Читать книгу Es lauert unterm Teufelsmoor - Isabelle Bendig - Страница 11

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Gegenwart

Der Regen hatte die Straße in einen unwirklichen Untergrund verwandelt. Große Pfützen säumten den Weg. Wann immer eines der Kutschenräder dort hindurch fuhr, stoben Wasserfontänen in die Höhe. Penelope Morgan sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht von einer erwischt zu werden.

„Idiot!“, rief sie dem Kutscher hinterher.

Eine kleine Kugel, die über ihrem Kopf schwebte, hielt den Regen von ihr ab. Wenn sie nach oben blickte, konnte sie die dicken Tropfen beobachten, wie sie an einer unsichtbaren Barriere nach unten liefen. Penny trat an den Straßenrand und hob eine Hand, als sie in der Ferne eine Kutsche mit gelben Streifen entdeckte. Knapp vor ihr hielt die Kutsche an.

Das Metall der Pferde glitzerte feucht. Dampf stieg aus den Schlitzen am Körper hinauf. Die hellen Augen der Tiere waren strikt geradeaus gerichtet. Auf dem Kutschbock saß eine in sich zusammengesunkene Frau, die sich in einen langen Mantel gehüllt hatte. Auch sie wurde durch eine schwebende Kugel vor dem Regen geschützt. Unter dem breitkrempigen Hut blitzen drei wache Augen Penny entgegen.

„Wohin?“, fragte eine zischenden Stimme.

„Rokerstraße, am kleinen Marktplatz.“

Die Frau drückte einen Knopf seitlich am Kutschbock und die Tür zur Kutsche schwang auf. Penny tippte sich dankend an ihre Kapuze und stieg in die Kutsche. Hinter ihr schloss sich die Tür und die Kutsche ratterte los.

Penny stellte ihre Aktentaschen auf einen Platz und setzte sich daneben. Erst dann strich sie ihre Kapuze zurück und atmete einmal tief durch. Durch das Zurückstreichen der Kapuze verschwand auch die Kugel. Pennys Blick fiel auf die Aktentasche neben sich. Dort warteten mehrere Klausuren darauf, von ihr korrigiert zu werden. Sie könnte die Zeit nutzen und jetzt schon anfangen, aber um ehrlich zu sein, hatte sie wenig Lust darauf. Stattdessen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Das stetige Rumpeln der Kutsche und das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach der Kutsche wiegte sie in ein leichtes Dösen.

Rumpelnd fuhr die Kutsche durch ein Schlagloch. Penny wurde mit der rechten Seite schmerzhaft gegen die Kutschenwand gedrückt. Die Kutsche wankte hin und her, fing sich aber wieder.

„Entschuldigung!“, rief die Kutscherin.

„Schon gut.“

Penny richtete sich wieder auf. Ihr rechter Arm schmerzte durch den Zusammenstoß leicht. Sie schob sich den Ärmel ihrer Bluse hoch und untersuchte den Arm auf Verletzungen. Doch bis auf die alten Narben war nichts zu sehen. Kurz blieb ihr Blick auf dem Symbol am Unterarm hängen. Es war schon stark verblasst, doch für diejenigen, die es kannten, noch zu sehen.

Sie hatten die Bibliothek auf den Kopf gestellt – natürlich erst, nachdem die Männer des kaiserlichen Ministeriums wieder verschwunden waren, darauf hatte Chris bestanden. Damals hatte Penny ihn für ziemlich paranoid gehalten, nun wusste sie es besser. Ihre Nachforschungen waren im Sande verlaufen. Selbst in der großen Bibliothek der Stadt hatten sie nichts gefunden. Irgendwann hatte sie sich dann entschieden, es zu vergessen. Im Laufe der Jahre war das Symbol immer weiter verblasst.

„Rokerstraße.“

Die Kutsche hielt an und die Tür schwang auf. Penny schlug sich die Kapuze hoch, griff ihre Aktentasche und stieg aus.

Sie stand vor einem großen, alten Backsteinhaus am Rande eines runden Platzes mit einem Brunnen in der Mitte. Die Kutscherin tippte ihr von hinten auf die Schulter.

„Das macht dann 2 Kaiser und 3 Prinzen.“

„Klar.“

Penny kramte die geforderten Scheine aus ihrer Hosentasche. Vor Jahrhunderte hatte irgendein Kaiser entschieden die Währung kurzerhand nach seinem Titel zu benennen. Ein selbstverliebter Akt des Kaiserhauses, wie Penny fand, aber einen anderen Namen für die bedruckten, grellgrünen Scheine aus dickem Papier fiel ihr auch nicht ein. Sie reichte der Kutscherin etwas mehr als die geforderte Summe in zerknitterten und zerdrückten Scheinen.

„Stimmt schon.“

„Bedankt. Kommen Sie gut nach Hause.“

Die Kutscherin legte einen Hebel neben sich um und die Pferde trabten los. Penny überquerte hinter der Kutsche den Rest des Platzes und stand vor dem Eingang zum Haus. Aus ihrer Manteltasche holte sie den Schlüssel heraus, an dem ein alter Einkaufszettel hing. Penny ließ ihn wieder in der Tasche verschwinden und schloss die Tür auf. Wie üblich roch es ihm Treppenhaus nach nassem Holz und billigen Zigarren. Penny schüttelte sich. Um nicht allzu viel Zeit in der Kälte des Mauerwerks zu verbringen, rannte sie die Treppen bis in den zehnten Stock hoch. Schon im vierten bekam sie Seitenstechen und im achten fiel ihr das Atmen schwer. Nach Luft ringend stolperte sie in die kleine Wohnung.

„Bin … da …“, brachte sie keuchend hervor.

Sie stand mitten in der Stube, ein weitläufiger Raum mit einem großen Sofa und mehreren Sesseln. Auf einem Tisch stand eine Obstschale, daneben ein Teller mit Nüssen. An den Wänden hingen selbstgemalte Porträts in Öl. Zwei Türen führten in zwei Schlafzimmer, eine andere in die Küche. Penny hängte ihre Jacke am Garderobenständer auf und stellte die Schuhe in die Nähe des Heizkörpers. Dieser wurde durch Rohre, die sich wie Schlangen an der Decke und den Wänden entlang zogen, vom großen Kamin mitten der Stube mit Wärme versorgt. Anders war die kleine Wohnung nicht warm zu kriegen.

Schritte näherten sich aus dem Schlafzimmer. Gerade als Penny die Aktentasche auf das Sofa warf, trat ihre Schwester Francine in die Stube.

Die Morganschwestern sahen sich nicht besonders ähnlich: Mit ihren blonden Haaren, den giftgrünen Augen und der hellen Haut ähnelte Penny eher ihrem Vater. Francine hingegen war brünett, eher dunkelhäutig und blauäugig, wie ihre Mutter. Dazu war Francine schlank und groß, während Penny seit jeher mit ein paar Stein zu viel und ein paar Schritt zu wenig zu kämpfen hatte.

„Du bist spät“, meinte Francine nur.

„Es ist auch schön dich zu sehen“, konterte Penny.

Francine verdrehte die Augen.

„Tut mir leid, aber sechs Tage in der Woche alleine in dieser Wohnung zu hocken, lässt mich etwas biestig werden.“

Penny winkte nur ab.

„Vergiss es. Direktorin Schäper hat spontan eine Sitzung des unterrichtenden Personals zusammengerufen und ist nicht auf den Punkt gekommen. Hast du schon gegessen?“

Francine schüttelte nur den Kopf. Sie ging zu einem Berg aus Papier auf einem Tisch und begann dort etwas zu suchen.

„Soll ich etwas kochen?“, hakte Penny nach.

Ihre sonst so gesprächige Schwester nickte nur. Also begab sich Penny in die Küche und wühlte sich durch die Schränke, um die Reste der Woche zusammenzukratzen. Francine und sie lebten seit einigen Jahren zusammen. Penny hatte die Wohnung an dem Tag bezogen, als sie alt genug geworden war, um das elterliche Haus zu verlassen. Ein Jahr danach war Francine aufgetaucht. Sie hatte sich mit ihrem Vater gestritten und wollte nun nicht mehr bei ihren Eltern leben. Diesen war es egal, solange sie weiter ihre weiterführende Schule besuchte. Penny wusste, dass Francine den Beruf, den sie ergreifen sollte, hasste, aber leider hatte sie keine Wahl. Das Gesetz war strikt, was die Berufswahl anging. Man durfte nur den Beruf ausführen, den ein Vorfahr schon einmal ausgeführt hatte und den niemand in der eigenen Generation ausübte.

„Du hast einen Brief bekommen“, meinte Francine, die in der Tür aufgetaucht war.

Penny stellte die Metallpfanne auf den Herd und legte den Hebel um. Sofort schoss heiße Luft in das Innere des Herds und begann das Metall zu erwärmen.

„Von wem?“

„Jane-Schule für höhere Magie.“

Francine hielt den Brief in der Hand. Penny zögerte, ihn zu ergreifen.

„Ich schaue ihn mir später an.“

„Entschuldige die Neugier einer Schwester, aber ich möchte gerne wissen, was darinsteht.“

Penny seufzte. Sie hatte ein großes Stück Fleisch auf der Arbeitsplatte liegen und wollte gerade handliche und vor allem essbare Stücke abschneiden. Doch Francine trat neben sie und wedelt mit dem Brief vor ihrer Nase herum.

„Na schön. Aber dann schneidest du das Fleisch.“

„Was willst du machen?“

„Fleischpfanne.“

Penny drückte ihrer Schwester das große Messer in die Hand, während sie den Brief nahm. Jemand hatte ihren vollen Namen samt Adresse in fein säuberlicher Schrift vorne in die Mitte geschrieben. Hinten war das Siegel der Schule angebracht worden. Eine Frauengestalt, die von mehreren schwebenden Büchern umgeben wurde. Eingeschlossen wurde das Bild von Rosenranken mit zehn Blüten.

Mit dem Zeigefinger fuhr Penny die seitliche Kante entlang. Das Papier riss auf und gab den Brief frei. Auch er war fein säuberlich geschrieben, wahrscheinlich von einer verzauberten Schreibmaschine. Keine Feder konnte so schreiben. Penny überflog die höfliche Anrede.

„Den hätten sie mir auch in der Schule geben können“, murmelte sie nur.

Francine, die das Messer durch kleine Fingerbewegungen dazu brachte, das Fleisch eigenständig zu schneiden, zuckte nur mit den Schultern.

„Wahrscheinlich wollten sie den offiziellen Weg gehen.“

„Hm.“

Penny las intensiv den Brief.

„Die haben ein Zusammentreffen meiner Abschlussklasse veranlasst“, stellte sie leise fest.

„Klingt doch toll“, meinte Francine nur.

Die jüngere Schwester drehte einmal die Finger falsch. Schon erhob sich das Messer und sauste genau neben Pennys Kopf in die Wand. Diese hob erschrocken den Blick vom Brief.

„Wie oft noch“, fuhr sie ihre Schwester an. „Du musst aufpassen. Magie ist gefährlich.“

„Wie soll ich es denn sonst machen? Mit den Händen?“

Francine wackelte mit besagtem Körperteil vor Pennys Gesicht herum. Sie schob sie einfach zur Seite.

„Zum Beispiel. So haben es die Leute immerhin gemacht, bevor es Magie gab.“

„Du klingst wie Rohan.“

Darauf reagierte Penny nicht, sondern nahm selber das Messer aus der Wand und ließ es zurück zum Fleisch schweben. Francine hatte immer ihre Schwierigkeiten mit der Magie gehabt. Sie ließ sich schnell ablenken oder kam mit den zum Zaubern nötigen Bewegungen durcheinander. Für den zweiten Punkt gab es mittlerweile Hilfsmittel wie besondere Handschuhe, aber diesen verweigerte Francine sich. Penny hatte ihr oft genug gesagt, dass sie sich auf ihre Magie konzentrieren sollte. Der Vorfall mit dem Messer war in ähnlicher Form schon viel zu oft vorgekommen.

Penny wartete, bis das Fleisch fertig geschnitten war. Dann legte sie den Brief zur Seite und klatschte in die Hände. Dieses Zeichen verstand Francine.

„Ich bring mich mal in Sicherheit“, sagte sie spöttisch und verschwand in der Stube.

Penny krempelte sich die Ärmel hoch. Nun kam der spaßige Teil des Kochens. Gleichzeitig schwangen sämtliche Türen der Vorratsschränke auf. Penny bewegte Finger und Hände in verschnörkelten Formen. Messer schälten Gemüse und schnitten es klein. In einem Topf rührte ein Rührbesen eine Soße an. Alles landete gemeinsam beim Fleisch in der Pfanne. Kurz stieg Qualm auf. Penny wischte ihn mit einer Handbewegung aus der Luft. Dabei flog der Topf knapp am Abwasch vorbei und landete auf dem Boden. In der Stube lachte Francine schwesterlich neckend auf.

„Halt die Klappe!“, rief Penny ebenso neckend zurück.

Nur etwas später saßen die Schwestern auf je einem Sessel und machten sich über die Fleischpfanne her.

„Also, wirst du beim Zusammentreffen dabei sein?“, fragte Francine mittendrin.

Penny betrachtete ein Stück Kartoffel auf ihrer Gabel.

„Keine Ahnung.“

„Es könnte witzig werden. Wie lange habt ihr euch schon nicht mehr gesehen?“

„Unterschiedlich. Mit Rohan spreche ich jede zweite Woche, aber die Barnebybrüder habe ich vor zehn Jahren das letzte Mal getroffen.“

„Also seit deinem Abschluss.“

Penny nickte und legte die Kartoffel an den Tellerrand.

„Meinst du, dass …“, begann Francine, stoppte sich aber.

Schlagartig war Penny der Appetit vergangen. Sie stellte den Teller zur Seite und stand auf.

„Ich muss noch Klausuren korrigieren.“

„Wie du meinst. Wunder dich bitte nicht, wenn hier noch lange Licht brennt. Ich muss noch etwas erledigen.“

Überrascht wandte sich Penny auf dem halben Weg zum Sofa zu Francine um.

„Was denn?“

„Etwas für die … Schule.“

Das verwunderte Penny mehr, als dass es sie aufklärte. Francine tat normalerweise nichts für die Schule. Auch wirkte ihre Schwester sehr nervös und wich ihrem Blick aus. Doch Penny fühlte sich zu kaputt, um noch einmal mit Francine zu diskutieren. Also winkte sie nur ab.

„Gut. Aber nicht zu lange.“

„Ich kann morgen lange schlafen.“

„Wenn du meinst.“

Penny schnappte sich ihre Aktentasche und den Brief und verschwand in einem der zwei kleinen Schlafzimmer.

Es lauert unterm Teufelsmoor

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