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Freuds Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod: Theoretische Gründe

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Als Freud fünfundsiebzig Jahre alt war, wurde er gefragt, wer ihn am stärksten beeinflusst hatte. Ohne Zögern antwortete er, wie er immer geantwortet hatte: »Brücke.« Ernst Brücke war Freuds Physiologie-Professor in der Medizinischen Hochschule und sein Mentor während seiner kurzen Forschungskarriere in Neurophysiologie gewesen. Brücke war ein strenger Mann mit einem preußischen eisernen Willen und stahlblauen Augen, der von den Medizinstudenten in Wien gefürchtet wurde. (Zur Examenszeit wurden jedem Studenten mehrere Minuten für mündliche Befragung gegeben. Wenn ein Student die erste Frage in einer Prüfung nicht beantworten konnte, pflegte Brücke den Rest der vorgesehenen Zeit in ernster Stille dazusitzen, unnachgiebig gegenüber dem verzweifelten Flehen des Studenten und des Dekans, der zugegen war.) In Freud fand Brücke schließlich einen Studenten, der seines Interesses würdig war, und die beiden arbeiteten mehrere Jahre lang eng im neurophysiologischen Laboratorium zusammen.

Brücke war eine grundlegende Kraft hinter der ideologischen Schule der Biologie, die durch Hermann von Helmholtz begründet wurde und die die medizinische Forschung und die Grundlagenforschung in Westeuropa im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts beherrschte. Die grundlegende Helmholtzsche Position, Brückes Vermächtnis an Freud, wurde in einer Aussage durch einen weiteren Gründer, Emil du-Bois Reymond, klar skizziert:

Brücke und ich haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen; dass, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichen, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art und Weise die Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muss, oder dass neue Kräfte angenommen werden müssen, welche, von der gleichen Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind.107

Die Helmholtzsche Position ist also deterministisch und anti-vitalistisch. Der Mensch ist eine Maschine, die durch chemisch-physikalische Mechanismen aktiviert wird. Brücke stellte 1874 in seinen Vorlesungen über Physiologie fest, dass, obwohl die Organismen sich von den Maschinen in ihrer Assimilationskraft unterscheiden, sie nichtsdestoweniger Phänomene der physischen Welt sind, die durch Kräfte gemäß den Prinzipien der Erhaltung der Energie bewegt werden. Die Anzahl der Kräfte, die den Organismus in Gang halten, scheint nur angesichts der Unwissenheit groß. »Der Fortschritt der Wissenschaft hat sie auf zwei reduziert: Anziehung und Abstoßung. Das alles gilt auch für den Organismus Mensch« (kursiv vom Verfasser).108

Freud übernahm dieses mechanistische Helmholtzsche Modell des Organismus und wendete es auf die Konstruktion eines Modells des Geistes an. Mit siebzig sagte er: »Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt … wie der Apparat gebaut ist, der diesen (seelischen) Leistungen dient, und welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinanderwirken.«109 Von daher ist es offensichtlich, was Freud Brücke verdankte: Die Freudsche Theorie, die ironischerweise oft als irrational angegriffen wird, ist tief verwurzelt in der traditionellen biophysikalisch-chemischen Doktrin. Freuds dualistische Instinkttheorie, die Theorie der libidinösen Energieerhaltung und Transformation und sein unnachgiebiger Determinismus gehen seiner Entscheidung, Psychiater zu werden, voraus: sie alle haben ihre Anlage in Brückes mechanistischem Menschenbild.

Dies im Hinterkopf, können wir mit größerem Verständnis zur Frage nach Freuds Ausschluss des Todes aus seiner Beschreibung menschlichen Verhaltens zurückkehren. Dualität – die Existenz zweier, sich unerbittlich bekämpfender Grundtriebe – war der Fels, auf dem Freud sein metapsychologisches System baute. Die Helmholtzsche Doktrin forderte Dualität. Erinnern wir uns an Brückes Aussage: die grundlegenden Kräfte, die im Organismus aktiv sind, sind zwei – Anziehung und Abstoßung. Die Theorie der Verdrängung, der Beginn psychoanalytischen Denkens, fordert ein dualistisches System: Verdrängung erfordert einen Konflikt zwischen zwei grundlegenden Kräften. Während seiner gesamten Karriere versuchte Freud, das Paar der grundlegenden antagonistischen Triebe zu identifizieren, die den menschlichen Organismus antreiben. Sein erster Vorschlag war »Hunger und Liebe«, wie sie im Kampf zwischen der Erhaltung des einzelnen Organismus und dem Fortbestand der Spezies Gestalt angenommen hatten. Der größte Teil der analytischen Theorie basiert auf dieser Antithese: Der Kampf zwischen dem Ich und den Libidoinstinkten war in Freuds früherer Theorie der Grund der Verdrängung und die Quelle der Angst. Später wurde er sich aus Gründen, die für diese Diskussion nicht relevant sind, bewusst, dass diese Dualität unhaltbar war, und er trat für einen anderen Dualismus ein: einen grundlegenden Dualismus, der im Leben selbst begründet ist – zwischen Leben und Tod, Eros und Thanatos. Die Freudsche Metapsychologie und Psychotherapie ist jedoch auf der ersten dualistischen Instinkttheorie gegründet; weder Freud noch seine Studenten (mit der einzigen Ausnahme von Norman O. Brown110) formulierten sein Werk auf der Grundlage der Dualität von Leben und Tod neu; und die meisten seiner Nachfolger verwarfen die zweite Instinkttheorie, weil sie zu einer Position großen therapeutischen Pessimismus’ führte. Entweder sie blieben bei der ersten Erhaltungsdialektik von Libido und Ich, oder sie schweiften zum Jungianischen Instinkt-Monismus ab – einer Position, die die Theorie der Verdrängung unterminiert.

Der Tod ist noch nicht; es ist ein Ereignis, das sein wird, ein Ereignis, das in der Zukunft liegt. Sich den Tod vorzustellen und sich darüber Sorgen zu machen, erfordert eine komplexe geistige Aktivität – die Planung und Projektion des Selbst in die Zukunft. In Freuds deterministischem Schema sind die unbewussten Kräfte, die aufeinanderprallen und deren Vektor unser Verhalten bestimmt, tief und instinkthaft. Es gibt dort keinen Platz in der psychischen Kraftzelle für komplexe geistige Vorgänge, bei denen man sich die Zukunft vorstellt und sich vor ihr fürchtet. Freud steht der Ansicht Nietzsches nahe, der bewusste Überlegung für vollständig überflüssig hält, um Verhalten hervorzubringen. Verhalten ist, nach Nietzsche, determiniert durch unbewusste mechanische Kräfte: bewusste Überlegung folgt dem Verhalten, statt dass es ihm vorangeht; das Empfinden, dass wir unser Verhalten steuern, ist eine völlige Illusion. Man stellt sich nur vor, man würde sich Verhaltensweisen frei wählen, um den Willen zur Macht zu befriedigen, sein Bedürfnis, sich selbst als autonomes, entscheidungsfähiges Wesen zu begreifen.

Der Tod kann daher keine Rolle in Freuds formaler dynamischer Theorie spielen. Da er ein zukünftiges Ereignis ist, das man nie erfahren hat und das man sich nicht realistisch vorstellen kann, kann es nicht im Unbewussten existieren und daher das Verhalten auch nicht beeinflussen. Er hat keinen Platz in einer Sichtweise des Verhaltens, das auf den Gegensatz zweier opponierender Urinstinkte reduzierbar ist. Freud wurde ein Gefangener seines eigenen deterministischen Systems und konnte die Rolle, die der Tod im Erzeugen von Angst und in der Sicht des Menschen vom Leben spielt, nur auf zwei Arten diskutieren: Er konnte außerhalb seines formalen Systems arbeiten (in Fußnoten oder in Essays, die »außerhalb des Protokolls« waren, wie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«111 und »Das Motiv der Kästchenwahl«112), oder er konnte den Tod nur in sein System zwängen, indem er die Todesfurcht entweder unter irgendeine ursprüngliche (Kastrations-) Angst subsumierte, oder indem er den Willen zum Sterben als einen der zwei grundlegenden Triebe betrachtete, die allem Verhalten zugrunde liegen. Den Tod als grundlegenden Trieb auszurufen, löst das Problem nicht: Man versäumt dabei, den Tod als ein zukünftiges Ereignis zu betrachten, und übersieht die Bedeutung des Todes im Leben als Leuchtturm, als Bestimmung, als Endpunkt, der entweder die Macht hat, das Leben all seiner Bedeutung zu berauben oder uns in eine authentische Form des Seins zu locken.

Existenzielle Psychotherapie

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