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Konfrontation mit dem Tod: Persönlicher Wandel

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Einige unserer größten Werke der Literatur haben die positiven Wirkungen, die eine nahe Begegnung mit dem Tod auf einen Menschen hatte, dargestellt.

Tolstois Krieg und Frieden liefert uns eine ausgezeichnete Illustration davon, wie der Tod einen radikalen persönlichen Wandel initiieren kann.14 Pierre, der Protagonist, fühlt sich von dem bedeutungslosen, leeren Leben der russischen Aristokratie abgestumpft. Als verlorene Seele stolpert er durch die ersten neunhundert Seiten des Romans und sucht nach irgendeinem Sinn des Lebens. Es kommt zum Höhepunkt des Buches, als Pierre von Napoleons Truppen gefangen genommen und zum Tod durch Erschießen verurteilt wird. Er steht mit sechs anderen in einer Reihe, er beobachtet die Exekution der fünf Männer vor ihm und bereitet sich daraufvor zu sterben – erst im letzten Augenblick wird er unerwarteterweise begnadigt. Die Erfahrung verwandelt Pierre, der dann während der letzten dreihundert Seiten des Romans sein Leben begeistert und zweckvoll lebt. Er begibt sich voll in die Beziehung zu anderen, ist sich seiner natürlichen Umgebung voll bewusst, entdeckt eine Aufgabe im Leben, die Bedeutung für ihn hat, und widmet sich ihr.

Auch Dostojewskij wurde im Alter von neunundzwanzig Jahren vor der Exekution durch ein Erschießungskommando in letzter Minute begnadigt – ein Ereignis, das sein Leben und sein Werk nachhaltig beeinflusste.

Tolstois Geschichte »Der Tod des Iwan Iljitsch« enthält eine ähnliche Botschaft.15 In Iwan Iljitsch, einem engstirnigen Bürokraten, entwickelt sich eine tödliche Krankheit, wahrscheinlich Darmkrebs, und er erleidet ungewöhnliche Schmerzen. Seine Qual dauert unvermindert an, bis Iwan Iljitsch kurz vor seinem Tode auf eine bestürzende Wahrheit stößt: er stirbt schlimm, weil er schlimm gelebt hat. In den wenigen Tagen, die ihm verbleiben, erfährt Iwan Iljitsch eine dramatische Verwandlung, die mit keinem anderen Begriff beschrieben werden kann als persönliches Wachstum. Wäre Iwan Iljitsch ein Patient, würde jeder Psychotherapeut vor Freude über den Wandel in ihm strahlen: er bezieht sich viel einfühlsamer auf andere; seine chronische Bitterkeit, Arroganz und Selbstverherrlichung verschwinden. Kurz und gut, in den letzten wenigen Tagen seines Lebens erreicht er eine weit höhere Ebene der Integration, als er sie jemals zuvor erreicht hat.

Dieses Phänomen ereignet sich häufig in der Welt des Klinikers. Beispielsweise deuten Interviews mit sechs von zehn Selbstmordwilligen, die von der Golden Gate Bridge sprangen und überlebten, darauf hin, dass diese sechs als Ergebnis ihres Sprungs in den Tod ihre Ansichten über das Leben verändert hatten.16 Einer berichtete: »Mein Lebenswille hat sich eingestellt … es gibt einen wohlwollenden Gott im Himmel, der alle Dinge im Universum durchdringt.« Ein anderer: »Wir haben alle Anteil an der Göttlichkeit – jenem großen Gott Menschlichkeit.« Ein anderer: »Ich habe jetzt einen starken Lebenswillen … mein ganzes Leben ist wiedergeboren … ich bin aus den alten Pfaden ausgebrochen … ich kann jetzt die Existenz anderer Menschen empfinden.« Ein anderer: »Ich spüre, dass ich Gott jetzt liebe und möchte etwas für andere tun.« Ein weiterer:

Ich war erfüllt von einer neuen Hoffnung und einem neuen Zweck des Lebens. Es geht über das Verständnis der meisten Menschen hinaus. Ich schätze das Wunder des Lebens – wie wenn ich einen Vogel beim Fliegen beobachte – alles ist bedeutungsvoller, wenn du nahe daran bist, es zu verlieren. Ich erlebte ein Gefühl der Einheit mit allen Dingen und des Eins-Seins mit allen Menschen. Nach meiner psychischen Wiedergeburt habe ich auch Mitgefühl für die Schmerzen von anderen. Alles war klar und hell.

Es gibt unzählige klinische Beispiele. Abraham Schmitt beschreibt im Detail eine chronisch depressive Patientin, die einen ernsthaften Selbstmordversuch unternahm und durch reinen Zufall überlebte, und er hebt die »vollständige Diskontinuität zwischen den beiden Abschnitten ihres Lebens« hervor – vor und nach ihrem Selbstmordversuch. Schmitt spricht von seinem professionellen Kontakt mit ihr nicht im Sinne einer Therapie, sondern im Sinne einer Dokumentation ihrer drastischen Lebensveränderung. Um sie zu beschreiben, verwenden ihre Freunde das Wort »pulsierend«, was so viel wie »vor Leben und Enthusiasmus sprühend« heißt. Der Therapeut stellt fest, dass sie nach ihrem Selbstmordversuch »in Kontakt mit sich selbst, ihrem Leben und ihrem Ehemann war. Ihr Leben wird nun voll gelebt und erfüllt das Leben vieler anderer. … Innerhalb eines Jahres nach dem Selbstmordversuch und dem Wandel wurde sie schwanger mit dem ersten von mehreren Kindern, die in rascher Folge geboren wurden (sie war lange unfruchtbar gewesen).«17

Russel Noyes studierte zweihundert Personen, die todesnahe Erfahrungen hatten (Autounfälle, Ertrinken, Abstürze in den Bergen u.a.), und er berichtete, dass eine ansehnliche Zahl (23 Prozent) sogar viele Jahre später beschrieb, dass sie über so etwas verfügten wie ein

starkes Empfinden für die Kürze des Lebens und seinen Wert … einen größeren Schwung im Leben, eine erhöhte Wahrnehmung der und emotionale Reaktionsfähigkeit auf die unmittelbare Umgebung … eine Fähigkeit, im Augenblick zu leben und jeden Moment zu genießen, wenn er vorbeikommt … ein größeres Bewusstsein vom Leben – ein Bewusstsein vom Leben und den lebenden Dingen und den Drang, sich ihrer jetzt zu erfreuen, bevor es zu spät ist.18

Viele von ihnen beschrieben eine »Neubewertung von Prioritäten«, und dass sie mehr Mitgefühl und mehr menschliche Orientierung hatten als zuvor.

Abdul Hussain und Seymour Tozman, Ärzte für die »Todeszellen« in einem Gefängnis, beschreiben drei Menschen in einem klinischen Fallbericht, die zum Tode verurteilt waren und in letzter Minute begnadigt wurden. Alle drei zeigten dem Autor zufolge einen tiefen Wandel ihres Persönlichkeitsstils und einen »bemerkenswerten Wandel ihrer Einstellung«, der während der folgenden Monate anhielt.19

Krebs: Konfrontation mit dem Tod. Das chinesische Piktogramm für »Krise« ist eine Kombination von zwei Symbolen: »Gefahr« und »Gelegenheit«. Während vieler Jahre war ich bei meiner Arbeit mit unheilbar kranken Krebspatienten erstaunt darüber, wie viele von ihnen ihre Krise und ihre Gefahr als eine Gelegenheit für Wandel nutzten. Sie berichten von erstaunlichen Verschiebungen, inneren Verwandlungen, die nicht anders als als »Persönlichkeitswachstum« charakterisiert werden können:

• Ein neues Arrangement der Prioritäten im Leben: eine Trivialisierung des Trivialen.

• Ein Gefühl der Befreiung: die Fähigkeit, darüber zu entscheiden, Dinge nicht zu tun, wenn sie nicht wollten.

• Ein gesteigertes Gefühl für das Leben in der unmittelbaren Gegenwart, statt das Leben bis zur Pensionierung oder einem anderen Zeitpunkt in der Zukunft zu verschieben.

• Eine lebhafte Wertschätzung der elementaren Tatsachen des Lebens: Wandel der Jahreszeiten, Wind, fallende Blätter, letztes Weihnachtsfest und so weiter.

• Tiefergehende Kommunikation mit geliebten Menschen als vor der Krise.

• Weniger zwischenmenschliche Ängste, weniger Besorgnis, zurückgewiesen zu werden, größere Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen als vor der Krise.

Senator Richard Neuberger beschrieb diese Verwandlungen kurz vor seinem Tod durch Krebs:

Ein Wandel ergriff mich, von dem ich glaube, dass er nicht wieder rückgängig zu machen ist. Fragen des Prestiges, des politischen Erfolges, des finanziellen Status’ wurden auf einmal unbedeutend. In jenen ersten Stunden, als mir bewusst wurde, dass ich Krebs hatte, dachte ich nicht an meinen Sitz im Senat, an mein Bankkonto oder an das Schicksal der freien Welt … meine Frau und ich hatten keinen Streit, seit meine Krankheit diagnostiziert wurde. Ich pflegte sie auszuschimpfen, weil sie die Zahnpasta von oben herausdrückte statt von unten her, weil sie nicht genügend für meinen sehr eigenwilligen Appetit gesorgt hatte, weil sie eine Gästeliste anfertigte, ohne mich zu befragen, weil sie zu viel für Kleider ausgab. Jetzt sind mir diese Dinge entweder nicht bewusst oder sie scheinen mir unbedeutend …

Stattdessen kam eine neue Wertschätzung von Dingen, die ich einst für selbstverständlich hielt – mit einem Freund zusammen Essen gehen, Muffets Ohren kraulen und ihrem Schnurren zuhören, die Gesellschaft meiner Frau, ein Buch oder eine Zeitschrift in dem ruhigen Lichtkegel meiner Nachttischlampe lesen, den Kühlschrank plündern: ein Glas Orangensaft oder ein Stück Kuchen. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich das Leben genieße. Schließlich werde ich mir bewusst, dass ich nicht unsterblich bin. Es schaudert mich, wenn ich an all die Gelegenheiten denke, die ich mir – selbst als ich bei bester Gesundheit war – durch falschen Stolz, künstliche Werte und eingebildete Kränkungen verdarb.20

Wie verbreitet sind positive persönliche Veränderungen nach einer Konfrontation mit dem Tod? Die Krebspatienten, die ich untersuchte, waren eine von mir selbst ausgewählte Stichprobe von psychologisch interessierten Frauen mit Krebs, die sich entschieden hatten, eine Selbsthilfegruppe für Krebspatientinnen aufzusuchen. Um die allgemeine Verbreitung dieses Phänomens zu untersuchen, entwarfen mein Kollege und ich ein Forschungsprojekt, um Patienten in einem rein medizinischen Kontext zu studieren.21 Wir entwarfen einen Fragebogen, um einige dieser persönlichen Verwandlungen zu messen, und teilten ihn nacheinander an siebzig Patienten aus, die zur Behandlung ihrer Brustkrebsmetastasen Onkologen aufsuchten. Es handelt sich um ambulante Patienten: Nur wenige von ihnen hatten physische Schmerzen oder Behinderungen. Sie alle kannten die Diagnose und wussten auch, dass sie, obwohl sie noch einige Monate oder sogar Jahre leben konnten, schließlich an ihrer Krankheit sterben würden. Ein Teil des Fragebogens bestand aus siebzehn Aussagen über Persönlichkeitswachstum, jede der Patienten wurde gebeten, auf einer Fünferskala (die von »fast nie« bis »immer« reichte) Einschätzungen für zwei Zeitperioden zu geben: »vor« dem Ausbruch des Krebses und »jetzt«.

1. Ich kommuniziere offen mit meinem Ehemann.

2. Ich schätze die Schönheit der Natur.

3. Ich habe ein Gefühl persönlicher Freiheit.

4. Ich versuche, mit meinen Kindern offen zu reden.

5. Es ist wichtig, dass mich jeder mag.

6. Ich habe viel Spaß am Leben.

7. Ich bin im Gespräch ehrlich und frei.

8. Ich tue nur die Dinge, die ich wirklich tun will.

9. Ich lebe mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit oder Zukunft.

10. Ich habe Augenblicke tiefer Gelassenheit.

11. Ich trete für meine persönlichen Rechte ein.

12. Ich habe ein Empfinden für psychisches Wohlbefinden.

13. Ich teile mich meinen Freunden offen mit.

14. Ich habe das Gefühl, dass ich anderen etwas Wertvolles über das Leben beibringen kann.

15. Ich bin in der Lage, das zu wählen, was ich tun will.

16. Mein Leben hat Sinn und Zweck.

17. Religiöser/spiritueller Glaube hat große Bedeutung für mich.

Als wir die Ergebnisse überprüften, erfuhren wir, dass die Mehrheit der Patienten keinen Wandel zwischen »vorher« und »jetzt« eingeschätzt hatten. Bei denjenigen Patienten jedoch, die über Unterschiede zwischen »vorher« und »jetzt« berichteten, gingen die Unterschiede fast einheitlich in Richtung größeren Wachstums seit des Ausbruchs des Krebses. Mehr Patienten berichteten über positive statt negative Veränderungen bei vierzehn von siebzehn Items.

Die einzigen zwei Items, die das Gegenteil anzeigten, waren Item 3 (»Ich habe ein Gefühl persönlicher Freiheit«), was wahrscheinlich, wie ich glaube, von den größeren physischen Beschränkungen beeinflusst war, unter denen die Krebspatienten litten, und Item 13 (»Ich teile mich meinen Freunden offen mit«). Die Erklärung für die gegenteilige Einschätzung bei letzterem mag in der Tatsache liegen, dass viele der Freunde der Patienten extremes Unbehagen zeigten; die Patienten fanden heraus, dass während einige enge Beziehungen gestärkt wurden, viele andere belastet waren.

In einigen der Items wurden signifikante Unterschiede deutlich: Beispielsweise berichteten achtzehn Patienten bei Item 14 (»Ich habe das Gefühl, dass ich anderen etwas Wertvolles über das Leben beibringen kann«) eine positive Veränderung, drei eine negative; bei Item 11 (»Ich trete für meine persönlichen Rechte ein«) – zwölf positive, drei negative Veränderungen; bei Item 2 (»Ich schätze die Schönheit der Natur«) – elf positive, zwei negative Veränderungen. Wer würde vermuten, dass unheilbarer Krebs die »Augenblicke tiefer Gelassenheit« (Item 10) eines Menschen vermehren würde? Und doch berichteten achtzehn Patienten von solch einem Zuwachs (im Gegensatz zu acht, die von einer negativen Veränderung berichteten). Ein anderer Teil des Fragebogens untersuchte die Veränderungen in der Intensität verbreiteter Ängste. Neunundzwanzig Ängste wurden aus einer Standardliste von Ängsten ausgewählt, und die Patienten wurden gebeten, deren Ausmaß einzuschätzen (»vor« dem Krebs und »jetzt«).

1. Tote Menschen

2. Wütende Menschen

3. Trennung von Freunden

4. Geschlossene Räume

5. Sich von anderen zurückgewiesen fühlen

6. Sich missbilligt fühlen

7. Ignoriert werden

8. Dunkelheit

9. Menschen mit Deformierungen

10. Fehler machen

11. Albern aussehen

12. Die Kontrolle verlieren

13. Mit Entscheidungen beauftragt oder dafür verantwortlich sein

14. Geisteskrank werden

15. Schriftliche Tests machen

16. Von anderen berührt werden

17. Sich anders als die anderen fühlen

18. Allein sein

19. An einem fremden Ort sein

20. Öffentlich reden

21. Schlechte Träume

22. Fehlschläge

23. Einen Raum betreten, in dem schon andere Menschen sitzen

24. Von hohen Gebäuden herunterschauen

25. Fremde

26. Sich ärgerlich fühlen

27. Autoritätspersonen

28. Gesprächspausen

29. Kriechende Insekten

Die Ergebnisse dieses Fragebogens deuteten auf den gleichen Trend wie bei den persönlichen Wachstums-Items hin, jedoch nicht in der gleichen Größenordnung. Bei neun Items berichteten die Patienten von größerer Angst seit dem Ausbruch des Krebses; bei einem Item gab es eine gleichmäßige Umverteilung (genauso viele Patienten berichteten von weniger Angst »jetzt«, wie von mehr Angst »jetzt«); und bei neunzehn der neunundzwanzig Items berichteten mehr Patienten von weniger Ängsten »jetzt« als »vor« dem Ausbruch ihrer Krebskrankheit.

Die meisten Therapeuten können anekdotisches klinisches Material beisteuern, um das zu veranschaulichen. Viele Therapeuten haben mit Patienten gearbeitet, die mitten in der Therapie eine Auseinandersetzung mit dem Tod hatten, was zu einem raschen Wandel in der Lebensperspektive und zu einer Neuordnung der Prioritäten im Leben führte. In der Literatur gibt es kaum weitere Untersuchungen über dieses Phänomen. Einige Studien22 wurden bei hospitalisierten Patienten, die dem Tode nahestanden, durchgeführt und berichten von viel negativeren Befunden als in unserer Studie; aber solche Patienten sind oft isoliert, kachektisch und haben große Schmerzen. Vor kurzem nahm sich ein Krebspatient Kübler-Ross wegen eben dieser Angelegenheit vor und betonte, dass die »Stadien« des Sterbens bei Kübler-Ross durch eine kachektische Krankenhauspopulation verzerrt würden und sie die »goldene Periode« übersah, die sich ereignet, wenn ein Patient Zeit hat, um seine Begegnung mit dem Tod zu assimilieren.23

Schmitt hatte eine Patientin, die ein Nierenversagen extrem nah an den Tod herangeführt hatte. Nach einer langen Periode der Nierendialyse hatte die Patientin eine erfolgreiche Nierentransplantation und kehrte mit einem Gefühl sowohl physischer wie psychischer Wiedergeburt in das Leben zurück. Sie beschreibt ihre Erfahrung:

Wirklich die einzige Möglichkeit, wie ich mich beschreiben kann, ist, dass ich von mir selbst glaube, zwei Leben gehabt zu haben. Ich nenne sie sogar die erste und die zweite Kathy. Die erste Kathy starb während der Dialyse. Angesichts des Todes konnte sie es nicht länger durchstehen. Eine zweite Kathy musste geboren werden. Das ist die Kathy, die mitten im Tod geboren wurde … die erste Kathy war eine frivole Göre. Sie lebte immer nur von einer Minute zur anderen. Sie stritt sich über kaltes Essen in der Cafeteria herum, über die Langweiligkeit chirurgischer Vorlesungen für Krankenschwestern, über die Unfairness ihrer Eltern. Ihr Ziel im Leben war es, am Wochenende Spaß zu haben … die Zukunft war weit weg und von nur geringem Interesse. Sie lebte nur für Trivialitäten.

Aber die zweite Kathy – das bin ich jetzt. Ich bin verrückt nach Leben. Schau dir die Schönheit des Himmels an! Er ist herrlich blau! Ich gehe in einen Blumengarten, und jede Blume nimmt so fantastische Farben an, dass ich von ihrer Schönheit benommen bin … Eines weiß ich: Wäre ich meine erste Kathy geblieben, hätte ich mein ganzes Leben verspielt und ich hätte niemals gewusst, was Freude am Leben bedeutet; ich musste dem Tod Auge in Auge begegnen, bevor ich leben konnte. Ich musste sterben, um zu leben.24

Eine ungewöhnliche Begegnung mit dem Tod bewirkte einen Wendepunkt im Leben Arthurs, eines Alkoholpatienten. Der Zustand des Patienten ver schlechterte sich ständig. Er hatte mehrere Jahre lang stark getrunken und hat keine Periode der Nüchternheit gehabt, die lang genug gewesen wäre, um effektiven psychotherapeutischen Kontakt zu ermöglichen. Er kam in eine Therapiegruppe, und eines Tages kam er so vergiftet in die Sitzung, dass er bewusstlos wurde. Die Gruppe setzte ihr Treffen fort, mit dem bewusstlosen Arthur auf der Couch, diskutierte darüber, was sie mit Arthur tun sollten, und brachten ihn schließlich geschlossen von der Sitzung ins Krankenhaus.

Glücklicherweise wurde die Sitzung auf Video aufgenommen, und später, als Arthur das Videoband ansah, hatte er eine tiefe Begegnung mit dem Tod. Alle hatten sie ihm jahrelang gesagt, dass er sich zu Tode trinken würde. Aber bis zu dem Zeitpunkt, als er das Videoband sah, hatte er dies niemals wirklich für möglich gehalten. Das Videoband von ihm selbst, ausgestreckt auf der Couch, und den Gruppenmitgliedern, die um seinen Körper herumstanden und über ihn redeten, hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem Begräbnis seines Zwillingsbruders, der ein Jahr zuvor an Alkoholismus gestorben war. Er stellte sich selbst bei seiner eigenen Totenwache vor, auf einer Bahre ausgestreckt und umgeben von Freunden, die über ihn redeten. Arthur war von der Vision tief erschüttert, begann die längste Periode der Nüchternheit, die er in seinem Erwachsenenleben hatte, und ließ sich zum ersten Mal auf therapeutische Arbeit ein, die schließlich sehr nützlich für ihn war.

Mein Interesse an existenzieller Therapie wurde zu einem großen Teil dadurch geweckt, dass ich vor vielen Jahren Zeuge der Wirkung des Todes auf eine meiner Patientinnen war. Jane war eine fünfundzwanzigjährige ewige Collegestudentin, die in die Therapie kam, weil sie niedergeschlagen war, schwere gastritische Funktionsstörungen hatte und sich dauernd hilflos und nutzlos fühlte. In ihrer ersten Sitzung präsentierte sie ihr Problem in diffuser Weise und jammerte wiederholt: »Ich weiß nicht, was los ist.« Ich wusste nicht, was sie mit dieser Aussage meinte, und weil sie in eine lange Litanei der Selbstabwertung eingeflochten war, vergaß ich sie bald. Ich führte Jane in eine Therapiegruppe ein, und in der Gruppe hatte sie wieder ein starkes Empfinden davon, dass sie nicht wusste, was los war. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah, warum die anderen Mitglieder so desinteressiert an ihr waren, warum sie eine Gesprächsparalyse entwickelte, warum sie masochistische Beziehungen mit anderen Mitgliedern herstellte, warum sie so fixiert auf den Therapeuten war. Das Leben war zu einem großen Teil ein Geheimnis, etwas »außerhalb«, das ihr zustieß, etwas, das auf sie herabregnete.

In der Therapiegruppe war Jane ängstlich und langweilig. Jede ihrer Aussagen war vorhersagbar; bevor sie sprach, suchte sie das Meer der Gesichter in der Gruppe nach Anzeichen darauf ab, was andere wollten, und dann formte sie ihre Aussage so, dass möglichst viele Leute erfreut waren. Alles nur um zu vermeiden, dass andere beleidigt oder abgestoßen waren. (Was natürlich geschah, war, dass die Leute sich abwendeten, nicht aus Ärger, sondern aus Langeweile.) Es war klar, dass sich Jane chronisch vom Leben zurückzog. Jeder in der Gruppe versuchte, »die wirkliche Jane« in dem Kokon der Fügsamkeit, den sie um sich gesponnen hatte, zu finden. Sie versuchten, Jane zu ermutigen; sie drängten sie, Gesellschaft zu suchen, zu studieren, das letzte für ihre Graduierung nötige Examenspapier zu schreiben, sich Kleider zu kaufen, ihre Rechnungen zu bezahlen, sich zu pflegen, ihr Haar zu kämmen, ihren Lebenslauf zu schreiben, sich nach Jobs umzusehen.

Diese Ermahnungen, wie die meisten Ermahnungen in der Therapie, waren nicht erfolgreich, und deshalb versuchte die Gruppe eine andere Taktik: Sie drängten Jane, sich die Verlockungen und den Segen des Versagens vor Augen zu führen. Was hatte sie davon? Warum war das Versagen so lohnenswert? Diese Fragerichtung war produktiver, und wir erfuhren, dass der Lohn beträchtlich war. Zu versagen hielt Jane jung, hielt sie geschützt, hielt sie davon ab, Entscheidungen zu treffen. Die Idealisierung und Anbetung des Therapeuten diente demselben Zweck. Die Hilfe war »da draußen«. Ihre Aufgabe in der Therapie, wie sie sie sah, war, sich so schwach zu geben, bis der Punkt erreicht war, an dem der Therapeut seine königliche Berührung nicht mehr guten Gewissens zurückhalten konnte.

Das kritische Ereignis in der Therapie trat ein, als Jane einen großen, bedrohlichen Lymphknoten in der Achsel entwickelte. Die Gruppe traf sich am Dienstagabend; zufällig musste sie am Dienstagmorgen eine Biopsie machen lassen und vierundzwanzig Stunden warten, bevor sie erfuhr, ob der Knoten bösartig war. An diesem Abend kam sie in Panik zum Treffen. Sie hatte zuvor niemals über ihren eigenen Tod nachgedacht, und die Sitzung war sehr wirkungsvoll für sie, da die Gruppe ihr half, sich ihren Ängsten zu stellen und sie auszudrücken. Ihre überwältigende Erfahrung war eine schreckliche Einsamkeit – eine Einsamkeit, die sie immer am Rande des Bewusstseins wahrgenommen und immer gefürchtet hatte. Bei dieser Sitzung wurde Jane auf einer tiefen Ebene bewusst, dass sie dem Tod letztlich allein gegenübertreten musste, ganz gleich, was sie tat, ganz gleich, wie sehr sie sich schwach machte – niemand konnte für sie eintreten, niemand konnte ihren Tod für sie sterben.

Am nächsten Tag erfuhr sie, dass der Lymphknoten gutartig war, aber trotzdem waren die psychischen Wirkungen der Erfahrung tiefgreifend. Viele Dinge begannen nun für Jane zu zusammen zu kommen. Sie fing an, Entscheidungen auf eine Art und Weise zu fällen, wie sie es nie zuvor getan hatte, und sie übernahm das Steuer ihres Lebens. Bei einer Sitzung meinte sie: »Ich glaube, ich weiß, was los ist.« Ich hatte ihre ursprüngliche Beschwerde seit langem vergessen, aber jetzt erinnerte ich mich daran und verstand sie schließlich. Es war wichtig für sie gewesen, nicht zu wissen, was los war. Sie hatte versucht, die Einsamkeit und den Tod, der das Erwachsenenleben begleitet, mehr als alles andere zu vermeiden. Auf magische Weise hatte sie versucht, den Tod zu besiegen, indem sie jung blieb, indem sie Entscheidung und Verantwortung vermied, indem sie sich entschied, an den Mythos zu glauben, dass immer jemand da sein würde, der für sie entscheiden würde, der sie begleiten würde, der für sie da sein würde. Erwachsen werden, entscheiden, sich von anderen trennen bedeutet auch, sich der Einsamkeit und dem Tod zu stellen.

Zusammengefasst spielt der Begriff des Todes in der Therapie eine entscheidende Rolle, weil er in der Lebenserfahrung von jedem von uns eine entscheidende Rolle spielt. Tod und Leben sind interdependent: Obwohl die Physikalität des Todes uns zerstört, rettet uns die Idee des Todes. Die Anerkenntnis des Todes trägt zur Würze des Lebens bei, sorgt für einen radikalen Wandel in der Lebensperspektive und kann uns von einem Modus des Lebens, der durch Ablenkung, Beruhigung und kleinliche Ängste charakterisiert ist, in einen authentischeren Modus überführen. In den Beispielen der Personen, die nach der Begegnung mit dem Tod bedeutsame persönliche Wandlungsprozesse erlebten, finden sich offensichtliche und wichtige Implikationen für die Psychotherapie. Was wir brauchen, ist eine Technik, die es dem Psychotherapeuten erlaubt, dieses therapeutische Potenzial mit allen Patienten auszuschöpfen, statt von glücklichen Umständen oder dem Ausbruch einer tödlichen Krankheit abhängig zu sein. Ich werde im fünften Kapitel ausführlich auf diese Fragen eingehen.

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