann. Auch wenn er das Leben mit förmlichen Treffen und doppelten Martinis, das er sich, geschieden und kinderlos, angewöhnt hatte, weiterhin lebte, war er doch nicht so beschäftigt, um Mari nicht noch ein Kind zu schenken. Ein kleiner Sohn, der mit großen Augen im Kies der Auffahrt spielte, als die fremde Frau direkt auf ihn zuschritt. Der Anblick hatte ihn erschreckt. Korell ist so, sie erschreckt alle Kinder, bis auf mich, und Jon-Edvart war erst vier Jahre alt, und weder der warme Tag noch die farbenfrohen Stiefmütterchen, nichts wirkte sicher, als die fremde Frau auf ihn zukam. Er ließ den Spielzeugspaten mitten in dem kleinen Kiesturm liegen und rannte um die Hausecke, dorthin, wo er die Mutter vermutete.
»Mama«, heulte er und klammerte sich an ihre Beine.
Maris helles Haar war aus dem Gummiband gerutscht, als sie in dem kleinen Gemüsegarten gehockt hatte. Sie war über Dreißig, sah aber mit dem dünnen Flachshaar jünger aus als Korell. Die Hände im Haar, erhob sie sich und schaute zu dem jungen Mädchen, das auf sie zukam. Als Korell direkt vor ihr stehenblieb, schauten sie sich schweigend an, überwältigt von der Wärme, die sie in einander weckten.
»Du hättest euch sehen sollen, Liebes. Ich selbst habe geglaubt, es wäre ein Traum, ich würde wegen der Hitze phantasieren, ich sollte hineingehen und ein Glas Wasser trinken, etwas suchen, um den Kopf damit zu bedecken, ehe ich wieder hinausging. Korell stand mit einem kleinen Lächeln da und grub die Zehen in die Erde, als ob sie dort Feuchtigkeit finden und sie aufsaugen könnte. Sie achtete nicht auf ihre nackten Brüste, achtete kaum auf dich, das kleine Baby, das längst zu saugen aufgehört hatte und in der Wärme tief schlief, während ihr sonnengebräunter Arm, der dich hielt, so sicher wirkte. Und während ich so dastand, mein Atem zitterte und mir langsam klarwurde, daß ihr tatsächlich dort standet, legte sie dich graziös in unserem schönsten Blumenbeet ab. Du weißt, das mitten im Garten, mit den Steinen ringsum. Und sie lächelte strahlend, als sie den letzten Schritt tat und die Arme um mich schlang, während du friedlich zwischen den Blumen schliefst.«
So war das, als Korell mich zum ersten Mal verließ. Mit einer graziösen Bewegung, mit farbenfrohen Blumen und der Brust, die sie vergessen hatte, wieder in die Kleider einzuknöpfen. Selbstverständlich blieb sie ein paar Tage. Vielleicht hatte sie tatsächlich daran gedacht zu bleiben, das Haus und den Garten zu einem Ort zu machen, wo sie leben konnte, aber es gelang ihr nicht. Korell bringt Dinge aus dem Gleichgewicht. Sie lockte in Karl-Edvart ein klopfendes Herz hervor, Erinnerungen in Mari, einen beschützenden großen Bruder in Andreas und einen erschrockenen Ausdruck auf Jon-Edvarts sonst so glücklichem Gesicht.
Man fragte sie nach dem Vater, wo sie wohnte, wo sie arbeitete und was aus ihr werden sollte. Aber Korell vermied alltägliche Fragen auf der Jagd nach etwas anderem, und eines Morgens war sie fort. Ich, die ich bis dahin das meiste verschlafen hatte, begann mit meiner ungewöhnlich heiseren Stimme zu trauern.
»Das zu hören tat weh«, erzählte Mari. »Du hast mich an eine verletzte Krähe erinnert, und egal, was wir taten, du hast mit den Augen und deinen winzigen Fingern immer nur weiter fieberhaft nach ihr gesucht.«