Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 18
ОглавлениеAm Ende der Welt
Wüste, wohin man auch sah. Düne an Düne an Düne …
Hier und da ein zerklüfteter Fels … wandernde Dornenkugeln, vertrocknetes Buschwerk … Na immerhin! Blassgelb und endlos erstreckte sich die unwirtliche Gegend aus Sand hinter den Palisaden des Hauptstützpunktes, entblätterte ungeniert ihren ausgemergelten Leib und wollte auch noch Beifall für ihre glanzlose Weite. Die, das musste er zugeben, unermesslich war. Sandkorn an Sandkorn an Sandkorn …
Und sie alle hier. Und er mittendrin. Wieso er? Am südlichsten Punkt der Welt, in einer Wüste, die so öde war, dass ihm ganz schwindelig von ihrem Anblick wurde, in einem von Palisaden geschützten Stützpunkt, der überhaupt keine Sicherheit bot, weil der Feind im Sand lauerte und jeden Augenblick zuschlagen konnte – von unten. Freilich von unten, einem Ort, dem kein Bollwerk der Welt standhielt. Jedenfalls wenn es nach der Vision dieser vallandischen Schamanin ging:
„Und während ich nach einem schattenspendenden Baum Ausschau hielt, sah ich, wie der Schatten, den ich ersehnte, aus dem Wüstenboden kroch. Doch seine Dunkelheit war nicht heilsam, sondern tödlich. Und seine Gewalt war unermesslich. Ich sah, wie sich der Schatten teilte. Es wurden derer viele. Sie alle krochen aus dem Boden. Und sie alle waren mehr als bloße Dunkelheit …“
Irwin MacOsborn war frustriert. Er war es schon, seit sie Fuß auf diese öde Küste gesetzt hatten. Das Kommandoschiff der Allianzflotte dümpelte dort draußen auf dem Wasser und wachte über diesen götterverlassenen Stützpunkt wie eine Mutter über ihren Erstgeborenen. Wie schön könnte doch alles sein, würde ihm das Expeditionskommando etwas Ruhe gönnen und ihn auf der Meerjungfrau bleiben lassen, wo er endlich sein kleines Orchester zusammenstellen könnte: MacOsborns Sechzehn. Seine Musikanten würden in seinem Namen die größten aller Sonaten, Kantaten, Motetten, Choräle, Arien, Sinfonien darbieten. Aber leider … leider saß er hier vor dem Tor des Stützpunktes im kaum erwähnenswerten Schatten eines welken Strauchs und wartete darauf, dass die Flottenoberkommandantin und die Kommandantin der Landstreitkräfte unter ihrem Sonnensegel eine Entscheidung trafen. Bei dieser Hitze! Wenn sie hier länger ausharrten, würde er dringend einen Sonnenschirm brauchen. Herrje, wo bekam er denn jetzt einen Sonnenschirm her?
Irwin fischte ein Tuch aus seiner staubigen Gürteltasche, zog seine mittlerweile von der Sonne geröteten Beine an und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Seit einem halben Glas saß er jetzt im kärglichen Schatten dieses Wüstenstrauchs und lauschte sehnsüchtig dem Plätschern des schmalen Baches, der hier, außerhalb des Stützpunktes, ins Meer mäanderte. Die Besprechung, die nicht weit von ihm unter erwähntem Sonnensegel stattfand – damit niemand vom Fußvolk innerhalb des Stützpunktes lange Ohren bekam, verstand sich – zog sich wie erwartet hin. Während die Stimmen der Expeditionskommandanten zu Irwin herüberwehten, begutachtete er den Schutzwall, der mühsam aus den Holzvorräten der Allianzflotte zusammengezimmert worden war und sich in einem ausgebeulten Kreis um die Zelte des Brückenpfeilers zog. Nicht einmal einen Graben gab es! Nur den schleusenähnlichen Bereich innerhalb der beiden Doppeltore, von dem das Militär glaubte, es wäre eine Glanzleistung des vierten Jahrhunderts. Dabei wusste es jeder Wasserträger besser! Die Valiani konnten sich derartiger militärischer Errungenschaften schon vor Valians Zeiten rühmen, als das Imperium noch Magromische Republik hieß und Valian nicht mal Cäsarus war.
Irwins Augenlid zuckte nervös, als er zu dem Grüppchen unter dem Sonnensegel schielte. Von hier aus hatte die Szenerie der debattierenden Kommandanten etwas von einem Theaterstück: Schwarz und Weiß standen einander gegenüber und trugen einmal mehr einen Kampf aus, wenn auch nur verbal. Derbes Leder auf der einen, hauchdünnes Leinen auf der anderen Seite – der Dämon und der Engel. Sie beschlossen die Rettung der Welt, vielleicht auch ihren Untergang. Die Assassinin und die Elfenkommandantin …
„Ja, ja, ihr redet und redet und redet. Und meinen Rat ignoriert ihr.“ Genau das war es nämlich, was das werte Kommando tat – seine Wenigkeit ignorieren – ständig und mit wachsender Begeisterung. Er hatte aufs Heftigste protestiert, als wie aus dem Nichts die Idee aufkam, in die Wüste zu gehen. Aber niemand hatte auf ihn gehört. Nicht einmal sein Mäzen, der Brigadier, wollte ihm sein Ohr leihen, dabei hatte er brav und wie aufgetragen immer schön Bericht erstattet und haarklein erzählt, was sich auf dem Kommandoschiff so alles abspielte.
Irwin presste die Lippen aufeinander. In – die – Wüste – gehen! Zur Kontaktaufnahme mit den fremden Bewohnern dieses trostlosen Landstrichs, bei denen es sich vermutlich um exakt solche Kreaturen handelte, die in der Prophezeiung der Schamanin blutrünstig mordend aus dem Sand krochen. Man stelle sich das vor! Jemand wollte einfach jegliche Vorsicht fahren lassen und der Küste mit den rettenden Schiffen den Rücken kehren, nur um mit diesen Kreaturen in der Wüste ein Schwätzchen zu halten, wenn sie in diesem endlosen Sand überhaupt zu finden waren. Ganz abgesehen davon, dass sie des Sprechens wahrscheinlich gar nicht mächtig waren. Jemand kümmerte es schlicht und ergreifend nicht, dass eben diese Kreaturen ihnen in der vergangenen Nacht so unheimlich zugesetzt hatten, dass es Tote gab, oder doch zumindest Vermisste. So genau hatte Irwin es nicht mitbekommen. Und wer war dieser Jemand? Ja, selbstverständlich die dunkle Seite des Kommandos, der Dämon, den alle nur Sandkorn nannten.
Chara Pasiphae-Opoulos war wieder einmal zur Höchstform aufgelaufen. Doch Xan zum Dank wollte kaum jemand etwas von ihrem selbstmörderischen Vorschlag wissen, am allerwenigsten Siralen. Die wollte warten, bis diese unheimlichen Wesen zu ihnen ins Lager gekrochen kamen, um das Gespräch zu suchen. Das würde freilich nicht passieren. Wieso auch? Die Kreaturen konnten sich einfach damit begnügen, die Fremden, die ohne zu fragen Fuß auf ihren götterverlassenen Kontinent gesetzt hatten, Mann für Mann verschwinden zu lassen. Die rostroten Flecken, die in regelmäßigen Abständen den Sand zwischen den Zelten dunkel färbten, legten Zeugnis darüber ab, dass sie es bereits erfolgreich getan hatten. Sie waren alle dem Tode geweiht. Ja, alle! Sie alle hatten keinen Plan, wie sie gegen die Schatten aus der Wüste ankommen sollten.
Irwin rammte verzweifelt seine Sandale in die trockene Erde und eine kleine Staubwolke stieß ihm ins Gesicht. Ein klägliches Husten später kehrte er zu seiner Feldforschung zurück.
Die Flottenoberkommandantin wandte der Elfenkommandantin gerade den Rücken zu und entlockte ihren beiden tätowierten Affen von den Hula-Hula-Inseln ein warnendes Knurren. Es stand Chara Pasiphae-Opoulos so sehr ins Gesicht geschrieben, dass er es fast hören konnte: Ich will in diese verfluchte Wüste! Das wollte sie wirklich. Zu warten war ja nicht gerade ihre Stärke. Und meistens bekam die Flok, was sie wollte. Das hatte sie während der Reise über den endlosen Ozean bewiesen. Sie hatte es am Großen Abgrund bewiesen, als sie, allen Kommandanten zum Trotz, den Befehl gegeben hatte, sämtliche Schiffe der tausend Schiff großen Armada über der Götter Grenze zu schicken.
So gesehen … Beim Gedanken daran, was ihm sonst noch alles blühen konnte, saß es sich plötzlich ganz gut in der Hitze auf dem staubigen Wüstenboden. Ja herrlich, hier zu sitzen und zu schwitzen wie ein von den Göttern ausgekotzter Bettler am Bordstein vor dem prächtigen Bordello Casa Del Gioie in Tremona, nur um darauf zu warten, dass der Tod höchstselbst zu Besuch kam. Von niemandem gesehen, von niemandem gehört, ganz sich selbst, der Hitze und den Dämonen der Wüste überantwortet.
Ein letztes Mal ließ Irwin seinen Blick über die Palisaden gleiten. An der Fahnenstange neben dem Tor flatterte das Wappen der Allianz im verderblichen Wüstenwind –der Letter A im Kreis der kleinen Lilien, die für die verbündeten Völker der alliierten Streitkräfte standen. Dasselbe Banner hatte die Flok vor wenigen Tagen in eine der zahllosen Sanddünen gerammt. Die Botschaft – still, und doch für alle vernehmbar: Wir sind hier! Ab heute ist dieses Land Besitz der Allianz. „Ich gebe ihm den Namen El’Chan!“
Irwin kämpfte sich auf die Füße und schleppte sich durch den Sand auf das Sonnensegel zu, das am Ufer des Baches eigens für die Besprechung aufgespannt worden war. Dort stand die Flok mit den anderen Würdenträgern der Allianzflotte zusammen, um über Irwin MacOsborns Schicksal zu entscheiden. Unter dem bleichen Sonnensegel zeichnete sich in schmerzhafter Präzision ihre schwarze Silhouette ab. Und hätte er sich nicht längst an den Anblick der derben Gestalt mit dem Gesicht einer Todesgöttin und an ihre beiden stabkeulenschwingenden, von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln tätowierten Leibwachen gewöhnt, er hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht.
„Unser Auftrag ist klar und unsere Zeit begrenzt.“ Die Flottenoberkommandantin trat zurück, und ihre Gestalt verschwand im Schatten der beiden Dad Siki Na, die starren Blicks alle Anwesenden taxierten. „Wir müssen kampftaugliche Einwohner finden und sie als Verbündete zurück in unsere Heimat bringen. Wir haben sie gefunden. Holen wir sie uns.“
Irwin war gerade unter das Sonnensegel getreten und suchte nach einem Stuhl oder einer Kiste oder irgendetwas anderem, auf das er sich bedenkenlos setzen konnte. Als er eine stabil aussehende Truhe erspäht hatte, ließ er sich seufzend nieder und spähte zu Siralen Befendiku Issirimen.
„Wer sagt, dass es sich bei den Bewohnern dieses Kontinents um intelligente Wesen handelt, die, abgesehen vom Jagen und Erlegen ihrer Beute, auch in der Lage sind, Gespräche zu führen und politische Entscheidungen zu treffen?“, bemerkte die Elfenkommandantin.
„Wissen wir nicht“, erwiderte Chara und beförderte eine Pfeife aus ihrer Gürteltasche. „Nehmen wir aber angesichts dessen, was uns der Großkönig der Fischmenschen gesagt hat, an.“
„Er sprach von primitiven Lebensformen im Süden“, gab Siralen zu bedenken, und Irwin hätte ihr fast recht gegeben.
„Primitiv aber intelligent …“
„… und in Anbetracht dessen, welche Spuren sie hinterlassen haben, sollten wir tatsächlich mehr als gewarnt sein.“ Die Elfenkommandantin schüttelte den Kopf, und eine ihrer kinnlangen Silbersträhnen fiel ihr über die Augen. Unter dem Silbervorhang suchte ihr Blick den Blick des Brigadiers Ragna MacGythrun, der bisher keinen Laut gegeben hatte. Das änderte sich auch jetzt nicht.
„Brigadier MacGythrun, könntet Ihr Euren Bericht für die Flottenoberkommandantin noch einmal wiederholen? Über die Angriffe auf unseren Stützpunkt vorletzte Nacht.“
„Ich kenne den Bericht“, erwiderte Chara.
Siralen ließ sich davon nicht beirren. „Würdet Ihr, Brigadier?“
Ragna MacGythrun stieß den Atem aus, was ein wenig genervt klang, wie Irwin fand. „Wie Ihr befehlt, Kommandantin. Nachdem die Soldaten, Späher, Heiler, Zauberkundigen und Handwerker aus Flotte Drei und Vier dem Landeprotokoll entsprechend ausgebootet worden waren, begannen sie umgehend mit der Sicherung des Gebiets und dem Bau zweier Brückenköpfe. Wie vom Expeditionskommando verordnet, wurden die Wehranlagen nicht auf bloßem Sand errichtet …“
„Saadira Haalands Vision, in der die Wesen aus dem Sand gekrochen kamen“, unterbrach Siralen, und Chara durchforstete mit den Blicken ihr Gesicht.
„…, sondern auf festem Boden. Dennoch kam es bereits in der ersten Nacht zu einem feindlichen Übergriff. Der Feind drang an dem noch unvollendeten Abschnitt der Befestigungsanlage Eins ein und griff an. Bei Sonnenaufgang war alles vorbei. Sämtliche Lagerinsassen waren verschwunden.“ MacGythruns Mundwinkel zuckte nach unten. „Keine Leichen … sie waren einfach wie vom Erdboden verschluckt. 268 Mann!“
„Den Rest der Geschichte kennen wir“, nahm die Flok den Faden auf.
Die Elfe lächelte halbherzig. „Richtig. Die Spurensuche brachte ernüchternde Ergebnisse und deine Leute haben uns diese in aller Klarheit dargelegt, Chara. Könntest du sie trotzdem wiederholen? Nur, damit wir uns noch einmal ins Bewusstsein rufen, was uns erwarten könnte, wenn wir den Schutz des Brückenkopfs aufgeben und in die Wüste ziehen.“
Chara nahm einen tiefen Lungenzug und sah Siralen direkt in die Augen. „Sicher kann ich das“, bemerkte sie einen Deut zu schneidend. „Die Untersuchung der Assassinen ergab, dass die verschwundenen Lagerinsassen aller Wahrscheinlichkeit nach verschleppt wurden. Darauf weisen die zum Teil tiefen Abdrücke im Sand beim Abzug der noch unbekannten Angreifer hin. Demnach waren die Wesen nach Beendigung ihres Angriffs schwerer beladen als bei ihrem Eindringen ins Lager. Sie dürften außerdem unterschiedlicher Größe und weitestgehend paarweise unterwegs gewesen sein, was ebenfalls an den Spuren abzulesen war. Der Angriff auf das Lager verlief von zwei Seiten aus – an eben jenen Stellen des Schutzwalls, die noch nicht fertiggestellt waren. Wir gehen davon aus, dass es sich um große, achtbeinige Wesen handelt, etwa dreißig an der Zahl …“
„Dreißig, die zweihundertachtundsechzig unserer Leute überwältigen konnten“, hakte Siralen ein.
„Und …“ Charas Blick wechselte kommentarlos zu Brigadier Ragna MacGythrun. „… sie sind verletzbar. Die Assassinen entdeckten Blutspuren nicht-menschlichen Ursprungs.“
MacGythrun nickte. „Die Späher haben außerdem berichtet, dass ihre Spuren außerhalb des Stützpunktes auffächern und sich danach in allen Richtungen verlieren.“
Jetzt meldete sich der Brigadiersanwärter Agawen O’Hara zu Wort: „Es wäre unklug, dem Gegner in die Wüste zu folgen und sich auf sein Territorium zu wagen. Unsere Soldaten sind nur zum Teil darauf trainiert, in Hitze und Sand zu kämpfen, und niemand von uns weiß, wie genau das Gelände da draußen beschaffen ist.“
„Genau das ist auch mein Standpunkt“, pflichtete Siralen dem Soldaten bei, und Irwin erhaschte einen Blick auf MacGythruns finsteres Gesicht. Der Brigradier war mit diesem Standpunkt anscheinend nicht ganz glücklich. Wie Irwin Ragna kannte, und das war, nebenbei bemerkt, ziemlich gut, hielt er nichts davon, sich hier zu verkriechen.
„Bleibt die Frage, wie es zu einer Kontaktaufnahme kommen soll, wenn weder sie noch wir Kontakt suchen“, lautete Charas Gegenargument.
„Sie haben bereits Kontakt hergestellt, Chara. Und zwar tödlichen.“
„Und sind ohne Worte wieder abgezogen. Was ist die Conclusio daraus? Etwa einpacken und abhauen? Wird dir der Boden zu heiß, Siralen? Wenn ja, haben wir ein Problem.“
„Ich werde unsere Leute nicht ins Verderben schicken, nur weil wir im Augenblick die Alternative nicht sehen. Es gibt andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme. Erst mal abzuwarten erscheint mir hier am vernünftigsten.“
„Aber sicher nicht am erfolgversprechendsten.“ Die Flottenoberkommandantin schlug Feuerstein und Eisen aneinander, als müsse sie mit einem Steinhammer ein schmiedeeisernes Tor aufbrechen.
„Wir gehen davon aus, dass sie wiederkehren werden“, setzte Siralen fort. „Bieten wir ihnen doch Geschenke als Zeichen unserer Friedfertigkeit und unseres Respekts dar.“
Ein Schnauben erklang zwischen den Klickgeräuschen des Feuersteins. „Warum wohl werden sie zurückkommen? Weil wir ohne Erlaubnis Fuß auf ihr Land gesetzt haben und sie in der Lage sind, uns ohne Risiko zu dezimieren. Das sind Kämpfer, Siralen. Sie tauchen auf, töten und ziehen wieder ab. Wir haben es hier nicht mit einem Volk der Diplomatie zu tun, sondern mit einem, das den widrigen Verhältnissen der Wüste angepasst ist. Wie, denkst du, wird ein Volk des Kampfes es aufnehmen, wenn wir vor ihm auf die Knie fallen und ihm mit Geschenken zu gefallen versuchen?“
„Und wie, denkst du, können wir sie dann überzeugen?“
„Einen Kämpfer überzeugen genau zwei Dinge – Angst oder Respekt.“
Endlich bezog auch Brigadier Ragna MacGythrun Stellung: „Ich sage, wir treten ihnen im Kampf gegenüber. Wenn nicht hier, dann in der Wüste. Bleiben wir am Stützpunkt, werden sie uns weiterhin mit Hilfe ihrer überraschenden Attacken zu Leibe rücken. Hier sind wir ihnen nicht nur ausgeliefert, es wäre auch ein Zeichen der Schwäche, sich hinter diesen Palisaden zu verkriechen. Besser, wir machen Jagd auf sie.“
Ein kurzer, heißer Windstoß fegte durch das Sonnensegel und mehrere Hände glitten nach oben, um Sandkörner von den Augen fernzuhalten. Dann wurde es still, und die Blicke schweiften zum Obersten der Lichtjäger, der gerade hinter die Flottenoberkommandantin getreten war.
„Das ist es, was sie wollen“, bemerkte er gelassen. Eine seiner vom Hals abwärts geflochtenen Strähnen fiel ihm über das linke Auge. Mit dem anderen fixierte er Charas Nacken. „Sie wollen, dass wir ihnen folgen.“
„Mag sein“, erwiderte Chara, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Kommen wir ihnen doch ein wenig entgegen. Das, was sie wollen, ist nicht zwangsläufig das, was ihnen Erfolg beschert.“
Siralens Blick zuckte zwischen Lindawen, Brigadier MacGythrun und Brigadiersanwärter O’Hara hin und her, als suche sie nach einem Ausweg aus einem Dilemma. Gerade als ein Hauch von Unschlüssigkeit ihre Züge überschattete, trat ein Mann in Schwarz an Lindawens Seite.
„Wenn ihr mich fraget, was wahrschainelich nicht ist die beste aller Ideen, würde ich antworten, was wahrschainelich nicht ist die beste aller Antworten, dass es ist egal, ob wir folgen ihnen in die Wüste oder ob wir blaiben ħier.“ Kerrim Ben Yussef, seines Zeichens Sprecher der Assassinen und, was mittlerweile unbestritten war, Rechte Hand von Chara Pasiphae-Opoulos, zog sich seinen Schal vors Gesicht und seine sich viel zu schnell bewegenden Lippen verschwanden hinter schwarzem Stoff. „So oder so sie ħaben den Ħaimvortail.“
„Und was genau wollt Ihr uns damit sagen, Kerrim?“, fragte Siralen.
„Na ja, wie main Schwesterchen schon ħat ausgedrücket es recht aindringelich: Wir brauchen Verbündete. Wir ħaben gefunden solche, die kħönnten werden es. Blaiben wir ħier, verlieren wir Żait, die wir nicht ħaben.“
„Also gehen wir in die Wüste“, beschloss Chara die Rede ihres Blutsbruders in knappen Worten und klemmte sich den Pfeifenholm zwischen die Zähne.
„Oh nein … nein, nein, nein!“, wimmerte Irwin und presste die Knie zusammen.
„Niemand verlangt, dass Ihr mitkommt, MacOsborn“, antwortete Chara trocken.
„Ich dachte, die besten Heldenlieder komponierten jene Barden, die persönlich an den Kämpfen der Helden beteiligt waren“, fügte Siralen ironisch hinzu. „Oder etwa nicht, MacOsborn?“
„Oh ja. Ja, ja ja …“
„Dann schlage ich vor, Ihr packt Eure Laute ein und schließt Euch dem Todesmarsch an.“ Sie spähte zu Chara. „Ich fürchte nämlich, genau das wird unser Zug in die Wüste sein.“
Ragna MacGythrun bedachte seine Vorgesetzte mit einem prüfenden Blick, woraufhin Siralen ihre Lider senkte. Dann wandte sie sich ab und griff nach dem Umhang, den sie über eins der Seile zur Fixierung des Sonnensegels geworfen hatte. „Aber meinetwegen, folgen wir ihrer Spur – wer oder was auch immer sie sein mögen. Brigadier, sollen wir uns heute Abend besprechen, um Truppenstärke und -zusammensetzung festzulegen?“
„War das eine Frage oder ein Befehl?“
„Eine Frage. Habt Ihr eine Antwort für mich?“
Ragna MacGythruns Griff um den Schwertgriff war ein bisschen zu fest, um seinen Ärger tatsächlich kaschieren zu können. Er war anscheinend nicht zufrieden mit dem Gesprächsverlauf. „Ja, wir besprechen uns am Abend.“
Der Pfeifenholm klackerte leise zwischen den Zähnen der Flok. „Ich nehme an der Besprechung teil, wenn’s keinen stört.“
„Einwände?“, fragte Siralen den Brigadier. Als Antwort bekam sie ein stummes Kopfschütteln.
Ein Zauberkundiger in bunter Robe näherte sich zielstrebig, trat unter das Sonnensegel und schickte einen Blick aus zusammengekniffenen Augen in die Runde. „Frau Pasiphae-Opoulos“, begann er mit einer Stimme, deren nasaler Klang sogar Irwin an die Nieren ging. „Wie ich sehe, nähert sich diese Besprechung bereits ihrem Ende, was zu erwarten gewesen war.“ Das war erst der Anfang seiner Rede, wie Irwin nur zu gut wusste. Der Magier hatte einen Hang zur Übertreibung und Akribie.
„Nun, Tatsache ist, dass ich als Oberster der Zauberkundigen in jede Entscheidungsfindung miteingebunden werden muss, und zwar spätestens, seit mein geschätzter Kollege Darcean Dahoccu den dazugehörigen Passus in unseren Gesetzestext integrierte. Ihr erinnert Euch gewisslich, dass es darin heißt, jedwede Vorabsprache unter Ausschluss eines Kommandomitglieds sei unzulässig. Ich bin ein solches Kommandomitglied, wurde aber zu meinem Leidwesen nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Besprechung stattfinden soll. Und wenn Ihr Euch bitte auch daran erinnern wollt, wie die Konsequenzen auf einen Gesetzesbruch der erwähnten Art aussehen könnten …“
„Bedanke mich, Ahrsa“, unterbrach ihn Chara. „Ihr habt die Konsequenzen hinreichend erörtert.“
Magus Primus Major Ahrsa Kasai hob das Kinn gerade soweit, dass sein leicht ergrautes, schulterlanges Haar die scharfen Konturen seines Gesichts freigab. „Dann muss ich mich fragen, wieso Ihr derart stur daran festhaltet, dass Ihr mit keinerlei Konsequenzen zu rechnen habt.“
Es folgte ein kühler Wortwechsel zwischen dem Magus, Chara Pasiphae-Opoulos und Ragna MacGythrun. Am Ende war Ahrsa Kasai mit dem Vorschlag, den Feind aufzuspüren, einverstanden. Warum er das war, leuchtete zumindest Irwin MacOsborn nicht ein.
Enttäuscht umfing er seine Brust mit den Armen und wippte vor und zurück. Wodurch er sich vielleicht auch besser gefühlt hätte, wäre ihm nicht der Gedanke gekommen, dass das kindisch aussehen könnte. Also erhob er sich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf – einer sehr beachtlichen Größe, wie jeder der Anwesenden hätte bezeugen können, diese es aber schlicht und ergreifend unterließen, ihn eines Blickes zu würdigen.
„MacOsborn!“
Irwin wirbelte herum. „Ja, Frau Flottenoberkommandantin?“
„Leichtes Gepäck.“
„Wofür?“
„Die Wüste.“
Irwin biss sich auf die Unterlippe. „Ich komme also mit?“, fragte er leise.
„Ihr habt doch Siralen gehört.“
„Schon, aber …“
Die Flok schenkte ihm ein Lächeln, dessen Strahlen der Sonne Rawindras Konkurrenz gemacht hätte. Wenn es denn nicht so verdammt zynisch gewesen wäre …
„Der Tod schreibt die größten aller Epen, ist es nicht so, MacOsborn?“