Читать книгу Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende - J. H. Praßl - Страница 23

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Das Ding, das durch den Wind geht

„Sie paktiert mit den Dragatisten.“

Seine Art zu reden war wie immer. Als gäbe es auf der Welt nur ihn, ihn, sein Wissen, seine Pläne. Und im Grunde gab es ja auch nur ihn. Jedenfalls hier innerhalb der Flotte des Feindes, wo sie seit knapp eineinhalb Jahren für eben jenes Quäntchen Chaos sorgten, das der Führungsspitze das Leben schwer machte. Für’s Erste reichten ihre kleinen, subversiven Angriffe auf die Moral der Schiffsbesatzungen, und hier und da ein richtiges Attentat auf ein Kommandomitglied. Im Idealfall auf das Sandkorn selbst, was ihnen immerhin schon dreimal geglückt war. Aber allmählich brauchten sie etwas Handfesteres, denn das Sandkorn lebte noch immer. Die Allianz-Kommandanten schritten weiter voran und suchten, so jedenfalls die gängige Meinung unter Gleichgesinnten, nach Verbündeten für ihren aussichtslosen Kampf gegen das Bündnis. Und der Krieg in Amalea ging weiter seinen Gang, woran ihn auch niemand hindern würde.

„Wie?“, fragte er nur. Bagus hatte gelernt, mit wenigen Worten an viel Information zu kommen. Vielleicht war es gerade das, was die Eminenz an ihm schätzte, und warum er ihn zu seiner Rechten Hand erwählt hatte. Immerhin war ihr Anführer häufig in der Flotte unterwegs und brauchte jemanden, der hier für ihn sprach. Jemanden wie ihn, Bagus, der von den meisten respektiert wurde.

Jetzt schritt die Eminenz an das heckseitige Fenster der Messe und spähte auf das Meer hinaus. Von hinten wob das Licht der Öllampe einen glorienhaften Schimmer um seinen schlanken, aufrechten Körper. „Die Dragatisten haben sich an das Sandkorn gewandt. Jemand nutzt ihre Sympathie für das Chaos und ihren Stellenwert, um für die Anhänger des Dragati einen Fuß in die Reihen der Allianz zu bekommen.“

„Wer ist es?“

„Wissen wir nicht.“ Die Eminenz drückte den Rücken durch, und seine Gestalt wirkte plötzlich größer.

Bagus kannte ihn erst, seitdem er vom Innersten Kreis zu dieser Mission abkommandiert worden war. Vorher war Bagus mal hier, mal dort als Spion in den Reihen der Allianz eingesetzt worden. Aber hier im klar definierten Rahmen dieser Flotte gefiel es ihm am besten. Hier konnte man den Feind studieren, seine Bewegungen und Regungen beobachten, um Gelegenheiten zu nutzen und zuzuschlagen. Es war wie ein Spiel. Es war ein Spiel. Im letzten Jahr hatte sich sogar herausgestellt, dass es ein paar Kollegen gab, die immer mal wieder gerne ein paar ihrer Schiffchen versenkten. Besagte Kollegen verfolgten die tausend Schiff große Armada mit ihren Seglern in sicherer Distanz. Innerhalb der Flotte spielten die Eminenz und seine Anhänger ein anderes Spiel. Es hatte keinen Namen. Es zielte darauf ab, Verwirrung und Angst zu schüren, einen Keil in die Allianz zu treiben, Freunde zu Feinden zu machen, Anführer zu Ausgestoßenen und Verbrechern … Das Spiel blieb vom ersten bis zum letzten Zug spannend. Bagus liebte dieses Spiel.

„Aber wenn sie mit den Dragatisten paktiert, brauchen wir sie nur auffliegen zu lassen“, schlug er vor. „Sie säße schneller in der Brig, als ein Schattenbote verschwinden könnte. Und das wäre noch ein Gnadenakt, wenn man bedenkt, dass sie nicht nur Verrat begeht, sondern auch mit allen Richtlinien der Allianz bricht.“

Fast sah es aus, als würde die Eminenz lachen, zumindest angesichts des kleinen Bebens in ihren Schultern. Aber es blieb still in der Messe, und die Eminenz wandte Bagus nach wie vor den Rücken zu.

„Es gibt keine Beweise. Das heißt, es gibt sie sehr wohl. Leider habe nicht ich sie, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach der Lichtjäger.“

„Ein Lichtjäger?“ Bagus verzog das Gesicht. Man hatte ihn nicht davon unterrichtet, dass ein Lichtjäger mit dem Kommando der Allianzflotte verkehrte. „Wieso lässt er sie nicht auffliegen? Genau das wäre doch seine Pflicht.“

„Wir wissen kaum etwas über ihn. Vielleicht will er sie schützen. Vielleicht will er sie am Ende ausliefern und arbeitet im Augenblick daran, ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr nahe sein zu können und sie schlussendlich mit einem Schlag zu vernichten. Vielleicht ist sein Lichtjägertum nur eine Tarnung und er ist jemand, der inkognito für unsere Seite arbeitet, von wem auch immer beauftragt. Wie dem auch sei, die Akademiemagierin haben wir aufgebaut und verloren. Aber ihre Informationen sind uns geblieben. Jetzt werden wir damit arbeiten. Zeigt mir die Liste.“

Die Eminenz wandte sich zu ihm um, und ein schmallippiges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Wie meistens war sie zufrieden mit sich und ihren Errungenschaften. Und das wiederum machte Bagus zufrieden.

Kerzenlicht … kaltes Bett … ein maliziöses Lächeln … ein Kuss … Blut unter den Nägeln, Schweiß auf der Haut, lodernde Flammen darunter …

Ein Blitzen wie von Stahl … silberne Rüstung … geschlossenes Visier … eine Hand, die sich auf ihre Brust legte.

Zerberstender Stahl … Angst … beißendes Verlangen … geflüsterte Worte in der Nacht: „Nimm dir mein warmes Blut!“

Chara zuckte so heftig zusammen, dass sie befürchtete, die Wunden an ihrem Körper würden erneut aufbrechen.

Lomond.

Als hätte sie der Name aus einem Traum gerissen, verschwand der Krieger in silberner Rüstung wie ein Windhauch. Chara blinzelte ins Sonnenlicht. War sie etwa schon im Delirium, kurz vor dem letzten Gang?

Chara suchte mit den Augen den Wüstenkessel ab. Es war ruhiger geworden dort unten, unterhalb des Plateaus. Siki war tot. Sein regloser Leib wölbte sich wie eine unförmige Düne über die Ebene im Kessel. Die wüsten Laute der sterbenden Scorpios waren verhallt. Und die meisten von ihnen lebten noch.

Da erspähte Chara die zwanzig Gestalten in silbern glänzenden Ritterrüstungen. Sie tauchten am Rand des Wüstenkessels auf. Einer nach dem anderen betraten sie das Schlachtfeld, auf dem die Scorpios gerade einen klaren Sieg errungen hatten. Sie zückten ihre Schwerter und schritten in tödlicher Anmut den Wüstenkriegern entgegen. Es war eine unheimliche Ruhe, in welche die zwanzig albischen Krieger eindrangen. Chara holte tief Luft und ignorierte den Schmerz, der ihr dabei durch den Brustkorb zuckte.

Wie war es möglich, dass die MacDragul hier waren?

Jetzt verfielen die Krieger in den Rüstungen in einen Laufschritt und wurden immer schneller. Ohne jegliche Ordnung fegten sie über das Schlachtfeld, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut. So sehr die Natur ihre Schöpfung auch perfektioniert hatte, im Vergleich zu den MacDragul waren die Wüstenkrieger langsam. Nur ein solides, gleichsam primitives, ja fast schon schwerfälliges Kriegsgerät. Als sie auf die Scorpios trafen, herrschte pure Gewalt. Wie blitzende Lichter tanzten die albischen Krieger zwischen den dunklen Panzern ihrer Gegner. Die mächtigen Scheren der Wüstenkrieger schnappten schwerfällig nach den Männern und Frauen in Platte. Sie sprangen darüber hinweg, wichen mit einem knappen Seitwärtsschritt aus und brachten gezielt ihre Klingen zum Einsatz. Der Schwung, mit dem die Scorpios ihre giftigen Stachelschwänze schleuderten, war zu behäbig. Allein ihre acht Beine konnten ihr Nachsehen einigermaßen wettmachen. Es reichte, um einige der Vampire schwer zu verletzen. Die MacDragul waren nicht unbesiegbar. Doch jetzt, hier, waren es zu wenige der Scorpios, selbst wenn diese weit in der Überzahl waren. Ein Scorpio nach dem anderen fiel unter den Waffen der MacDragul. Sie erkannten ihre Unterlegenheit rasch. Die, die nicht unter dem Ansturm der Vampire fielen, zogen sich kontrolliert zurück.

Fünf zu eins! Etwa hundert ihrer schwarzen, sandfarbenen und braunen Krieger fielen unter dem Ansturm der zwanzig MacDragul. Was für eine Waffe. Was für ein Gewinn für die Allianz.

Mit klopfendem Herzen starrte Chara auf ihre Verstärkung. Weder tot noch lebendig … aber nahezu unbesiegbar. Krieger wie aus Träumen gemacht. Krieger, von denen sie geglaubt hatte, sie nie wieder zu sehen.

Und da war er. In diesem Augenblick schälte er sich aus den Reihen der anderen. Marduk Lomond MacDragul. In aller Ruhe reinigte er seine Schwertklinge. Dann steckte er die Waffe weg und schritt über das Schlachtfeld auf sie zu.

Fünf Mal donnerte Charas Herzschlag gegen ihre Brust. Dann war der Vampir neben ihr. Ein leises Knirschen, als er in die Hocke ging. Das Visier seines Helms schob sich so nah an ihr Gesicht, dass das kalte Metall ihre Haut berührte. Chara blickte direkt in den Schlitz seines Helms. Tiefschwarze Augen blickten zurück.

„Lomond.“

Sein Helm drehte sich zur Seite. Es war offensichtlich, dass er Lindawen musterte.

„Ein neues Spielzeug?“

Sie wusste nicht weshalb, aber seine Frage machte sie wütend. „Was, zur Hölle, machst du hier? Wie bist du hierhergekommen?“

„Zu Fuß. Durch die Wüste.“

Der Helm war plötzlich wieder neben ihrem Gesicht. „Etwa kein Spielzeug?“

Chara ließ sich nicht beirren. „Ich meinte, bevor ihr durch die Wüste gelaufen seid? Seid ihr etwa übers Wasser gegangen?“

Ein behandschuhter Finger glitt über ihre Wange. „Ich war hier, bei dir … ganz nah!“

Chara schob seine Hand weg. „Welches Schiff?“

„Unwichtig.“

„Hat Al’Jebal dich geschickt?“

„Nein.“ Er klang ernüchtert, und Chara stellte fest, dass sie der plötzliche Verlust seiner Leidenschaft irritierte.

„Kerrim hat mich gerufen.“

Na sicher.

Es war zum Haare raufen. Lomond hier, Lindawen hier. Wer noch, der sie von ihren Pflichten ablenkte?

„Wieso hast du dich entschieden, an der Expedition teilzunehmen?“

„Hast du meine Botschaft nicht erhalten?“

Er war ihr wie immer zu nahe.

„Das Ding, das durch den Wind geht …“

Allmählich wurde ihr klar, warum die MacDragul während der Überfahrt keine Versorgung nötig gehabt hatten. „Während ich schlafe …“, rezitierte sie aus dem Traum.

Sie sah es nicht, aber sie wusste, dass Lomond unter seinem Helm lächelte.

„Richtig. Ich und meine Brüder und Schwestern haben geschlafen. Und geträumt …“

Er sah sich nach seinen Leuten um. Dann beugte er sich erneut zu ihr, und Chara konnte durch seinen Visierschlitz den animalischen Glanz in seinen Augen sehen.

„Wir haben lange nicht gegessen. Wäre es … unangebracht, wenn wir uns der Todgeweihten annehmen?“ Er deutete auf die gefallenen Soldaten des Bataillons.

„Es wäre mir lieber, ihr würdet euch an den Scorpios vergreifen.“

Er wich zurück, als hätte sie ihm lasches Gemüse angeboten. Chara wusste nicht, was sie ihm und seinen Gefährten sonst anbieten sollte. Außerdem war die Situation zu abstrus, um vernünftige Entscheidungen zu treffen.

„Tut euch keinen Zwang an.“

Er strich ihr mit seiner behandschuhten Rechten über die Wange. Chara spürte ihr Herz gegen ihre Rippen donnern. Einen Lidschlag später war sie wieder allein. Und kurz darauf hingen zwanzig Vampire an den Hälsen und Handgelenken der sterbenden Soldaten. Vielleicht war es ja ein Genuss, auf diese Weise den Tod zu finden. Besser, als einsam zu verbluten.

„Du kannst jetzt loslassen“, vernahm sie eine gefasste Stimme an ihrer Seite. Erst jetzt registrierte sie, dass Lindawen wach war und sie erneut seine Hand hielt. Seine Fingerkuppen waren weiß angelaufen, so fest umklammerte sie ihn. Reflexartig ließ sie los.

„Ist er das?“

„Wer?“, fragte sie unschuldig. Dachte sie wirklich, sie könnte den Lichtjäger zum Narren halten?

„Marduk Lomond MacDragul.“

Lindawen wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Dann wandte er sich ab. Und plötzlich wurde Chara klar, dass sie in der Falle saß. Der Jäger des Lichts und der Sklave der Nacht … Beide waren hier, beide waren wie Krücken für ihre verkorkste Seele. Beide waren das Extrem, von dem aus sie aufbrechen konnte – von der Nacht in den Morgen und vom Abend in die Nacht. Beide waren unwiderstehlich für jemanden wie sie.

In acht Glas würde die Dämmerung über die Wüste kriechen, und der Schatten der Felsen im Westen über den Talkessel wandern. Chara spähte in den Himmel und wusste, dass ein einziger Stern aufblitzen würde, wenn sich die Nacht über das Tal senkte. So wie gestern …

Der Morgen- und der Abendstern.

Sie dachte an ihren Traum. Sie dachte an ihre drei Begleiter. Kerrim, Lindawen, Lomond. Der erste der drei versprach Sicherheit. Die anderen beiden waren brandgefährlich.

Irwin MacOsborn hatte die Beine ganz nah an seinen Körper gezogen. Er lag in Embryonalstellung hinter seinem Felsbrocken und spürte das feine Beben, das in Wellen durch seinen Körper ging. Noch immer … Acht Glas, nachdem die MacDragul aufgetaucht waren und die Schlacht gegen diese … Monster ein Ende gefunden hatte, zitterte er noch immer. Ja, er hatte an dieser Schlacht nicht aktiv teilgenommen. Immerhin war er ein Barde und keiner der Helden, die er besang. Andererseits war er schon fähig, ein Schwert zu führen. Er hatte es nur wohlweislich niemandem auf die Nase gebunden. Besser, die anderen wussten es nicht. Wussten nicht, dass sein Vater darauf bestanden hatte, ihn zum Krieger auszubilden, obwohl er immer nur die Welt mit Musik bereichern wollte. Jeder wusste, dass Musik die stärkste aller Waffen war, wenn man etwas bewegen wollte. Dass sie magisch war, die effizienteste aller Zauberformeln, um die Welt zu verändern, sie zu verbessern. Jeder liebte die Musik, jeder tanzte mit Freuden nach ihrer Pfeife. Deshalb waren die Bardenzauber ja auch so mächtig. Sie nutzten den magischen Moment, der jedem wohlgestimmten Klang innewohnte. Und bei allem Hehl, den die Leute um die Magie sonst so machten, die Bardenlieder waren effizienter als die üblichen Sprüche der Akademiemagier, Druiden, Hexer oder was es in Amalea sonst noch so gab, oder auch jenseits des Großen Abgrunds …

Leider hatte er angesichts der über alle Maßen bedrohlichen Bedrohung ganz vergessen, einen seiner wunderbaren Gesänge anzustimmen. Es hätte vielleicht geholfen.

Irwin verzog bibbernd das Gesicht. Die Nacht brach über das Wüstental herein, und es wurde deutlich kühler. Schmerzensschreie, Stöhnen und Gemurmel hingen wie eine Dunstglocke über dem Plateau. Die Soldaten hatten ein notdürftiges Lazarett aus Decken und ein paar vallandischen Zelten für die Erstversorgung aufgebaut. Die hatten aufgehört, sich Sorgen darum zu machen, entdeckt zu werden. Die Scorpios wussten jetzt ja, wo sie waren. Xan würde sie hoffentlich davor bewahren, dass die albischen „Sklaven der Nacht“ gleich wieder abzogen. Dann wären sie nämlich endgültig verloren.

Es war so furchtbar gewesen! Als die Armee der Scorpios auf den Dünen aufgetaucht war, hätte er sich fast angepinkelt. Er hatte fest damit gerechnet, dass das darauffolgende Glas sein letztes sein würde, so sicher, dass er hier mitten in der Wüste sterben würde. Der größte Barde der Welt – einfach irgendwo im Nirgendwo hingeschieden, ohne dass jemand hätte davon berichten können. Auf der anderen Seite hätte es ihm auch um ein paar andere Leute leidgetan. Mittlerweile fand er einige von ihnen ganz gut. Er würde Charas Verlust bedauern. Sie war so stark. Sie hatte etwas von dem, was sein Vater nie hatte. Sie war wie ein Haus, in das man sich verkriechen konnte, wenn die Welt da draußen zu grausam wurde. Freilich im übertragenen Sinn. Chara mochte keinen Körperkontakt, soweit er das beurteilen konnte. Nicht so wie andere Frauen, die sich danach verzehrten, mit ihm auf Tuchfühlung zu gehen. Aber jetzt, hier … Als die Scorpios aufgetaucht waren, hatte sich Chara ganz vorne hingestellt. Es half zwar wenig, aber es fühlte sich gut an. Siralen hatte sich auch vorne hingestellt, ja. Aber Siralen behandelte ihn manchmal wie ein Kind. Das tat Chara nicht, jedenfalls nicht auf dieselbe herablassende Art. Deshalb mochte er Chara mehr als Siralen.

Dass er sich während der Schlacht hier verkrochen hatte, war freilich nicht die feine albische Art, aber er war eben auch kein albischer Ritter. Und jetzt? Jetzt war er kurz davor, kopfüber ins Verderben zu stürzen. Rings um ihn herrschte das blanke Entsetzen. Alles war am Sterben. All die Verletzten, die sich stöhnend auf dem Boden wanden, das viele Blut überall. Ja, selbst die Flok wäre fast draufgegangen. Wären die MacDragul nicht gewesen und hätten alles beendet, wären die Heiler ganz bestimmt zu spät gekommen. Wie sollte das alles jetzt weitergehen? Sie waren noch immer mitten in dieser götterverfluchten Wüste, umgeben von diesen riesenhaften Insektenwesen. Keinen Hunderten, keinen Tausenden, sondern, nach allem, was er mitgehört hatte, Zigtausenden. Lindawen und Kerrim hatten Chara und Siralen von ihnen erzählt. Gegen die kamen selbst die MacDragul nicht an. Und ja, es gab sie tatsächlich – Vampire. Nachdem ihre Retter sich am Blut der Halbtoten sattgetrunken hatten, bestand auch für ihn kein Zweifel mehr. Die MacDragul hatten sich nicht umsonst „Sklaven der Nacht“ genannt. Und sie waren auch nicht umsonst unbesiegbar, wie in ganz Alba gemunkelt wurde. Sie waren ja sozusagen schon tot …

„MacOsborn!“

Irwin schreckte zusammen. „Hm?“

Das konnte doch nur ein Missverständnis sein. Wer würde denn hier nach ihm rufen? Was konnte er denn im Augenblick tun, abgesehen davon, niemandem im Weg zu stehen.

Vorsichtig lugte er hinter dem Felsen hervor. Es war Darcean, der sich näherte. Und … oje! Er hatte ihn gefunden.

„Ja, ich kann Euren Fuß sehen, MacOsborn“, kam es wie zum Hohn. „Steht auf! Geht und bittet darum, dass er den Slarpon vorbereitet. Und danach bringt ihr ihn zu Siralen.“

Vorsichtig schob er den Kopf hervor. „Wo soll ich den Slarpon denn holen?“

„Bei dem Gelehrten mit dem gläsernen Behältnis neben seiner Lagerstatt. Und für alle, die zu ignorant sind, um Namen zu behalten, er heißt Garan Lefnui.“

„Aber …“

„Keine Ausreden, MacOsborn!“

Grummelnd stand Irwin auf. Ich bin Barde, kein Wasserträger! Genau das war es, was er an den Elfen nicht mochte. Die dachten, sie wären etwas Besseres. Dabei war er nicht nur der berühmteste Barde Albas, sondern auch ein Adeliger.

Als er den Gelehrten mit dem Slarpon gefunden hatte, stieß er ein missmutiges Brummen aus. Ja, so hatte er sich das vorgestellt. Nichts als ein viel zu dünnwandiger Glasbehälter gefüllt mit irgendeiner bläulichen Flüssigkeit trennte dieses ekelige, glitschige und obendrein noch gefährliche Riesenspermium von dem armen Teufel, der es transportieren musste.

„Bitte für das werte Kommando vorbereiten“, brachte er sein Anliegen vor, als er vor den Gelehrten hintrat.

„Natürlich. Dauert ein halbes Glas.“

Der Gelehrte war freundlich, das musste man ihm lassen. Irwin setzte sich in sicheren drei Schritt Entfernung auf den Boden und beobachtete, wie Lefnui behutsam in der Flüssigkeit herumrührte. Dann schüttete er irgendetwas hinein. Und schließlich hieß es Warten, was Irwin nur recht war. Leider war das Warten irgendwann zu Ende.

Lefnui überreichte ihm das Behältnis, als handelte es sich dabei um den Reichsapfel des albischen Königshauses. „Geht behutsam damit um“, bat er flehentlich. Irwin hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Behälter so anzufassen, dass es möglichst wenig Berührungsfläche zwischen dem Glas und seinen Händen gab. Wer wusste schon, ob das Ding hielt, was es versprach.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er sich auf den Weg zu Darcean und dem Rest des Kommandos. Schnell, schnell, weg mit dem Vieh! Den Slarpon so weit wie möglich von seinem Körper weghaltend galoppierte er Richtung Kommandolager, wo er umgehend Siralen ansteuerte. Als er über die Schulter lugte, sah er Lefnui, der ihm eiligst folgte.

„Ich habe, was Ihr wolltet …“, rief er nach vorne. Dann … seine Zehen! Wo …

Irwin stolperte. Im Fallen hoffte er noch darauf, dass Garan Lefnui ihn auffangen würde, doch anscheinend war der Gelehrte zurückgefallen. Stattdessen sprang Darcean auf und griff nach ihm. Zu spät! Das Glasbehältnis rutschte ihm aus den Fingern, kippte und fiel. Es krachte auf den Felsboden und zersprang in tausend Scherben. Noch während Irwin zu Boden ging wie ein geschlagener Held, sah er, wie der Slarpon auf einer kleinen Welle aus dem Glas schwappte, wie sein langer, ekelhafter Schwanz wie wild zu zucken begann und das Vieh richtig schnell wurde. Zu seinem Glück reagierte der Slarpon nicht auf ihn, sondern auf Darcean. Zu seinem Pech hatte sein Glück weitreichende Konsequenzen. Zu aller Leute Entsetzen geschah genau das, was man bei einem Slarpon, der unter erheblichem Stress stand, annehmen musste. Er suchte nach einem Wirt, der ihn vor dem Tod bewahrte. Und dieser Wirt hieß Darcean Dahoccu.

Noch ehe der Elf seine Hände zurückziehen konnte, schoss das Tier seinen schlanken Körper hoch, schlang ihm den Schwanz um den Hals und ließ die Spitze unter seinen Kragen zucken. Was danach kam, wusste man, wenn man beim Slarponunterricht achtgegeben hatte. Überraschenderweise hatte Irwin das. Das Vieh verband sich mit Hilfe seines Schwanzes und den darauf befindlichen feinen Härchen mit Darceans Rückgrat. Es war eine so gewaltsame Übernahme, dass der Elf aufstöhnte und auf die Knie fiel. Drei Herzschläge lang starrten ihn alle an. Auch der bleichgewordene Lefnui, der endlich auch am Ort des Geschehens eingetroffen war.

„Ihr gedankenloser, selbstherrlicher, völlig verblödeter Albi!“

Es war Siralen, die tobte. Und eines gab Irwin zu denken: Die Elfe tobte nicht, nie.

Siralen war hundemüde. Die magischen Heiler hatten sich gerade um ihre schweren Verletzungen gekümmert, und sie erholte sich langsam von dem Schock der unerwartet aufgetauchten Wesen der Zwischenwelt, die sich (zum Entsetzen aller, die noch nicht völlig verroht waren) auch noch an den halbtoten Soldaten vergriffen hatten. Und nun? Nun war vor ihren Augen das passiert, womit keiner rechnen konnte. Darcean starb nicht durch die Klinge des Feindes, sondern durch die Narretei eines Verbündeten, der sich betrug wie ein Kleinkind. Nach qualvoller Inbesitznahme durch einen Parasiten, der danach trachtete, seine Eier in ihm abzulegen. Ihr Herzensfreund würde sterben.

Siralen kämpfte sich wie Chara auf die Füße. Während die Assassinin Irwin packte und auf die Füße riss, hockte sie sich vor Darcean und nahm seine Hände.

„Dahenecra! Tilve bihelain anan Amja anliu“, flüsterte sie und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl.

Darcean schluckte, kämpfte gegen das Entsetzen an, das sein Gesicht in eine seltsame Starre gezwungen hatte, und siegte. „Chan nea, Siralen.“ Seine Züge entspannten sich. „Es ist gut. Der Weltgeist hat entschieden. So sei es denn“, fügte er auf Aschranisch hinzu.

Oh guter, weiser Darcean!

Langsam erhob er sich und zog Siralen mit auf die Füße. Er griff nach dem glitschigen Schwanz, der sich schlingengleich um seinen Hals gelegt hatte, und sah, dass der Slarpon sein einziges Auge geschlossen hielt. Ein Blick zu Lefnui und ein stummes Kopfschütteln des Gelehrten bestätigte ihm seine Befürchtungen: Das Vieh würde sich nicht wieder abnehmen lassen.

„Dann werde ich wohl mit dir leben und sterben müssen“, flüsterte Darcean. „Ich hoffe, dein Dasein hat eine Berechtigung, die mir noch nicht offenbar ist. Denn wenn sich dein Nutzen darauf beschränkt, uns lediglich als Übersetzer zu dienen, wäre mein Opfer blanker Hohn.“

Siralen fuhr zu Irwin herum. „Was habt Ihr Euch eigentlich dabei gedacht, mit diesem unhandlichen Gefäß über Stock und Stein zu laufen wie ein Verrückter, und keinen Gedanken an Eure und unsere Sicherheit zu verschwenden? Als hätten wir nicht auch ohne Euch genug Probleme. Wieso nur seid Ihr ein so unsäglich impertinenter Albi!“

Irwin stand mit zittrigen Knien neben Chara, die ihn zwar am Kragen gepackt hatte, aber nicht so aussah, als würde sie mit ihm ins Gericht gehen wollen. Vielmehr hatte es den Anschein, als helfe sie ihm dabei, die Haltung zu bewahren.

„Ich … es tut mir …“

„Verschwindet! Geht mir aus den Augen.“ Siralen wandte sich ab und griff erneut nach Darceans Hand. „Wir sprechen jetzt mit einem Heiler.“

„Der wird Euch nicht helfen können“, bemerkte Lefnui mit zittriger Stimme.

Chara ließ Irwin los und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er besser daran tat, Land zu gewinnen.

„Kann sein, dass ein Heiler hier am Ende ist. Wir sind es noch nicht. Wir bekommen das Ding von dir runter, Darcean. Ohne, dass du dabei draufgehst.“

Der Barde schlug einen großen Bogen um Siralen und Darcean und trottete wie ein begossener Pudel von dannen. Chara setzte sich wieder auf ihr Lager und machte es sich bequem. „Wir sollten uns mit dem Brigadier besprechen und danach eine Weile schlafen. Weiß jemand, wo Lindawen ist?“

Siralen schüttelte den Kopf. Als hätte ihr der Lichtjäger je gesagt, wohin er wann ging. Sie hatte das Gefühl, Lindawen verschloss sich ihr, und auch anderen, mehr denn je. Vielleicht, weil Chara mehr denn je auf Abstand ging. Jedenfalls in letzter Zeit.

„Du willst mir helfen?“, fragte Darcean. Er musterte Chara argwöhnisch. „Weißt du wie?“

Chara zuckte mit den Schultern. „Noch nicht. Aber es gibt eine Lösung. Irgendeine gibt es immer.“

„Und wie sieht dein Motiv aus?“

Ein halbfertiges Lächeln. „Vielleicht kann ich damit eine alte Schuld begleichen.“

Wohl wahr! Chara hatte Darcean mit dem Tode gedroht, sollte er das kleine Geheimnis über die Schwarzen Assassinen ausplaudern. Und dabei war ihr eigenes Verfehlen der Grund dafür gewesen, dass Darcean überhaupt davon erfahren hatte.

Siralen beobachtete Darcean von der Seite. Ihr Freund schwieg, schien darüber nachzudenken, ob er Chara vertrauen sollte – wenigstens in dieser Angelegenheit. Dann nickte er und sein Blick wurde einen Deut wärmer. Fast sah es aus, als gäbe es zum ersten Mal eine Art Brückenschlag zwischen dem elfischen Druiden und der menschlichen Assassinin.

Es war noch dunkel. Sie wusste, sie hatte kurz geschlafen. Jetzt war sie wach. Die Erschütterungen, die sie spürte, nahm sie nur am Rande wahr. Ihr dröhnte der Schädel, und die Wüstengegend, durch die sie hindurchglitt, als würde sie schweben, wackelte bedrohlich. Als hätte sie einen ganzen Eimer Jhu-Ju geraucht und keine Kontrolle über die Bilder in ihrem Kopf. Was passierte hier gerade mit ihr? Wieso bewegte sie sich? Träumte sie noch?

Sie bewegte sich durch die Nacht, eindeutig. Aber sie befand sich in der Waagrechten, und ihr Kopf hing seltsam nach unten. Ihr Genick schmerzte. Ihre Augenlider waren zu schwer, um sie lange offen zu halten, wie kleine, wulstige Sandsäckchen. Die Eindrücke der Umgebung zuckten wie nächtliche Blitzlichter in ihren Verstand. Sand, Düne, Stein, Düne, Düne, Stein …

Es war anstrengend, den Kopf zu heben. Und unsäglich befremdlich, was sie zu Gesicht bekam, als sie es doch schaffte. Vor ihren Augen wuchs ein menschlicher, nackter Torso in den Himmel. Zu massiv, um tatsächlich einem Menschen zu gehören … Darum war Chara auch schnell klar, was sich unterhalb der Taille befand.

Sie wurde von einem Scorpio getragen. Sie lag in den Armen eines riesigen Insektenmenschen, der sie vor seiner Brust trug, als wöge sie nicht mehr als ein Kind. Und sie konnte sich deshalb nicht bewegen, weil sie gefesselt war. Die Scorpios hatten sie offensichtlich bewusstlos geschlagen, gefesselt und aus dem Allianzlager gestohlen. Was nicht allzu schwer gewesen sein dürfte. Sie hatte zusammen mit Siralen und Irwin, der den restlichen Abend nicht von ihrer Seite gewichen war, am Rande des Felsplateaus geschlafen.

Chara versuchte, einen Blick hinter sich und ihren Entführer zu werfen, und erspähte weitere Skorpionmenschen. Mindestens einer davon trug ebenfalls ein verschnürtes Bündel in den Armen. Und wenn sie nicht ganz daneben lag, hieß das Bündel Siralen. Die Elfe trug noch immer den Slarpon, den sie nach Darceans Unfall ohne lange nachzudenken angelegt hatte, um erneut mit dem Feind Kontakt aufzunehmen. Lefnui hatte den nötigen Weitblick gehabt, um zwei der Tiere mitzunehmen. Sie hatten sich allerdings dazu entschlossen, mit der Kontaktaufnahme bis zum nächsten Morgen zu warten. Und da jedes neue Anlegen des Slarpons Risiken barg, schlief Siralen einfach mit dem Tier auf ihrer Schulter.

Konsequenzanalyse: Man hatte also mindestens zwei Kommandanten der Allianzflotte entführt. Warum? Doch nicht, weil man die Fremden, die ihr Land in Besitz genommen hatten, auslöschen wollte. Die Scorpios waren neugierig geworden, vielleicht wegen der MacDragul, vielleicht wegen etwas anderem. Aber eines war sicher – man hatte sie nicht entführt, um sie zu töten. Man wollte mit ihnen reden. Und sie möglicherweise danach töten. Aber das war zumindest eine Gelegenheit, eine neue Tür, eine unvorhergesehene Wende nach einer Schlacht mit entmutigend blutigem Ausgang.

Chara richtete ihr Augenmerk erneut auf „ihren“ Scorpio. Er beachtete sie gar nicht, blickte stur gerade aus. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass sie wach war. Und wenn doch, stellte sie keine Gefahr für ihn dar. Gefährlich waren nur die MacDragul – für ihn, sein Volk. Wesen, die sich vom Blut der Menschen ernährten und mehr tot als lebendig waren … Und Siki, ihr Siki, ihr Dad Siki Na, der nun Geschichte war.

Lomond … Der Name war noch immer wie ein Alarmsignal, das zugleich eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie nur nach dem MacDragul rufen müsste, um ihn auf den Plan zu bringen Vielleicht war das aber auch nur eine dieser Fantasien …

Egal. Würde er kommen, um sie und Siralen zu retten, wäre ihre Gelegenheit auf eine Unterredung mit den wohl attraktivsten potentiellen Verbündeten dahin. Dann konnten sie nur noch darauf hoffen, mit ihrem Leben davonzukommen. Und diese Mission war noch lange nicht erfüllt.

Hier in El’Chan herrschten nicht die MacDragul und nicht die Goygoa. Hier herrschten Wesen, halb Mensch, halb Skorpion. Krieger, wie die Allianz sie sich nur wünschen konnte.

Was hatte ihnen der Großkönig der Fischmenschen auf dem Grund des Meeres gesagt – über die Bewohner des südlichen Kontinents? Sie wären primitiv und würden ES nicht erkennen. Aber sie wären auch äußerst robust. Die Beschreibung traf für Charas Dafürhalten zumindest auf die Scorpios zu. Und die Schwarzen Assassinen? Es gab immer noch das Seemannsgarn über „verbrannte Menschen im Süden“. Al’Jebal hatte ihnen von ebendiesen erzählt. Und er hatte ihnen erzählt, dass er einige davon angeblich in einer Höhle in Aschran gefunden und zu seinen Schwarzen Assassinen ausgebildet hatte. Chara hatte den Kontinent nicht umsonst nach dem Obersten der Schwarzen Assassinen El’Chan benannt.

Die Scorpios und die Schwarzen Assassinen – beide Wesen waren hier am südlichsten Punkt der Welt beheimatet, sprich, auf ein und demselben Kontinent. Eines der beiden Wesen hatte Angst vor dem anderen. Vielleicht traf das auch auf das andere zu. Folglich waren sie einander Feind. So jedenfalls die Theorie.

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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